JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 4. September 1991
1. Wir lesen in der Konstitution Lumen Gentium des II. Vatikanischen Konzils: „Die aber an Christus glauben, beschloss er [Gott], in der heiligen Kirche zusammenzurufen … in der Geschichte des Volkes Israel und im Alten Bund wurde sie auf wunderbare Weise vorbereitet … [und] durch die Ausgießung des Heiligen Geistes offenbart” (Lumen Gentium, Nr. 2). Dieser Vorbereitung der Kirche im Alten Bund haben wir die vorhergegangene Katechese gewidmet; wir haben gesehen, dass in dem wachsenden Bewusstsein, das Israel vom Plan Gottes durch die Offenbarungen der Propheten und der geschichtlichen Tatsachen selbst entfaltete, der Begriff eines künftigen Gottesreiches immer klarer hervortrat, das weit höher und universaler als jede Voraussicht auf die Geschicke des Königshauses David war. Heute wollen wir eine andere historische Tatsache von großer theologischer Bedeutung betrachten: Jesus Christus beginnt seine messianische Sendung mit der Ankündigung: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe” (Mk 1,15). Diese Worte bezeichnen den Eintritt „in die Fülle der Zeit”, wie der hl. Paulus sagen würde (vgl. Gal 4,4), und bereiten den Übergang zum Neuen Bund vor, gegründet auf dem Geheimnis der erlösenden Menschwerdung des Sohnes und dazu bestimmt, ewiger Bund zu sein. Im Leben und in der Sendung Jesu Christi ist das Reich Gottes nicht nur „nahe” (Lk 10,9), sondern schon in der Welt gegenwärtig und handelt bereits in der Geschichte des Menschen. Jesus selbst sagt: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch” (Lk 17,21).
2. Die unterschiedliche Ebene und Qualität zwischen der Zeit der Vorbereitung und der Zeit der Erfüllung – zwischen dem Alten und dem Neuen Bund – wird von Jesus selbst hervorgehoben, als er unter Hinweis auf seinen Vorläufer Johannes den Täufer spricht: „Amen, das sage ich euch: Unter allen Menschen hat es keinen größeren gegeben als Johannes den Täufer; doch der Kleinste im Himmelreich ist größer als er” (Mt 11,11). Johannes hat vom Ufer des Jordan (und aus seinem Gefängnis) aus gewiss mehr als jeder andere, auch mehr als die Propheten (vgl. Lk 7,26–27), zur unmittelbaren Vorbereitung der Wege des Messias beigetragen. Trotzdem bleibt er in einem gewissen Sinn noch an der Schwelle des neuen Reiches, das mit dem Kommen Christi in die Welt eingetreten ist und sich durch seinen messianischen Dienst fortlaufend offenbart. Nur durch Christus werden die Menschen wahre „Kinder des Reiches”: das heißt des neuen Reiches, das jenes weit übersteigt, von dem die damaligen Juden glaubten, die natürlichen Erben zu sein (vgl. Mt 8,12).
3. Das neue Reich hat wesentlich geistlichen Charakter. Um dort einzutreten, muss man sich bekehren und an das Evangelium glauben, sich von den Mächten des Geistes der Finsternis befreien und sich der Macht des Geistes Gottes unterwerfen, den Christus den Menschen bringt. Wie Jesus sagt: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen” (Mt 12,28; vgl. Lk 11,20).
Das geistliche und transzendente Wesen dieses Reiches wird auch in dem entsprechenden Wort „Himmelreich” ausgedrückt, das wir im Text des Evangeliums finden. Ein herrliches Bild, das den Ursprung und das Ziel des Reiches, den „Himmel”, und die göttlich-menschliche Würde dessen durchblicken lässt, in dem das Reich Gottes durch die Menschwerdung in der Geschichte konkrete Gestalt annimmt: in Christus.
4. Diese Transzendenz des Reiches Gottes ergibt sich aus der Tatsache, dass es nicht einer rein menschlichen Initiative entspringt, sondern dem Plan und dem Willen Gottes selbst. Jesus Christus, der ihn in der Welt gegenwärtig macht und verwirklicht, ist nicht nur einer der von Gott gesandten Propheten, sondern der Sohn eines Wesens mit dem Vater, der durch die Inkarnation Mensch geworden ist. Das Reich Gottes ist das Reich Christi; es ist das Reich des Himmels, der sich über der Erde geöffnet hat, um den Menschen den Eintritt in diese neue Welt der Spiritualität und Ewigkeit zu ermöglichen. Jesus bekräftigt: „Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden … niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will” (Mt 11,27). „Denn wie der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben in sich zu haben. Und er hat ihm Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist” (Joh 5,26–27).
Zusammen mit dem Vater und dem Sohn wirkt auch der Heilige Geist für die Verwirklichung des Reiches schon in dieser Welt. Jesus selbst offenbart es: Der Menschensohn treibt „die Dämonen durch den Geist Gottes aus”, und deshalb „ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen” (Mt 12,28).
5. Das Reich Gottes hat, obwohl es sich in dieser Welt verwirklicht und entfaltet, sein Ziel im „Himmel”. Seinem Ursprung nach transzendent, ist es dies auch seinem Ziel nach, das man in der Ewigkeit erreicht, unter der Bedingung, dass man im gegenwärtigen Leben und im Laufe der kommenden Zeit Christus treu bleibt. Jesus weist darauf hin, als er sagt, dass der Menschensohn gemäß seiner Vollmacht, „Gericht zu halten” (Joh 5,27), am Ende der Welt befehlen wird, „aus seinem Reich alle zusammenzuholen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben”, das heißt, alle Sünder, die im Bereich des Reiches Christi begangen haben. Jesus fügt hinzu: „Dann werden die Gerechten im Reich ihres Vaters wie die Sonne leuchten” (Mt 13,41.43). Das wird die volle und endgültige Verwirklichung des „Reiches des Vaters” sein, dem der Sohn die Auserwählten unterwerfen wird, die von ihm durch die Erlösung und das Werk des Heiligen Geistes gerettet wurden. Das messianische Reich wird sich dann als identisch mit dem Reich Gottes offenbaren (vgl. Mt 25,34; 1 Kor 15,24).
Es gibt also einen historischen Zyklus des Reiches Christi, des menschgewordenen Wortes, aber das Alpha und das Omega dieses Reiches, ja, man könnte sagen: der Grund, in dem es sich öffnet, lebt, entfaltet und seine volle Erfüllung findet, ist das „mysterium Trinitatis”. Wir haben schon gesagt und werden zu gegebener Zeit noch sehen, dass in diesem Geheimnis das „mysterium Ecclesiae” wurzelt.
6. Verbindungs- und Übergangspunkt von einem Geheimnis zum anderen ist Christus, der bereits im Alten Bund angekündigt und erwartet wurde als der Messias und König, mit dem sich das Reich Gottes identifizierte. Im Neuen Bund identifiziert Christus das Reich Gottes mit der eigenen Person und der eigenen Sendung. In der Tat verkündet er nicht nur, dass mit ihm das Reich Gottes in die Welt gekommen ist, sondern er lehrt, „um des Reiches Gottes willen” alles zu verlassen, was dem Menschen lieb ist (vgl. Lk 18,29–30), und an anderer Stelle, alles zu verlassen „um seines Namens willen” oder „um meinetwillen und um des Evangeliums willen” (Mk 10,29).
Das Reich Gottes ist also identisch mit dem Reich Christi. Es ist gegenwärtig in ihm, und es verwirklicht sich in ihm. Und von ihm geht es durch seine Initiative über auf die Apostel und mit ihnen auf all jene, die an ihn glauben: „Darum vermache ich euch das Reich, wie es mein Vater mir vermacht hat” (Lk 22,29). Es ist ein Reich, das in einer Expansion Christi selbst in der Welt, in der Geschichte der Menschen, besteht als neues Leben, das man aus ihm schöpft und das den Glaubenden durch den von ihm gesandten Beistand, den Heiligen Geist, mitgeteilt wird (vgl. Joh 1,16; 7,38–39; 15,26; 16,7).
7. Das von Christus in der Welt verwirklichte messianische Reich wird im Zusammenhang mit dem Leiden und Tod am Kreuz offenbar und zeigt seine endgültige Bedeutung. Bereits beim Einzug in Jerusalem geschieht etwas von Christus Vorgegebenes, das Matthäus als die Verwirklichung einer prophetischen Vorhersage darstellt: die des Sacharja über den „König, der auf einem Esel, auf dem Fohlen, dem Jungen einer Eselin, reitet” (vgl. Sach 9,9; Mt 21,5). Im Denken des Propheten, in der Absicht Jesu und in der Auslegung des Evangelisten bedeutete der Esel Milde und Demut. Jesus war der milde und demütige König, der in die Stadt Davids eintrat, wo er durch seinen Opfertod die Prophetien über das wahre messianische Königtum verwirklichen sollte.
Dieses Königtum wird besonders klar während des Verhörs, dem Jesus vor Gericht bei Pilatus unterzogen wurde. Die Anklagen gegenüber Jesus lauten: dass er „unser Volk verführt, es davon abhält, dem Kaiser Steuer zu zahlen, und behauptet, er sei der Messias und König” (Lk 23,2). Deshalb fragt Pilatus den Angeklagten, ob er ein König sei. Und hier die Antwort Christi: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Aber mein Königtum ist nicht von hier.” Der Evangelist fährt fort: „Pilatus sagte zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme” (Joh 18,36–37).
8. Es ist eine Erklärung, die die gesamte althergebrachte Prophetie abschließt, die die ganze Geschichte Israels begleitet und in Christus Wirklichkeit und Offenbarung wird. Die Worte Jesu lassen uns die Lichtstrahlen erhaschen, die das Dunkel des Geheimnisses durchbrechen, das in den drei Begriffen: Reich Gottes, messianisches Reich, in der Kirche zusammengerufenes Volk Gottes, enthalten ist. In diesem prophetischen und messianischen Licht können wir die Worte des Gebets klarer und besser verstehen und wiederholen, das uns Jesus gelehrt hat: „Dein Reich komme!” (Mt 6,10). Es ist das mit Christus in die Welt eingetretene Reich des Vaters; es ist das messianische Reich, das sich durch das Wirken des Heiligen Geistes im Menschen und in der Welt entwickelt, um in den Schoß des Vaters, in die Herrlichkeit des Himmels, aufzusteigen.
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Liebe Schwestern und Brüder!
In den vorausgegangenen Katechesen haben wir über die Vorstellung vom Reich Gottes im Alten Bund gesprochen. Heute wollen wir eine andere historische Tatsache von großer Bedeutung betrachten: Jesus Christus beginnt seine messianische Sendung mit der Ankündigung: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe” (Mk 1,15). Diese Worte bezeichnen den Eintritt „in die Fülle der Zeit”, wie sich der heilige Paulus ausdrückt (vgl. Gal 4,4), und bereiten den Übergang zum Neuen Bund vor. Im Leben und in der Sendung Jesu Christi ist das Reich Gottes nicht nur „nahe” (Lk 10,9), sondern es ist schon in der Welt gegenwärtig und handelt bereits in der Geschichte des Menschen. Jesus selbst sagt dies: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch” (Lk 17,21).
Der Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Bund im Hinblick auf die Zeit der Vorbereitung und die Zeit der Erfüllung wurde von Jesus selbst hervorgehoben, als er von seinem Vorläufer Johannes dem Täufer sprach: „Amen, das sage ich euch: Unter allen Menschen hat es keinen größeren gegeben als Johannes den Täufer; doch der Kleinste im Himmelreich ist größer als er” (Mt 11,11).
Das neue Reich besitzt einen ausgesprochen geistlichen Charakter. Um dort einzutreten, muss man sich bekehren und an das Evangelium glauben, sich befreien von der Macht des Geistes der Finsternis und sich der Macht des Geistes Gottes unterwerfen, den Christus zu den Menschen bringt. Das messianische Reich offenbart seine Identität mit dem Reich Gottes.
„Dein Reich komme”. Es ist das Reich des Vaters, das mit Christus in die Welt eingetreten ist. Es ist das messianische Reich, das sich durch das Wirken des Heiligen Geistes im Menschen und in der Welt entwickelt, um in den Schoß des Vaters zurückzukehren, in die Herrlichkeit des Himmels.
Mit dieser Betrachtung grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher sehr herzlich. Mein besonderer Gruß gilt den Ordensschwestern aus verschiedenen Kongregationen, die an einem geistlichen Kurs in La Storta teilnehmen; ferner den Teilnehmern an der Pilgerfahrt des Bistumsblattes der Diözese Trier Paulinus, der Pilgergruppe der Pfarreien Astheim, Rimpar, Volkach und Juliusspital Würzburg, dem Chor der Bayerwerke aus Wuppertal sowie der Pilgergruppe des Turnund Sportvereins Pressath.
Aus der Republik Österreich begrüße ich die Alumnen des Priesterseminars in Linz, die Mitglieder der Katholischen Männerbewegung aus Graz und Umgebung sowie die Pilgergruppe der Bewegung ”Für eine bessere Welt“ aus der Erzdiözese Salzburg.
Euch allen, Euren lieben Angehörigen in der Heimat sowie den mit uns über Rundfunk und Fernsehen verbundenen Gläubigen erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.
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