JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 30. Oktober 1991
1. Nach der Aussage des II. Vatikanischen Konzils, das den Text des hl. Cyprian zitiert, über den wir in der vorangegangenen Katechese nachgedacht haben, „erscheint die ganze Kirche als ,das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk’” (Lumen Gentium, Nr. 4; vgl. hl. Cyprian, De oratione dominica, 23: PL 4,553). Wie wir erläutert haben, lehrt das Konzil mit diesen Worten, dass die Kirche vor allem ein in der göttlichen Dreifaltigkeit gründendes Geheimnis ist. Ein Geheimnis, dessen erste und grundlegende Dimension die dreifältige ist. In Verbindung mit der Dreifaltigkeit, der ewigen Quelle, der sie entspringt, „erscheint die Kirche als Volk” (vgl. Lumen Gentium, Nr. 4). Sie ist also das Volk Gottes, des einen und dreifältigen Gottes. Diesem Thema wollen wir uns heute und in den folgenden Katechesen widmen, immer dem Leitfaden der Lehre des Konzils folgend, die ganz von der Heiligen Schrift inspiriert ist.
2. Das Konzil erklärt: „Gott hat es aber gefallen, die Menschen nicht einzeln, unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung, zu heiligen und zu retten, sondern sie zu einem Volk zu machen, das ihn in Wahrheit anerkennen und ihm in Heiligkeit dienen soll” (Lumen Gentium, Nr. 9). Dieser Plan Gottes zeigte sich seit der Geschichte Abrahams durch die ersten Worte, die Gott an ihn richtet: „Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen” (Gen 12,1-2). Diese Verheißung wurde dann mit einem Bund bekräftigt (Gen 15,18; 17,1-14) und nach Abrahams Opfer feierlich verkündet. Abraham war bereit, der Forderung Gottes zu entsprechen und ihm seinen einzigen Sohn zu opfern, den der Herr ihm und seiner Frau Sarah im Alter geschenkt hatte. Aber Gott wollte nur seinen Glauben auf die Probe stellen. Isaak erlitt bei diesem Opfer nicht den Tod, sondern blieb am Leben. Abraham hatte jedoch in seinem Herzen dem Opfer zugestimmt, und dieses Opfer des Herzens, ein Beweis großen Glaubens, erlangte ihm die Verheißung einer zahlreichen Nachkommenschaft: „Ich habe bei mir geschworen – Spruch des Herrn: Weil du das getan hast und deinen einzigen Sohn mir nicht vorenthalten hast, will ich dir Segen schenken in Fülle und deine Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meeresstrand” (Gen 22,16-17).
3. Die Verwirklichung dieser Verheißung sollte verschiedene Abschnitte umfassen. Abraham war in der Tat dazu bestimmt, „Vater aller Glaubenden” zu werden (vgl. Gen 15,6; Gal 3,6-7; Röm 4,16-17). Der erste Abschnitt verwirklichte sich in Ägypten, wo „die Söhne Israels fruchtbar waren, so dass das Land von ihnen wimmelte. Sie vermehrten sich und wurden überaus stark; sie bevölkerten das Land” (Ex 1,7). Der Stamm Abrahams war „das Volk der Israeliten” geworden (Ex 1,9). Es befand sich aber in einer demütigenden Lage der Knechtschaft. Seinem Bund mit Abraham getreu, rief Gott Mose und sprach zu ihm: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage … gehört … Ich bin herabgestiegen, um sie … aus jenem Land hinaufzuführen … Und jetzt geh! … Führe mein Volk … aus Ägypten heraus!” (Ex 3,7-10).
So wurde Mose gerufen, um dieses Volk aus Ägypten herauszuführen. Mose war aber nur der Ausführende des Planes Gottes, das Werkzeug seiner Macht. Denn nach der Bibel ist es Gott selbst, der Israel von der Knechtschaft Ägyptens befreit. „Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten”, lesen wir im Buch des Propheten Hosea (11,1). Israel ist also das von Gott auserwählte Volk: „Nicht weil ihr zahlreicher als die anderen Völker wärt, hat euch der Herr ins Herz geschlossen und auserwählt; ihr seid das kleinste unter allen Völkern. Weil der Herr euch liebt und weil er auf den Schwur achtet, den er euren Vätern geleistet hat” (Dtn 7,7-8). Entscheidend für die Tatsache, dass Israel das Volk Gottes ist, sind nicht seine menschlichen Eigenschaften, sondern nur die Initiative Gottes.
4. Die göttliche Initiative, die hoheitliche Wahl des Herrn, nimmt Bundesform an. So geschah es in Bezug auf Abraham. So geschieht es nach der Befreiung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft. Der Mittler dieses Bundes zu Füßen des Berges Sinai ist Mose: „Mose kam und übermittelte dem Volk alle Worte und Rechtsvorschriften des Herrn. Das ganze Volk antwortete einstimmig und sagte: Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun. Mose schrieb alle Worte des Herrn auf. Am nächsten Morgen stand er zeitig auf und errichtete am Fuß des Berges einen Altar und zwölf Steinmale für die zwölf Stämme Israels.” Dann wurden Opfer dargebracht, und Mose besprengte mit der Hälfte des Blutes der Opfertiere den Altar. Darauf nahm er die Urkunde des Bundes und verlas sie vor dem Volk, während er von den Anwesenden noch einmal das Gelöbnis des Gehorsams gegenüber den Worten Gottes erhielt. Am Ende besprengte er mit dem übrigen Blut das Volk (vgl. Ex 24,3-8).
5. Im Buch Deuteronomium wird die Bedeutung dieses Ereignisses erklärt: „Heute hast du der Erklärung des Herrn zugestimmt. Er hat dir erklärt: Er will dein Gott werden, und du sollst auf seinen Wegen gehen, auf seine Gesetze, Gebote und Rechtsvorschriften achten und auf seine Stimme hören. Und der Herr hat heute deiner Erklärung zugestimmt. Du hast ihm erklärt: Du möchtest das Volk werden, das ihm persönlich gehört, wie er es dir zugesagt hat” (Dtn 26,17-18). Der Bund mit Gott ist für Israel eine besondere „Erhebung”. Auf diese Weise wird Israel „ein Volk, das ihm, dem Herrn, seinem Gott, heilig ist” (vgl. Dtn 26,19). Dies bedeutet eine besondere Zugehörigkeit zu Gott. Mehr noch: Es handelt sich um eine gegenseitige Zugehörigkeit: „Dann will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein” (Jer 7,23). Das ist die göttliche Bereitschaft. Gott verpflichtet sich selbst in dem Bund. Alle Verfehlungen des Volkes im Verlauf seiner Geschichte berühren nicht die Treue Gottes zu dem Bund. Man könnte höchstens sagen, dass sie in gewissem Sinn den Weg bereiten für den neuen Bund, der im Buch des Propheten Jeremia angekündigt wird: „Denn das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe … Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz” (Jer 31,33).
6. Ein Volk wird durch die göttliche Initiative im Bund Volk Gottes, und als solches ist es heilig, das heißt, Gott dem Herrn heilig: „Denn du bist ein Volk, das dem Herrn, deinem Gott, heilig ist” (Dtn 7,6; vgl. Dtn 26,19). Im Sinne dieses Heiligseins werden auch die Worte aus dem Buch Exodus klar: „Ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören” (Ex 19,6). Obwohl dieses Volk im Laufe seiner Geschichte viele Sünden begeht, hört es nicht auf, Volk Gottes zu sein. Deshalb wendet sich Mose, während er sich auf die Treue des Herrn zu dem von ihm geschlossenen Bund beruft, an ihn mit der bewegenden Bitte: „Bring nicht das Verderben über dein Volk und deinen Erbbesitz”, wie wir im Deuteronomium (9,26) lesen.
7. Gott seinerseits lässt nicht nach, sein Wort an das auserwählte Volk zu richten. Er spricht zu ihm viele Male durch die Propheten. Das Hauptgebot bleibt immer das der Liebe zu Gott über alles andere: „Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft” (Dtn 6,5). Mit diesem Gebot ist das Gebot der Liebe zum Nächsten verbunden: „Du sollst deinen Nächsten nicht ausbeuten … An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr” (Lev 19,13.18).
8. Ein weiteres Element tritt aus den biblischen Texten zutage: Gott, der mit Israel den Bund schließt, will unter seinem Volk gegenwärtig sein: in besonderer Weise gegenwärtig. Diese Gegenwart kommt während der Wüstenwanderung Israels durch das Bundeszelt zum Ausdruck, später durch den Tempel, den König Salomon in Jerusalem baut.
Über das Bundeszelt lesen wir im Buch Exodus: „Wenn Mose zum Zelt hinausging, erhob sich das ganze Volk. Jeder trat vor sein Zelt, und sie schauten Mose nach, bis er in das Zelt eintrat. Sobald Mose das Zelt betrat, ließ sich die Wolkensäule herab und blieb am Zelteingang stehen. Dann redete der Herr mit Mose. Wenn das ganze Volk die Wolkensäule am Zelteingang stehen sah, erhoben sich alle und warfen sich vor ihren Zelten zu Boden. Der Herr und Mose redeten miteinander Auge in Auge, wie Menschen miteinander reden” (Ex 33,8-11). Das Geschenk einer solchen Anwesenheit war ein besonderes Zeichen göttlicher Erwählung, das in symbolischen Formen und gleichsam als Vorahnung eine zukünftige Wirklichkeit zum Ausdruck brachte: den Bund Gottes mit seinem neuen Volk in der Kirche.
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Liebe Schwestern und Brüder!
Nach den Worten des Zweiten Vatikanischen Konzils „erscheint die ganze Kirche als ,das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk’” (Lumen Gentium, Nr. 4). Diesem Thema der Kirche als das Volk Gottes, das im Geheimnis der göttlichen Dreifaltigkeit gründet, wollen wir uns heute und in den folgenden Katechesen widmen.
Wie ebenfalls das jüngste Konzil betont, entspricht es dem Heilsplan Gottes, „die Menschen nicht einzeln, unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung, zu heiligen und zu retten, sondern sie zu einem Volk zu machen, das ihn in Wahrheit anerkennen und ihm in Heiligkeit dienen soll” (Lumen Gentium, Nr. 9). Am Anfang des Weges Gottes mit seinem Volk steht die Verheißung an Abraham, den Vater aller Glaubenden, ihn zu einem großen Volk zu machen, ihn zu segnen und seinen Namen groß zu machen (vgl. Gen 12,2); diese Zusage wurde durch den Bundesschluss bekräftigt (vgl. Gen 15,18) und trotz zahlreicher Verfehlungen Israels von Gott die ganze Geschichte hindurch in Treue erfüllt. So hat der Herr sein Volk durch Mose mit starker Hand aus der Knechtschaft Ägyptens befreit und seinen Bund am Sinai erneuert, wodurch zwischen dem Gott Israels und seinem Volk das Band eines gegenseitigen und ewigen Bundes entstand: „Dann will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein” (Jer 7,23).
Dabei ist Jahwe kein fremder Gott, er will vielmehr unter seinem Volk gegenwärtig sein. Diese Gegenwart kommt während der Wüstenwanderung Israels durch das Bundeszelt zum Ausdruck, später dann durch den Tempel Salomos in Jerusalem. Das Buch Exodus berichtet sogar darüber, wie Mose mit Gott im Bundeszelt redete, „Auge in Auge, wie Menschen miteinander reden” (Ex 33,11).
Das Geschenk einer solchen unmittelbaren Gegenwart war im Alten Bund ein besonderes Zeichen göttlicher Erwählung, das in symbolischen Formen und gleichsam als Vorahnung eine zukünftige Wirklichkeit zum Ausdruck brachte: den Bund Gottes mit seinem neuen Volk in der Kirche.
Mit dieser kurzen Betrachtung grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher sehr herzlich. Mein besonderer Gruß gilt den Ordensschwestern aus verschiedenen Kongregationen, die an einem geistlichen Kurs in La Storta teilnehmen sowie den Schwestern vom Heiligen Kreuz. Außerdem begrüße ich die Pilgergruppen der Katholischen Militärgemeinde aus Regensburg sowie der Pfarrei Sankt Alfons aus Würzburg; schließlich die Mitglieder des Ortsverbandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands aus Laudenbach.
Euch allen und Euren lieben Angehörigen in der Heimat sowie den mit uns über das Fernsehen und Radio Vatikan verbundenen Gläubigen erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.
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