JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 7. September 1988
1. In der messianischen Sendung Jesu gibt es einen Höhe- und Mittelpunkt, dem wir uns in den vorangegangenen Katechesen langsam genähert haben: Christus wurde von Gott in die Welt gesandt, um durch das Opfer des eigenen Lebens den Menschen zu retten. Dieses Opfer musste in Form der „Selbstentäußerung“ im Gehorsam bis zum Kreuzestod geschehen: einem Tod, der nach Meinung der Zeitgenossen den besonderen Stempel der Schmach trug.
In seiner ganzen Verkündigung, in seinem ganzen Verhalten wird Jesus von dem tiefen Bewusstsein geleitet, das er von den Plänen Gottes über sein Leben und seinen Tod in der Ökonomie der messianischen Sendung hat, mit der Gewissheit, dass sie der ewigen Liebe des Vaters zur Welt und insbesondere zum Menschen entspringen.
2. Wenn wir die Jahre seines Heranwachsens betrachten, geben die Worte des zwölfjährigen Jesus viel zu denken, die er an Maria und Josef im Augenblick der „Wiederfindung“ im Tempel von Jerusalem richtete: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ (Lk 2,49). Welche Dinge hatte er im Geist und im Herzen? Wir können es aus so vielen anderen seiner Worte und Gedanken während seines ganzen öffentlichen Lebens ableiten. Schon vom Anfang seiner messianischen Tätigkeit an besteht Jesus darauf, seinen Jüngern den Gedanken einzuprägen, dass „der Menschensohn … vieles erleiden muss“ (Lk 9,22), das heißt, er „müsse … von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen“ (Mk 8,31). Aber all das kommt nicht nur von den Menschen, von ihrer Feindschaft gegen ihn und seine Lehre, sondern ist die Erfüllung des Planes Gottes von Ewigkeit her, wie in den Schriften, die die göttliche Offenbarung enthalten, angekündigt worden ist: „Wie steht über den Menschensohn geschrieben, dass er viel leiden und verachtet werden müsse“ (Mk 9,12).
3. Als Petrus diese Möglichkeit zu verneinen sucht – „Das darf nicht mit dir geschehen!“ (Mt 16,22) –, weist Jesus ihn mit besonders strengen Worten zurecht: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen“ (Mk 8,33). Die Aussagekraft dieser Worte ist beeindruckend. Jesus will mit ihnen Petrus zu verstehen geben, dass sich dem Kreuz zu widersetzen heißt, die Pläne Gottes selbst zurückzuweisen. Gerade „Satan“ ist derjenige, der „von Anfang an“ im Widerspruch steht zu dem, „der von Gott ist“.
4. Jesus ist sich also der Verantwortung der Menschen für seinen Kreuzestod bewusst, den er aufgrund einer von irdischen Gerichtshöfen ausgesprochenen Verurteilung erleiden muss; und er ist sich der Tatsache bewusst, dass durch dieses menschliche Urteil der ewige göttliche Plan erfüllt wird: „der von Gott ist“, das heißt der Opfertod am Kreuz für die Rettung der Welt. Und obwohl Jesus (wie Gott selbst) das von den Menschen begangene Böse des „Gottesmordes“ nicht will, nimmt er trotzdem dieses Böse an, um daraus das Gute der Erlösung der Welt zu ziehen.
5. Nach der Auferstehung, als er, ohne erkannt zu werden, mit zwei seiner Jünger nach Emmaus geht, erklärt er ihnen die Schriften des Alten Testamentes mit den Worten: „Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?“ (Lk 24,26). Und bei der letzten Begegnung mit den Aposteln spricht er: „Das sind die Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich gesagt ist“ (Lk 24,44).
6. Im Licht der Osterereignisse verstehen die Apostel das, was Jesus ihnen im Voraus gesagt hatte. Petrus, der aus Liebe zum Meister, aber auch aus Unverständnis sich dessen grausamem Schicksal besonders zu widersetzen scheint, sagt dann zu seinen Zuhörern am Pfingsttag, als er von Christus spricht: „Jesus …, der nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben wurde, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht“ (Apg 2,22–23). Und ein andermal fügt er hinzu**:** „Gott aber hat auf diese Weise erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten im Voraus verkündigt hat: dass sein Messias leiden werde“ (Apg 3,18).
7. Leiden und Tod Christi waren im Alten Testament nicht als Ende seiner Sendung angekündigt, sondern als der unerlässliche, erforderliche „Durchgang“, der nötig war, um von Gott erhöht zu werden. Das sagt uns insbesondere das Lied des Jesaja, das vom Knecht Jahwes als dem Mann der Schmerzen spricht: „Seht, mein Knecht hat Erfolg, er wird groß sein und hoch erhaben“ (Jes 52,13). Und Jesus selbst, als er darauf hinweist, dass der „Menschensohn vieles erleiden müsse und getötet werde“, fügt auch hinzu: „aber nach drei Tagen werde er auferstehen“ (vgl. Mk 8,31).
8. Wir stehen deshalb vor einem göttlichen Plan, der, obwohl er so offenkundig vor Augen tritt, im Ablauf der von den Evangelien beschriebenen Ereignisse doch immer ein Geheimnis bleibt, das von der menschlichen Vernunft her nicht ausreichend erklärt werden kann. In diesem Geist drückt sich der Apostel Paulus mit dem großartigen Paradoxon aus: „Das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“ (1 Kor 1,25). Diese Worte des Paulus in Bezug auf das Kreuz Christi sind unersetzlich. Aber wenn es für den Menschen auch schwierig ist, eine vernünftige, befriedigende Antwort auf die Frage „Warum das Kreuz Christi?“ zu finden, erhalten wir die Antwort auf diese Fragestellung wieder vom Wort Gottes.
9. Jesus selbst formuliert diese Antwort: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16). Als Jesus diese Worte beim nächtlichen Gespräch mit Nikodemus sagte, konnte sein Fragesteller wahrscheinlich noch nicht wissen, dass der Ausdruck „seinen … Sohn hingab“ bedeutete, „ihn dem Kreuzestod auszuliefern“. Aber Johannes, der sie in seinem Evangelium wiedergibt, kannte sehr wohl die Bedeutung. Der Ablauf der Ereignisse hatte gezeigt, dass gerade dies der Sinn der Antwort an Nikodemus war: Gott hat seinen einzigen Sohn für die Rettung der Welt „hingegeben“, indem er ihn dem Tod am Kreuz für die Sünden der Welt auslieferte und aus Liebe hingab: „Gott hat die Welt so sehr geliebt“, die Schöpfung, den Menschen! Die Liebe ist die endgültige Erklärung der Erlösung durch das Kreuz. Sie ist die einzige Antwort auf die Frage „Warum?“ hinsichtlich des Todes Christi, der im ewigen Plan Gottes inbegriffen ist.
Der Autor des vierten Evangeliums, in dem wir den Wortlaut der Antwort Christi an Nikodemus finden, kommt in einem seiner Briefe auf denselben Begriff zurück: „Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat“ (1 Joh 4,10).
10. Es handelt sich um eine Liebe, die selbst die Gerechtigkeit übersteigt. Die Gerechtigkeit mag den, der eine Schuld auf sich geladen hat, betreffen und erreichen. Wenn der, der leidet, unschuldig ist, kann man nicht von Gerechtigkeit sprechen. Wenn ein Unschuldiger, der heilig ist, wie Christus, sich freiwillig dem Leiden und Tod am Kreuz ausliefert, um den ewigen Plan des Vaters zu erfüllen, dann heißt das, dass Gott im Opfer seines Sohnes über die Ordnung der Gerechtigkeit in gewissem Sinn hinausgeht, um sich in diesem Sohn und durch ihn in der ganzen Fülle seines Erbarmens zu offenbaren – „voll Erbarmen“ (Eph 2,4) –, fast um zusammen mit diesem gekreuzigten und auferstandenen Sohn sein Erbarmen, seine erbarmende Liebe, in die Geschichte der Beziehungen zwischen Mensch und Gott einzuschalten. Durch eben diese erbarmende Liebe wird der Mensch aufgerufen, das Böse und die Sünde in sich und in Bezug auf die anderen zu besiegen: „Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden“ (Mt 5,7) … „Gott aber hat seine Liebe zu uns darin erwiesen, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“, schreibt der hl. Paulus (Röm 5,8).
11. Auf dieses Thema kommt der Apostel an verschiedenen Stellen seiner Briefe zurück, wo oft die drei Worte wiederkehren: Erlösung – Gerechtigkeit – Liebe.
„Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Ohne es verdient zu haben, werden sie gerecht, dank seiner Gnade, durch die Erlösung in Christus Jesus … mit seinem Blut …“ (Röm 3,23–25). Auf diese Weise zeigt Gott, dass er sich nicht mit der Strenge der Gerechtigkeit begnügen will, die, wenn sie das Böse sieht, es bestraft, sondern dass er die Sünde anders besiegen wollte, das heißt, dass er die Möglichkeit schenkte, sie zu überwinden. Gott wollte sich in positiver Weise gerecht zeigen, indem er den Sündern die Möglichkeit bot, durch ihre Zustimmung zum Glauben an Christus, den Erlöser, gerecht zu werden. So ist Gott „gerecht und macht gerecht“ (Röm 3,26). Es geschieht in erschütternder Weise, denn „er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden“ (2 Kor 5,21).
12. Der, „der keine Sünde kannte“ – der Sohn eines Wesens mit dem Vater – nahm die furchtbare Last der Sünde der ganzen Menschheit auf sich, um unsere Rechtfertigung und Heiligung zu erlangen. Das ist die Liebe Gottes, die im Sohn offenbar wurde. Durch den Sohn hat sich die Liebe des Vaters kundgetan: „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben“ (Röm 8,32). Um die Tragweite dieser Worte „nicht verschont“ zu verstehen, kann es von Nutzen sein, sich an das Opfer Abrahams zu erinnern, der bereit gewesen war, Gott „seinen einzigen Sohn nicht vorzuenthalten“ (vgl. Gen 22,16); Gott jedoch hatte ihn verschont (vgl. Gen 22,12). Seinen eigenen, eingeborenen Sohn aber hat Gott „nicht verschont“, sondern ihn im Tod „hingegeben“ für unser Heil.
13. Hieraus erwächst dem Apostel die Gewissheit: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch … irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8,38–39). Zusammen mit Paulus ist die ganze Kirche dieser Liebe Gottes gewiss, „die alles übersteigt“, als letztes Wort der Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte des Menschen und der Welt, als höchste Selbstmitteilung, die durch das Kreuz geschieht, im Mittelpunkt des Ostergeheimnisses Jesu Christi.
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Liebe Brüder und Schwestern!
Jeder Mensch, der das Kreuz Christi mit Herz und Verstand betrachtet, wird einmal auf die Frage stoßen: War das nötig? Gab es keinen schmerzloseren Weg zu unserer Erlösung, zur Überwindung der Sünde in der Welt? Gewiss, die Heilige Schrift lässt keinen Zweifel daran, dass Jesu Tod am Kreuz das Ergebnis von Hass und Verblendung, von Lüge und ungerechtem Urteil war, also von menschlicher Schuld. Unter diesem Gesichtspunkt hat Jesus den blutigen Ausgang seines irdischen Lebens nicht gewollt und nicht gesucht.
Aber in einer ganzen Reihe seiner Worte, die uns die Evangelien überliefert haben, spricht Christus davon, dass es zum Kreuz kommen „musste“, und es wird deutlich, dass er mit diesem „muss“ den ewigen Erlösungsplan Gottes meint. Ihr erinnert euch, wie der Herr den Petrus tadelt, als dieser sich der Aussicht eines gewaltsamen Todes des Meisters widersetzen will. „Du (Petrus) hast nicht das im Sinn, was Gott will“; das sind seine Worte (Mt 16,23).
Nun fragen wir erst recht: Warum will Gott gerade diesen Weg über das Leiden, der uns – wie dem Petrus – so enttäuschend und grausam erscheint**?** Und wir müssen zugeben, dass dieser Wille Gottes für uns ein Geheimnis bleibt, das auch die besten Theologen bisher nicht völlig erhellen konnten.
Jesus selbst aber gibt uns bereits eine Antwort; beim Evangelisten Johannes finden wir sein Wort: „Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab (wir verstehen: bis zum Tod am Kreuz), damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16). Die Liebe Gottes übersteigt all unsere menschlichen Maße: Den Heiligen und Unschuldigen sendet er, damit dieser alle Sündenschuld der Welt auf sich selbst lädt und mit dieser Last das dichteste Dunkel, den Tod, durchschreitet und die größte Schmach erträgt, den Tod am Kreuz. Aber die göttliche Liebe bleibt Sieger und schenkt dem Schmerzensmann in der Auferstehung eine neue, endgültige Ehre und Anerkennung. Und in ihm öffnet sich nun auch uns, seinen Brüdern und Schwestern, das Tor zum ewigen Leben.
Während ich diesen hoffnungsvollen Blick in das liebende Herz Gottes eurer weiteren persönlichen Betrachtung anvertraue, verspreche ich euch allen mein Gebet und wünsche euch den reichen Segen des Himmels für eure Lebenswege, wenn ihr sie nur ehrlich und gewissenhaft geht. Der gerechte und barmherzige Gott leite und stärke euch dabei! Einen besonderen Gruß und Segenswunsch richte ich heute an eine Gruppe von Missionsschwestern vom Heiligsten Herzen Jesu. Möge euer Aufenthalt in Rom und seiner Umgebung dazu beitragen, dass sich eure Freude an eurem Ordensweg erneuere und vertiefe.
EINE BESONDEREN GRUß und Segenswunsch richte ich heute an eine Gruppe von Mission western vom Heiligsten Herzen Jesu. Möge euer Aufenthalt in Rom und seiner Umgebung dazu beitragen, daß sich eure Freude an eurem Ordensweg erneuere und vertiefe. Ein herzliches Willkommen gilt auch der Pilgerfahrt der Bistumszeitung der Diözese Trier. Brüderliche Verbundenheit bezeuge ich der Gruppe vom Bundesgrenzschutz aus Bonn, den Soldaten aus Kempten und aus Salzburg sowie der Polizeigruppe aus Paderborn. In angenehmer Erinnerung an meinen kürzlichen Österreichbesuch nenne ich schließlich noch die große Pilgergruppe der Katholischen Männerbewegung der Steiermark.
Allen Besuchern aus den Ländern deutscher Sprache erbitte ich von Herzen einen segensreichen Aufenthalt hier in der Ewigen Stadt sowie eine gesunde Heimkehr zu euren Familien in der Heimat.
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