JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 29. Oktober 1986
1. Bei den Katechesen unseres jetzigen Themenkreises haben wir ständig die Wahrheit über die Erbsünde vor Augen, und zugleich versuchen wir, die Wirklichkeit der Sünde in der Gesamtdimension der menschlichen Geschichte zu sehen. Die geschichtliche Erfahrung bestätigt auf ihre Weise das von der Offenbarung Ausgesagte: Im Leben des Menschen ist die Sünde ständig gegenwärtig, dauernd aktuell. Auf Seiten der menschlichen Erkenntnis ist sie als das moralisch Böse gegenwärtig, mit dem sich auf unmittelbarere Weise die Ethik (Moralphilosophie) beschäftigt. Aber auch andere Zweige der Anthropologie von eher deskriptivem Charakter, wie die Psychologie und die Soziologie, befassen sich auf ihre Weise damit. Eines ist sicher: Das Böse gehört (so wie das Gute) zur menschlichen Erfahrung — und von da nehmen alle jene Disziplinen, die es als Gegenstand der Erfahrung angehen wollen, ihren Ausgang und studieren es.
2. Gleichzeitig muss freilich festgestellt werden, dass wir außerhalb der Offenbarung nicht imstande sind, das eigentliche Wesen der Sünde (d. h. des moralisch Bösen als Sünde) voll zu erfassen noch entsprechend auszudrücken. Nur vor dem Hintergrund der durch den Glauben aufgebauten Beziehung zu Gott wird die ganze Wirklichkeit der Sünde verständlich. Im Licht dieser Beziehung versuchen wir daher, ihr Verständnis zu entwickeln und zu vertiefen.
Wenn es sich um die Offenbarung und vor allem um die Heilige Schrift handelt, kann man die in ihr enthaltene Wahrheit über die Sünde nur darlegen, indem man zum Anfang selbst zurückkehrt. In einem gewissen Sinne wird auch die aktuelle Sünde, die zum Leben jedes Menschen gehört, erst in Bezug auf jenen Anfang, auf die Sünde des ersten Menschen, voll verständlich; und nicht nur deshalb, weil das, was das Konzil von Trient „Anreiz zur Sünde“ (fomes peccati), Folge der Erbsünde, nennt, im Menschen die Grundlage und Quelle der persönlichen Sünden ist, sondern auch, weil jene erste Sünde der Stammeltern gleichsam das Modell für jede vom Menschen persönlich begangene Sünde bleibt. Die erste Sünde war an sich auch eine persönliche Sünde: Deshalb sind die einzelnen Elemente ihrer Struktur in jeder anderen Sünde des Menschen irgendwie wiederzufinden.
3. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt: „Obwohl in Gerechtigkeit von Gott begründet, hat der Mensch unter dem Einfluss des Bösen … durch Auflehnung gegen Gott und den Willen, sein Ziel außerhalb Gottes zu erreichen, seine Freiheit missbraucht“ (GS 13). Mit diesen Worten handelt das Konzil von der im Stand der Urgerechtigkeit begangenen Sünde der Stammeltern. Aber auch in jeder Sünde, die von irgendeinem anderen Menschen im Laufe der Geschichte im Stand der ererbten moralischen Gebrechlichkeit begangen wird, spiegeln sich dieselben Wesenselemente wider. Denn in jeder als persönliche Handlung des Menschen verstandenen Sünde ist ein bestimmter Missbrauch der Freiheit, das heißt ein schlechter Gebrauch der Freiheit, des freien Willens, enthalten. Der Mensch als geschaffenes Wesen missbraucht die Freiheit seines Willens, wenn er ihn gegen den Willen seines Schöpfers anwendet, wenn er sich in seinem Verhalten „gegen Gott auflehnt“, wenn er versucht, „sein Ziel außerhalb Gottes zu erreichen“.
4. In jeder Sünde des Menschen wiederholen sich die Wesenselemente, die von Anfang an das moralisch Böse der Sünde im Licht der über Gott und den Menschen geoffenbarten Wahrheit ausmachen. Sie erscheinen in einem Intensitätsgrad, der sich von dem der im Stand der Urgerechtigkeit begangenen ersten Sünde unterscheidet. Die nach der Erbsünde begangenen persönlichen Sünden sind gewissermaßen bereits am Ausgangspunkt selbst durch den Stand der ererbten Neigung zum Bösen (des „Anreizes zur Sünde“) bedingt. Doch diese Situation ererbter Schwachheit löscht die Freiheit des Menschen nicht aus, und deshalb ist in jeder aktuellen Sünde ein wirklicher Missbrauch der Freiheit gegen den Willen Gottes gegeben.
Der Grad dieses Missbrauchs kann, wie man weiß, variieren, und davon hängt auch der unterschiedliche Grad der Schuld des Sünders ab. In diesem Sinne müssten für die aktuellen Sünden verschiedene Maßstäbe angelegt werden, wenn es darum geht, den Grad des in ihnen enthaltenen Bösen zu beurteilen. Daher stammt auch die Unterscheidung zwischen schwerer und lässlicher Sünde. Wenn die schwere Sünde gleichzeitig Todsünde ist, dann deshalb, weil sie in dem, der sie begeht, den Verlust der heiligmachenden Gnade verursacht.
5. Der hl. Paulus beschreibt die Sünde Adams als „Ungehorsam“ (vgl. Röm 5,19): Was der Apostel sagt, gilt auch für jede aktuelle Sünde, die der Mensch begeht. Der Mensch sündigt, indem er Gottes Gebot übertretet – er ist also ungehorsam gegen Gott als obersten Gesetzgeber. Dieser Ungehorsam ist im Licht der Offenbarung zugleich Bruch des Bundes mit Gott. Denn Gott, wie wir ihn aus der Offenbarung kennen, ist der Gott des Bundes, und eben als Gott des Bundes ist er Gesetzgeber. Denn er fügt sein Gesetz in den Bund mit dem Menschen ein, indem er es zur grundlegenden Bedingung für diesen Bund macht.
6. So war es schon in jenem ursprünglichen Bund, der, wie wir im Buch Genesis lesen (vgl. Gen 2–3), „im Anfang“ verletzt wurde. Aber noch klarer erscheint das in der Beziehung des Herrn zu Israel in der Zeit des Mose. Der Bund, der am Fuße des Berges Sinai mit dem auserwählten Volk geschlossen wurde (vgl. Ex 24,3–8), enthält als grundlegenden Bestandteil die Gebote: den Dekalog (vgl. Ex 20; Dtn 5). Sie stellen die grundlegenden und unveräußerlichen Normen für das Verhalten jedes Menschen gegenüber Gott und gegenüber den Geschöpfen, allen voran gegenüber dem Menschen, dar.
7. Nach der im Brief des hl. Paulus an die Römer enthaltenen Lehre sind diese grundlegenden und unveräußerlichen Verhaltensmaßregeln, die im Zusammenhang des Sinaibundes offenbart wurden, in Wirklichkeit jedem Menschen, auch unabhängig von der an Israel ergangenen Offenbarung, „ins Herz geschrieben“. Der Apostel schreibt nämlich: „Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich“ (Röm 2,14 f.).
Die von Gott durch die Offenbarung des Gesetzes im Rahmen des Bundesschlusses beglaubigte sittliche Ordnung ist also bereits in dem Gesetz vorhanden, das auch außerhalb der vom mosaischen Gesetz und von der Offenbarung bezeichneten Grenzen „ins Herz geschrieben ist“: Man kann sagen, es ist in die Vernunftnatur des Menschen eingeschrieben, wie der hl. Thomas so treffend erklärt, wenn er von der „lex naturae“ spricht (vgl. Summa Theologica, I-II, q.91, a.2; q.94, aa.5–6). Die Erfüllung dieses Gesetzes bestimmt den sittlichen Wert der Handlungen des Menschen und bewirkt, dass sie gut sind. Die Übertretung des in die Herzen, also in die Vernunftnatur des Menschen eingeschriebenen Gesetzes hingegen bewirkt, dass die menschlichen Handlungen böse sind. Sie sind böse, weil sie sich der objektiven Ordnung der menschlichen Natur und der Welt, hinter der Gott, ihr Schöpfer, steht, widersetzen. Deshalb ist auch in diesem von den Grundsätzen des Naturgesetzes erleuchteten Stand des Gewissens eine moralisch böse Handlung Sünde.
8. Im Licht des geoffenbarten Gesetzes tritt der Charakter der Sünde noch stärker hervor. Der Mensch besitzt nun ein tieferes Bewusstsein von der Übertretung eines von Gott ausdrücklich und positiv erlassenen Gesetzes. Er ist sich also auch dessen bewusst, dass er sich dem Willen Gottes widersetzt und somit „ungehorsam ist“. Es handelt sich nicht bloß um den Ungehorsam gegen ein abstraktes Verhaltensprinzip, sondern gegen das Prinzip, in dem die persönliche Autorität Gottes Gestalt annimmt: gegen ein Prinzip, in dem seine Weisheit und seine Vorsehung Ausdruck finden. Das ganze Sittengesetz ist von Gott aus Sorge um das wahre Wohl der Schöpfung und insbesondere um das Wohl des Menschen erlassen worden. Dieses Wohl ist von Gott in den Bund, den er mit dem Menschen geschlossen hat, eingeschrieben worden: sowohl in den ersten Bund mit Adam als auch in den Sinaibund durch Mose und zuletzt in jenen endgültigen Bund, der in Christus geoffenbart und im Blut seiner Erlösung geschlossen wurde (vgl. Mk 14,24; Mt 26,28; 1 Kor 11,25; Lk 22,20).
9. Vor diesem Hintergrund ist die Sünde als „Ungehorsam“ gegen das Gesetz besser in ihrem Charakter des „Ungehorsams“ gegen den persönlichen Gott zu erkennen: gegen Gott als Gesetzgeber, der zugleich liebender Vater ist. Diese Botschaft, die bereits im Alten Testament tiefsinnig ausgedrückt ist (vgl. Hos 11,1–7), sollte in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn (vgl. Lk 15,11–32) ihren vollkommensten Ausdruck finden. In jedem Fall ist der Ungehorsam gegen Gott, das heißt die Auflehnung gegen seinen Schöpfer- und Heilswillen, die das Verlangen des Menschen einschließt, „sein Ziel außerhalb Gottes zu erreichen“ (GS 13), ein Missbrauch der Freiheit.
10. Als Jesus Christus am Tag vor seinem Leiden von der „Sünde“ spricht, welcher der Heilige Geist „die Welt überführen“ muss, erklärt er das Wesen dieser Sünde mit den Worten: „Sünde: dass sie nicht an mich glauben“ (Joh 16,9). Dieses „nicht glauben“ an Gott ist gewissermaßen die erste und grundlegende Form der Sünde, die der Mensch gegen den Gott des Bundes begeht. Diese Form der Sünde war bereits in der Ursünde, von der in Gen 3 die Rede ist, offenkundig geworden. Auf sie bezog sich, um sie auszuschließen, auch das im Bund vom Sinai gegebene Gesetz: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“ (Ex 20,2 f.). Darauf beziehen sich auch die Worte Jesu im Abendmahlssaal, das ganze Evangelium und das Neue Testament.
11. Dieser Unglaube, dieser Mangel an Vertrauen zu Gott, der sich als Schöpfer, Vater und Retter offenbart hat, weist darauf hin, dass der Mensch, wenn er sündigt, nicht nur das Gebot (das Gesetz) übertretet, sondern sich tatsächlich gegen Gott selber „auflehnt“ – „durch den Willen, sein Ziel außerhalb Gottes zu erreichen“ (GS 13). Somit können wir an der Wurzel jeder aktuellen Sünde den vielleicht fernen, aber deshalb nicht weniger realen Widerschein jener Worte finden, die der ersten Sünde zugrunde liegen: die Worte des Versuchers, die den Ungehorsam gegen Gott als Weg hinstellten, um wie Gott zu sein und wie Gott „Gut und Böse“ zu erkennen.
Aber wie gesagt: Auch in der aktuellen Sünde, wenn es sich um eine schwere oder Todsünde handelt, wählt der Mensch sich selber gegen Gott, die Schöpfung gegen den Schöpfer und weist die Liebe des Vaters zurück, so wie der verlorene Sohn in der ersten Phase seines törichten Abenteuers. Gewissermaßen ist jede menschliche Sünde Ausdruck jenes „mysterium iniquitatis“ (2 Thess 2,7), das der hl. Augustinus in die Worte gefasst hat: „amor sui usque ad contemptum Dei“ – „Selbstliebe bis zur Verachtung Gottes“ (De civitate Dei, XIV,28: PL 41,436).
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Liebe Brüder und Schwestern!
Der Gegenstand unserer Überlegungen bei den Generalaudienzen ist seit Längerem schon das Glaubensbekenntnis. Zurzeit verweilen wir bei der Wirklichkeit der Sünde, beim sündigen Menschen, dem das Erlösungswerk Christi gilt. Die Sündenverfallenheit des Menschen ist eine geoffenbarte Wahrheit, zugleich aber ist sie auch eine Gegebenheit unserer Erfahrung.
Die Heilige Schrift führt die Wirklichkeit der Sünde in der Menschheit auf den Sündenfall des ersten Menschen zurück. Seit jener Sünde am Anfang erfährt der Mensch in sich einen ererbten Hang zum Bösen, der ihn zur persönlichen Sünde veranlasst. Die erste Sünde der Stammeltern bleibt für alle nachfolgenden gleichsam das „Modell“. Von ihr sagt das II. Vatikanische Konzil: „Obwohl in Gerechtigkeit von Gott begründet, hat der Mensch unter dem Einfluss des Bösen gleich von Anfang der Geschichte an durch Auflehnung gegen Gott und den Willen, sein Ziel außerhalb Gottes zu erreichen, seine Freiheit missbraucht“ (GS 13). Missbrauch der Freiheit, Auflehnung gegen Gott und Suche des Glücks außerhalb von Gott sind die wesentlichen Elemente, die sich in jeder Sünde wiederholen. Vom Grad des Missbrauchs der Freiheit hängt die Schwere der Schuld dessen ab, der sündigt. Von daher unterscheiden wir eine „schwere“ und „lässliche“ Sünde. Die schwere ist gleichzeitig Todsünde, da der Mensch dadurch die heiligmachende Gnade verliert.
Der hl. Paulus versteht die Sünde vor allem als „Ungehorsam“ gegen Gott, den obersten Gesetzgeber. Sie ist Bruch des Bundes mit Gott. Schon der Heide kann durch Übertretung des Gesetzes sündigen, weil das Gesetz in sein Herz geschrieben ist. Ungehorsam gegen das Gesetz heißt aber letztlich immer Ungehorsam gegen den persönlichen Gott. Die erste und grundlegende Sünde besteht darin, ihm kein Vertrauen zu schenken und deshalb ihm nicht zu glauben. Im Unglauben verschließt sich der Mensch gegen Gott und sucht sich selbst zu genügen. Das mysterium iniquitatis drückt der hl. Augustinus mit den Worten aus: „Liebe seiner selbst bis zur Verachtung Gottes.“
Mit dieser kurzen Betrachtung grüße ich von Herzen alle heutigen deutschsprachigen Audienzteilnehmer. Ich freue mich über eure so große Zahl und danke euch für die dadurch bekundete gläubige Verbundenheit mit dem Nachfolger Petri. Besonders grübe ich die großen Diözesanpilgerzüge mit den sie begleitenden Bischöfen: aus der Erzdiözese Paderborn und aus den Diözesen Essen und Münster, der Region Coesfeld; ferner die Pilgergruppen der Pfarreien St. Dionysius in Havixbeck, St. Elisabeth in Essen-Fronhausen und Heilige Drei Könige in Neuß anläßlich ihrer Pfarrjubiläen. Mein froher Gruß gilt weiter den zahlreichen Jugendlichen sowie den vielen anwesenden Kirchenchören und Musikgruppen, denen ich für ihre musikalischen Darbietungen bestens danke. Ebenso heiße ich aufrichtig willkommen die Gruppe von der Evangelischen Wirche in Westfalen.
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Besonders Herlich grüße ich die große Pilgergruppe der Gemeinschaften der Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland mit ihren Apostolischen und Kanonischen Visitatoren, die zum ersten Mal eine gemeinsame Pilgerfahrt in die Ewige Stadt unternehmen.
Wie ich bei der Eucharistiefeier in Osnabrück im November 1980 gesagt hahe, haben ”harte Zeiten . . . bittere Wunden geschlagen; aber der Herr hat auch geheilt und geholfen“. Der Herr konnte das tun, weil ihr selbst ihm die Treue gehalten habt und euch von ihm habt führen lassen. Gerade in der Prüfung eures Lebensschicksals habt ihr die Kirche in einer besonderen Weise als eure tiefere, Gott selber uns als nie versiegende Quelle des Trostes und der Stärkung gegenwärtig und nahe ist. Möge euch auch diese gemeinsame Pilgerfahrt zu den Heiligen Stätten hier im Zentrum der katholischen Christenheit in eurer Treue und Liebe zur Kirche neu bestärken und dazu ermutigen, euch auch in den vielfältigen Anfechtungen des Alltags als wahre Jünger Jesu Christi zu bewähren. Euch allen, den genannten und nicht genannten Gruppen wie auch den Einzelpilgern aus den Ländern deutscher Sprache erteile ich für schöne und geistlich fruchtbare Tage in der Ewigen Stadt und für Gottes bleibenden Schutz und Beistand von Herzen meinen besonderen Apostolischen Segen.
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