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JOHANNES PAUL II.

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 3. September 1986

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1. Wenn die Glaubensbekenntnisse nur wenig von der Sünde sprechen, so erscheint hingegen in der Heiligen Schrift der Begriff und der Ausdruck „Sünde“ mit größerer Häufigkeit. Das beweist, dass die Heilige Schrift, so gewiss sie ein Buch von Gott und über Gott ist, doch auch ein großes Buch über den Menschen ist, den Menschen nach den Bedingungen seiner Existenz und seiner Erfahrung. Die Sünde gehört in der Tat zum Menschen und zu seiner Geschichte. Man würde vergeblich versuchen, sie zu ignorieren oder dieser düsteren Realität andere Bezeichnungen und andere Deutungen zu geben, wie es im Anschluss an den Illuminismus und den Säkularismus geschehen ist. Wenn man die Sünde zugibt, erkennt man gleichzeitig auch ein tiefes Band zwischen Gott und Mensch an, denn außerhalb dieser Beziehung Mensch — Gott erscheint die Sünde nicht in ihrer wahren Dimension, obschon sie offensichtlich im Leben des Menschen und in der Geschichte weiterbesteht. Die Sünde lastet als düstere und unheilvolle Wirklichkeit umso schwerer auf dem Menschen, je weniger sie erkannt und anerkannt wird, je weniger sie in ihrem Wesen als Ablehnung Gottes und Widerstand gegen ihn identifiziert wird. Subjekt und Vollzieher dieser Entscheidung ist natürlich der Mensch, der das, was das Gewissen ihm eingibt, zurückweisen kann, auch ohne sich dabei ausdrücklich auf Gott zu beziehen; aber dieses sein törichtes und unheilvolles Handeln nimmt nur dann seine negative Bedeutung an, wenn man es vor dem Hintergrund der Beziehung des Menschen zu Gott sieht.

2. Darum wird in der Heiligen Schrift die erste Sünde im Zusammenhang mit dem Geheimnis der Schöpfung beschrieben. Mit anderen Worten: Die Sünde, die am Anfang der menschlichen Geschichte begangen wurde, wird vor dem Hintergrund der Schöpfung, das heißt der Verleihung des Daseins vonseiten Gottes, dargestellt. Der Mensch erhält im Zusammenhang mit der sichtbaren Welt das Dasein als „Abbild“ Gottes, nämlich auf der Ebene eines vernunftbegabten Wesens, das mit Verstand und Willen ausgestattet ist. Auf dieser Ebene des erschaffenden Schenkens vonseiten Gottes ist auch das Wesen der Sünde des „Anfangs“ besser zu erkennen, nämlich als eine Wahl, die der Mensch durch den schlechten Gebrauch dieser Fähigkeiten vollzogen hat. Es versteht sich, dass wir hier nicht vom Anfang der Geschichte sprechen, wie sie – hypothetisch – von der Wissenschaft beschrieben wird, sondern vom „Anfang“, wie er auf den Seiten der Heiligen Schrift erscheint. Diese entdeckt in jenem „Anfang“ den Ursprung des sittlich Bösen, dessen Erfahrung die Menschheit unaufhörlich macht, und sie identifiziert es als Sünde.

3. Das Buch Genesis betont im ersten Schöpfungsbericht (Gen 1,1–28, der chronologisch später ist als der zweite, Gen 2,4–15) das ursprüngliche Gut-Sein alles Geschaffenen und besonders das Gut-Sein des Menschen, der von Gott als Mann und Frau erschaffen wurde (vgl. Gen 1,27). In die Beschreibung der Schöpfung wird verschiedene Male die Feststellung eingefügt: „Gott sah, dass es gut war“ (Gen 1,12.18.21.25), und schließlich, nach der Erschaffung des Menschen: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut“ (Gen 1,31). Da es sich hier um das Wesen handelt, das nach dem Bild Gottes erschaffen ist, nämlich vernunftbegabt und frei, weist der Satz hin auf das Gut-Sein, das nach dem Plan des Schöpfers einem solchen Geschöpf eigen ist.

4. Hierauf stützt sich die von der Kirche gelehrte Glaubenswahrheit über die ursprüngliche Unschuld (iustitia originalis) des Menschen. Sie ergibt sich aus der Beschreibung im Buch Genesis über den Menschen, der aus der Hand Gottes hervorgegangen ist und in voller Vertrautheit mit ihm lebt (vgl. Gen 2,8–25). Auch das Buch Kohelet sagt: „Gott hat die Menschen rechtschaffen gemacht“ (Koh 7,29). Wenn das Konzil von Trient lehrt, dass der erste Adam die Heiligkeit und Gerechtigkeit, in der er erschaffen wurde, verloren hat („Primum hominem Adam … sanctitatem et justitiam, in qua constitutus fuerat, amisisse“, Decr. de pecc. orig.: DS 1511), dann will das sagen, dass dem Menschen vor dem Sündenfall die heiligmachende Gnade mit all den übernatürlichen Gaben zu eigen war, die den Menschen vor Gott „gerecht“ machen. Zusammenfassend können wir sagen, dass der Mensch am Anfang in Freundschaft mit Gott lebte.

5. Im Licht der Bibel erscheint der Zustand des Menschen vor dem Sündenfall als Zustand ursprünglicher Vollkommenheit, in gewisser Hinsicht ausgedrückt im Bild des Paradieses, das das Buch Genesis zeichnet. Wenn wir uns fragen, welches die Quelle dieser Vollkommenheit war, so heißt die Antwort: Sie fand sich vor allem in der Freundschaft mit Gott durch die heiligmachende Gnade und in jenen anderen Gaben, die in theologischer Sprache „praeternatural“ genannt werden und durch die Sünde verlorengingen. Dank dieser Gaben Gottes besaß der Mensch, der in Freundschaft und Harmonie mit seinem Ursprung und Anfang verbunden war, innere Ausgeglichenheit und bewahrte sie, ohne von der Angst vor Verfall und Tod gequält zu sein. Die Herrschaft über die Welt, die Gott dem Menschen am Anfang verliehen hatte, verwirklichte sich vor allem im Menschen selbst als Herrschaft über sich selbst. Und in dieser Selbstbeherrschung und dieser Ausgeglichenheit bestand die Unversehrtheit (integritas) des Daseins in dem Sinn, dass der Mensch in seinem ganzen Sein intakt und geordnet war, weil er frei war von der dreifachen Begierde, die ihn geneigt macht zur Freude der Sinne, zur Gier nach irdischen Gütern und zur Selbstbestätigung, gegen den Spruch der Vernunft.

Deshalb bestand auch Ordnung in den Beziehungen zum Anderen, in jener Gemeinschaft und Intimität, die glücklich macht, wie etwa in der anfänglichen Beziehung zwischen Mann und Frau, Adam und Eva, dem ersten Paar und auch ersten Kern der menschlichen Gesellschaft. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint sehr vielsagend jener erste Satz aus der Genesis: „Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander“ (Gen 2,25).

6. Das Vorhandensein der ursprünglichen Gerechtigkeit und der Vollkommenheit im Menschen, der, wie wir aus der Offenbarung wissen, nach dem Bild Gottes erschaffen war, schloss nicht aus, dass dieser Mensch als ein mit Freiheit ausgestattetes Geschöpf schon im Anfang einer Probe der Freiheit unterworfen wurde, wie die anderen Geistwesen. Die gleiche Offenbarung, die uns mit dem ursprünglichen Zustand der Gerechtigkeit des Menschen bekanntmacht, die er vor dem Sündenfall kraft seiner Freundschaft mit Gott – der Quelle seines Daseinsglücks – besaß, setzt uns auch in Kenntnis über die grundlegende Prüfung, die dem Menschen vorbehalten war, und in der er versagte.

7. In der Genesis wird diese Prüfung beschrieben in Form eines Verbotes, von den Früchten „vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ zu essen. Der Text lautet: „Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben“ (Gen 2,16f.).

Das bedeutet, dass der Schöpfer sich von Anfang an einem vernunftbegabten und freien Wesen als der Gott des Bundes und daher Gott der Freundschaft und der Freude offenbart, doch auch als Quelle des Guten und daher der Unterscheidung von Gut und Böse im moralischen Sinn. Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse weist symbolisch hin auf die unüberschreitbare Grenze, die der Mensch als Geschöpf anerkennen und beachten muss. Der Mensch ist abhängig vom Schöpfer. Er ist den Gesetzen unterworfen, auf die der Schöpfer die Ordnung der von ihm erschaffenen Welt gegründet hat, die wesentliche Ordnung der Existenz (ordo rerum) und daher auch den sittlichen Normen, die den Gebrauch der Freiheit regeln. Die uranfängliche Prüfung ist also auf den freien Willen des Menschen gerichtet, auf seine Freiheit. Wer weiß, ob der Mensch durch sein Verhalten die grundlegende Ordnung der Schöpfung bestätigen und mit seinem Willen anerkennen will, dass er selbst erschaffen worden ist, die Wahrheit der Würde, die ihm als Abbild Gottes eigen ist, aber auch die Wahrheit seiner Grenze als Geschöpf?

Leider kennen wir den Ausgang der Prüfung: Der Mensch versagte. Die Offenbarung sagt es uns. Sie gibt uns aber diese traurige Kunde im Zusammenhang mit der Wahrheit der Erlösung, damit wir bereit sind, mit Vertrauen auf unseren barmherzigen Schöpfer und Erlöser zu schauen.

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Liebe Brüder und Schwestern!

Wir beginnen das neue Kapitel unserer Glaubenskatechese über das Erlösungswerk Christi mit einigen Ausführungen zur Wirklichkeit der Sünde. Diese gehört zum Menschen und zu seiner Geschichte. Die Heilige Schrift beschreibt die erste Sünde des Menschen sogar im Zusammenhang mit dem Geheimnis der Schöpfung selbst. Als „Abbild und Gleichnis Gottes“, mit Verstand und Willen ausgestattet, sündigt der Mensch zum ersten Mal, indem er gleich „am Anfang“ sich durch einen schlechten Gebrauch dieser seiner höchsten Fähigkeiten gegen Gott entscheidet.

Die Heilige Schrift sagt ausdrücklich, dass alles Geschaffene ursprünglich „gut“ war. Das galt in besonderer Weise für den Menschen. Er besaß eine ursprüngliche Unschuld und Rechtschaffenheit; er lebte in inniger Vertrautheit und Freundschaft mit Gott. Der Schöpfungsbericht beschreibt diesen anfänglichen Zustand der Vollkommenheit und des Glücks mit dem Bild vom „Paradies“. Mit der heiligmachenden Gnade besaß der Mensch noch weitere Gnadengaben. Er war frei von jeglicher Begierde und ganz Herr seiner selbst. Die Schrift verdeutlicht das mit den Worten: „Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander“ (Gen 2,25).

Diese ursprüngliche Rechtschaffenheit und Vollkommenheit des Menschen schließt jedoch nicht aus, dass er als geistbegabtes Geschöpf von Anfang an der Prüfung der Freiheit unterworfen war. Das Buch Genesis stellt sie in der Form eines Verbotes dar: „Vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben“ (Gen 2,17). Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse versinnbildet symbolisch jene Grenze, die der Mensch gegenüber Gott nicht überschreiten darf; jene Gesetze des Schöpfers, die das Geschöpf beobachten muss. Die Prüfung richtete sich an seinen freien Willen, an seine Freiheit. Der Mensch aber fehlte und sündigte. Die Heilige Schrift berichtet uns jedoch von dieser traurigen Tatsache, indem sie damit zugleich die Frohe Botschaft von der kommenden Erlösung verbindet.

Nach diesen kurzen Ausführungen grüße ich sehr herzlich alle Pilger und Besucher der heutigen Audienz; unter ihnen besonders die Romwallfahrt der Diözese Eichstätt unter der Leitung ihres Oberhirten Bischof Braun sowie die Mitglieder der Katholischen Männerbewegung der Steiermark aus der Diözese Graz-Seckau. Möge euch diese Pilgerfahrt zu den Gräbern der Apostel in eurem Glauben bestärken und euch ermutigen, auch im Alltag, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft für Christus freimütig Zeugnis zu geben. Von Herzen erteile ich euch allen meinem besonderen Apostolischen Segen.