JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 11. Oktober 1995
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Kürzlich bin ich aus den Vereinigten Staaten von Amerika zurückgekehrt, wohin ich mich begeben hatte, um an der Feier anlässlich des 50. Jahrestages der Gründung der Organisation der Vereinten Nationen teilzunehmen und um die Diözesen Newark, New York, Brooklyn und Baltimore zu besuchen.
Ich möchte vor allem dem Präsidenten und den Obrigkeiten dieses Landes für ihre herzliche Gastfreundschaft danken. Ich danke dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dr. Boutros Boutros-Ghali, und dem Präsidenten der Versammlung, Diogo Freitas do Amaral, für die freundlichen Worte, die sie an mich gerichtet haben. Ein besonders dankbares Gedenken gilt dem UNO-Personal für die Wärme, mit der es mich empfangen hat. Die tägliche qualifizierte Arbeit so vieler Männer und Frauen, die sich der Sache der Vereinten Nationen verschrieben haben, bietet Grund, für die Zukunft dieser herausragenden Institution das Beste zu hoffen.
Mein lebhafter Dank gilt auch den Hirten, Priestern und Gläubigen der besuchten Kirchen sowie den Bewohnern der Städte, in denen ich mich aufhielt. Ich spreche meinen Dank all denen aus, die in irgendeiner Weise darum bemüht waren, dass mein Aufenthalt einen ruhigen Verlauf nehme und die erhofften Früchte bringe.
2. Heute möchte ich über meinen Besuch bei der UNO sprechen, während ich die Erwägungen über die weitere apostolische Reise auf ein andermal verschiebe. Nach sechzehn Jahren habe ich diese hohe internationale Versammlung erneut besucht. Anlass war die 50. Wiederkehr der Gründung der Organisation der Vereinten Nationen. Mein Besuch fand genau dreißig Jahre nach der denkwürdigen Rede statt, die mein Vorgänger Papst Paul VI. an diesem Ort an die Völker der Welt gerichtet hatte. Wie viele Ereignisse von außerordentlicher Bedeutung sind in der Zwischenzeit geschehen! Langjährige Probleme haben eine glückliche Lösung gefunden, aber dunkle Wolken verdüstern noch den Welthorizont. In Europa ist die Mauer gefallen, die den Osten vom Westen trennte, aber in der Welt besteht immer noch das tiefe Gefälle zwischen Nord und Süd aufgrund des großen wirtschaftlichen Unterschieds; man spürt die Notwendigkeit, die Atomwaffen zu verbannen, aber die ungehinderte Verbreitung von hochentwickelten zerstörerischen Waffen geht – oft insgeheim – weiter; dank des umfassenden und ständigen Austausches zwischen Nationen und Kulturen vertieft sich das Bewusstsein der Einheit der Menschheitsfamilie, aber zugleich brechen in Ländern aller Kontinente aggressive und blutige Konflikte aus. Muss man nicht angesichts dieser Situation die Bedeutung der UNO erkennen?
Tief dankbar bin ich dem Herrn, dass er es mir ermöglicht hat, einen Beitrag anzubieten, damit die Organisation der Vereinten Nationen immer wirksamer die Aufgabe erfüllt, für die sie geschaffen wurde: ein Zentrum des Ausgleichs zu sein, das den Frieden sichert, die Menschenrechte der einzelnen und der Völker schützt und den Menschen hilft, eine Welt zu bauen, in der sich die verschiedenen Nationen wirklich als eine „Familie“ fühlen.
3. Im Verlauf der vergangenen fünfzig Jahre waren wir Zeugen einer ständigen Suche nach Freiheit seitens mutiger Männer und Frauen aller Breitengrade. Die gewaltlosen Revolutionen von 1989 und der Fall des historischen Stacheldrahtes zwischen Ost- und Westeuropa sind lebendige Zeugnisse dafür, wie sehr sich das Herz des Menschen nach diesem fundamentalen Wert sehnt. Angesichts dieser Ereignisse hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in der die Würde der menschlichen Person mit den dazugehörenden Rechten feierlich bekräftigt wird, angefangen bei der Gewissens- und der Religionsfreiheit, ihre dauerhafte Aktualität bewiesen.
Aber bei näherer Betrachtung dieses Jahrestages bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass es bis heute noch kein analoges internationales Übereinkommen gibt, das in angemessener Weise die Rechte der Nationen sanktioniert. Wenn die Charta der menschlichen Grundrechte ausdrücklich die Rechte der Personen ins Licht stellt, muss man sich jetzt darum bemühen, zu einer Charta zu gelangen, die das Recht der Völker auf ein Dasein im Geist respektvollen Zusammenlebens, gegenseitiger Toleranz und konkreter Solidarität schützt und fördert. Wir sind heute Zeugen zweier scheinbar widersprüchlicher Phänomene: Einerseits stellen wir das freie Sich-Zusammenschließen oder Sich-Verbünden ganzer Nationen oder Ländergruppen in größeren Gemeinwesen fest; andererseits sehen wir hervorbrechende Partikularismen wieder auftauchen, die Zeichen eines Identitäts- und Überlebensbedürfnisses angesichts weitreichender kultureller Assimilierungsprozesse sind. Deshalb wird eine „Charta der Nationen“, die diese zusätzlichen Impulse im Rahmen der ethisch-rechtlichen Grundprinzipien der Menschheit deutlich macht und ordnet, nicht umhinkönnen, zu einem friedlicheren Zusammenleben unter den Völkern beizutragen.
4. Es handelt sich darum, einige unveräußerliche Urrechte für alle Nationen der Welt, abgesehen von ihrer jeweiligen Gestalt, die sie auf staatsrechtlicher Ebene besitzen, anzuerkennen und zu fördern: das Existenzrecht, das Recht auf eine eigene Sprache und Kultur, das Recht auf die Erziehung der jungen Generationen nach den eigenen Traditionen, aber immer unter Achtung der Rechte aller und insbesondere der Minderheiten. Die UNO ist dazu aufgerufen, sich zur Garantin und Förderin dieser Erwartungen zu machen, und sie wird diese Aufgabe in dem Maß wirksam erfüllen, in dem sie als wahre Familie der Nationen einen fruchtbaren „Austausch der Gaben“ zwischen den vielen unterschiedlichen Gegebenheiten begünstigt, die die Völker der Erde kennzeichnen. Man darf keine Angst haben vor der Verschiedenheit: Jede Kultur ist in der Tat ein Zeugnis des unaufhörlichen, erhebenden Bemühens der Menschheit, das Geheimnis Gottes, der Welt und des Menschen zu interpretieren. Auf diesem Weg, der für jede Nation in Werten, Einrichtungen und Kultur deutlich wird, kann es auch Schranken und Fehler geben, die das im Menschenherzen eingeschriebene allgemeine Recht der Moral und der interkulturelle Austausch selbst werden überwinden helfen. Unter diesem Blickwinkel werden die Unterschiede zum gemeinsamen Reichtum der ganzen Menschheit.
5. Dennoch darf man die Verteidigung und die Förderung der eigenen nationalen Identität nicht mit der unsinnigen Ideologie des Nationalismus verwechseln, die zur Verachtung der anderen anleitet. Denn eine Sache ist die rechte Liebe zur Heimat, eine andere Sache ist der Nationalismus, der die Völker gegeneinander stellt. Er ist von Grund auf ungerecht, weil er gegen die Pflicht der Solidarität verstößt und Reaktionen und Feindschaften hervorruft, in denen die Keime der Gewalt und des Krieges reifen.
Deshalb wird die erhoffte Charta der Nationen nicht umhinkönnen, außer den Rechten auch die Pflichten herauszustellen, die zu erfüllen die einzelnen Nationen aufgerufen sind, damit eine verantwortliche Kultur der Freiheit gefördert wird, die tief in den Erfordernissen der Wahrheit verwurzelt ist.
6. Liebe Brüder und Schwestern! Indem ich diese Prinzipien und Handlungsvorgaben dargelegt habe, wollte ich der Versammlung der Nationen den Beitrag der christlichen Hoffnung anbieten, die uns auf die Welt blicken lässt mit der verantwortlichen und tatkräftigen Zuversicht dessen, der an die unendliche Liebe Gottes zum Menschen glaubt. Diese Liebe, die sich in Christus offenbarte und „in unsere Herzen durch den Heiligen Geist“ ausgegossen ist (Rom 5,5), wirkt geheimnisvoll in jedem Menschen und sät Keime des Guten unter allen Völkern. Wenn auch die Sünde und der Geist des Bösen am Werk sind, haben wir doch die Gewissheit, dass die Liebe Gottes größer als die menschliche Schwäche ist. Das erlaubt uns, der Zukunft ohne Angst entgegenzugehen. Wir müssen das Handeln Gottes unterstützen, wir müssen seinem Geist gegenüber immer folgsamer werden, wenn wir für die Menschheit eine wahre Zivilisation der Liebe bauen wollen.
Wir, die an Jesus glauben, haben in diesem Fall eine besondere Verantwortung. Unsere Aufgabe ist, auf Christus, den Weg, die Wahrheit und das Leben des Menschen, mutig hinzuweisen.
Aber wir müssen auch im Dialog und in brüderlicher Zusammenarbeit mit allen Menschen guten Willens fortschreiten. Nur gemeinsam können wir eine Gesellschaft und eine Zukunft aufbauen, die des Menschen würdig sind. Und indem wir es tun, wird uns bewusst – wie ich am vergangenen 5. Oktober vor der UNO sagte –, „dass die Tränen dieses Jahrhunderts den Boden für einen neuen Frühling des menschlichen Geistes bereitet haben“ (O.R.dt., Nr. 41, 13.10.95, S. 4).
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Schwestern und Brüder!
Mit dieser kurzen Rückbesinnung grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher sehr herzlich. Mein besonderer Gruß gilt dem lieben Herrn Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, und den Neupriestern des Päpstlichen Collegium Germanicum et Hungaricum mit ihren Angehörigen.
Ferner grüße ich die Teilnehmer an der Diözesanwallfahrt des Bistums Hildesheim unter Leitung von Herrn Weihbischof Hans–Georg Koitz, die Mitglieder des Fernsehausschusses des Südwestfunks sowie die Schwestern und Brüder der evangelisch–lutherischen Kirche.
Auerdem richte ich einen besonderen Gruß an die Chöre und Musikvereine sowie an die zahlreichen Jugendlichen, Schülerinnen und Schüler aus den deutschsprachigen Ländern.
Euch allen, Euren Angehörigen zu Hause sowie den mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbundenen Gläubigen erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.
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