1. Nachdem wir in den vorangegangenen Katechesen die von Anfang an sich festigende Reflexion der Christengemeinde über die Gestalt und die Rolle der Jungfrau in der Heilsgeschichte betrachtet haben, wollen wir heute über die marianische Erfahrung der Kirche nachdenken.
Die Entwicklung der mariologischen Reflexion und der Verehrung der Jungfrau im Laufe der Jahrhunderte hat dazu beigetragen, daß das marianische Antlitz der Kirche immer deutlicher in Erscheinung tritt. Gewiß ist die seligste Jungfrau ganz auf Christus, das Fundament des Glaubens und des kirchlichen Lebens, bezogen und führt zu ihm hin. Aus Gehorsam zu Jesus, der seiner Mutter eine außerordentliche Rolle in der Heilsökonomie zugedacht hat, haben die Christen Maria inständig und in ganz besonderer Weise verehrt, geliebt und angerufen. Sie wiesen ihr eine erhobene Rolle im Glauben und in der Frömmigkeit zu und sahen in ihr den bevorzugten Weg zu Christus, dem höchsten Mittler.
Die marianische Dimension der Kirche ist also unleugbarer Bestandteil der Erfahrung des christlichen Volkes. Sie zeigt sich in vielen Erscheinungsformen des Lebens der Gläubigen und beweist, welchen Platz Maria in ihren Herzen einnimmt. Es handelt sich nicht um ein oberflächliches Gefühl, sondern um ein tiefes, bewusstes im Glauben verwurzeltes Band der Liebe, das die Christen gestern und heute drängte und drängt, sich in gewohnter Weise an Maria zu wenden, um mit Christus in engere Gemeinschaft zu treten.
2. Nach dem ältesten Gebet, das im 3. Jahrhundert in Ägypten von den Christengemeinden formuliert worden war, um von der „Mutter Gottes“ Schutz in Gefahren zu erbitten, haben sich die Bittrufe an sie vervielfacht, weil die Getauften ihre Fürsprache beim Herrn für sehr mächtig halten.
Das gebräuchlichste Gebet ist heute das „Ave Maria“, dessen erster Teil aus dem Evangelium genommen ist (vgl. Lk 1,28.42). Die Christen lernen es zu Hause von klein auf beten und nehmen es als kostbares Geschenk an, das es lebenslang zu pflegen gilt. Dieses Gebet, im Rosenkranz zehnmal wiederholt, hilft vielen Gläubigen, betend die Geheimnisse des Evangeliums zu betrachten und zuweilen lange Zeit in engem Kontakt mit der Mutter Jesu zu stehen. Seit dem Mittelalter ist das „Ave Maria“ das allgemeine Gebet aller Gläubigen, die die heilige Mutter des Herrn bitten, sie in ihrem täglichen Leben zu begleiten und zu schützen (vgl. Apostolisches Schreiben Marialis cultus, Nr. 42–55).
Das christliche Volk hat außerdem seine Liebe zu Maria in vielen Andachtsformen zum Ausdruck gebracht: in Liedern, Gebeten und Gedichten, die einfach oder zuweilen sehr kunstvoll, aber immer geprägt sind von derselben Liebe zu ihr, die der Gekreuzigte den Menschen zur Mutter gegeben hat. Einige davon, wie der Hymnus „Akathistos“ und das „Salve Regina“, haben das Glaubensleben des gläubigen Volkes tief beeinflusst.
Bekräftigt wird die Marienverehrung im Osten und im Westen durch viele Kunstwerke, so daß ganze Generationen die geistliche Schönheit Marias zu schätzen wussten. Maler, Bildhauer, Musiker und Dichter hinterließen Kunstwerke, in denen sie die verschiedenen Aspekte des Lebens der Jungfrau darstellen und so den Sinn und die Bedeutung ihres hohen Beitrages zum Erlösungsgeschehen besser verstehen helfen.
Die christliche Kunst erkannte in Maria die Verwirklichung eines neuen Menschseins nach dem Plan Gottes und damit ein herausragendes Zeichen der Hoffnung für die gesamte Menschheit.
3. Diese Botschaft konnte von den Christen, die zu besonderer Heiligkeit berufen sind, gar nicht überhört werden. In der Tat wird Maria in den Ordensgemeinschaften und Ordenskongregationen, in den Instituten und Gesellschaften des geweihten Lebens besonders verehrt. Viele Institute, aber nicht nur von Ordensfrauen, tragen in ihrem Titel den Namen Maria. Über alle äußeren Erscheinungsformen hinaus betont die Spiritualität der Ordensfamilien und vieler kirchlicher Vereinigungen, von denen einige ausdrücklich marianisch sind, ihre besondere Verbundenheit mit Maria als Garantie eines glaubwürdig und voll gelebten gelebten Charismas.
Dieser marianische Bezug im Leben von Menschen, die vom Heiligen Geist besonders gefördert sind, hat auch die mystische Dimension entfaltet, die zeigt, wie der Christ in seinem tiefsten Inneren die Gegenwart Marias erleben kann.
Die Beziehung zu Maria verbindet nicht nur die engagierten Christen, sondern auch die einfachen Gläubigen und sogar die Fernstehenden, für die sie vielleicht der einzige Kontakt mit dem kirchlichen Leben darstellt. Zeichen dieses gemeinsamen Empfindens des christlichen Volkes der Mutter des Herrn gegenüber sind die Wallfahrten zu den Marienheiligtümern, die das ganze Jahr über große Scharen von Gläubigen anziehen. Einige dieser Bastionen der Marienfrömmigkeit sind sehr bekannt, wie Lourdes, Fatima, Loreto, Pompeji, Guadalupe und Tschenstochau. Andere sind nur im nationalen oder örtlichen Bereich bekannt. Das Gedächtnis von Ereignissen, die mit der Anrufung Marias verbunden sind, vermittelt dort überall die Botschaft ihrer mütterlichen Liebe und öffnet das Herz für die göttliche Gnade.
Diese Stätten des Mariengebets geben ein wunderbares Zeugnis von Gottes Erbarmen, das zu den Menschen durch die Fürsprache Marias kommt. Wunder körperlicher Heilung, der inneren Reue und der Umkehr sind das sichere Zeichen, daß Maria mit Christus und im Heiligen Geist ihr Werk als Helferin und Mutter fortsetzt.
4. Oft sind die Marienheiligtümer Mittelpunkte der Evangelisierung: Denn wie damals in der Gemeinschaft, die in Erwartung von Pfingsten war, so drängt auch in der Kirche von heute das Gebet mit Maria viele Christen zum Apostolat und zum Dienst an den Mitmenschen. Hier möchte ich besonders auf den großen Einfluss der Marienfrömmigkeit hinweisen, den sie auf die Übung der Nächstenliebe und auf die Werke der Barmherzigkeit hat. Von Marias Gegenwart ermutigt, haben viele Gläubige oft das Bedürfnis, sich den Armen, den Heimgesuchten und den Kranken zu widmen, um für die Niedrigsten der Welt ein Zeichen des mütterlichen Schutzes der Jungfrau und ein lebendiges Abbild des Erbarmens des Vaters zu sein. Aus all dem wird deutlich, wie die marianische Dimension das gesamte Leben der Kirche durchzieht. Der Wortgottesdienst, die Liturgie, die verschiedenen karitativen und kulturellen Ausdrucksformen finden in der Beziehung zu Maria eine Möglichkeit innerer Bereicherung und Erneuerung.
Unter der Leitung seiner Hirten ist das Volk Gottes aufgerufen, in dieser Tatsache das Wirken des Heiligen Geistes zu erkennen, der den christlichen Glauben auf den Weg zur Entdeckung der Wesenszüge Marias gewiesen hat. Er vollbringt große Taten an den marianischen Wallfahrtsorten. Er spornt die Gläubigen dazu an, Maria kennenzulernen und zu lieben, und leitet sie an, bei der Jungfrau des Magnifikats in die Schule zu gehen, um die Zeichen Gottes in der Geschichte lesen zu lernen und die Weisheit zu erwerben, die jeden Mann und jeden Frau zu Baumeistern einer neuen Menschheit macht.
________________________________
Liebe Schwestern und Brüder!
Mit dieser kurzen Betrachtung grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher sehr herzlich. Mein besonderer Gruß gilt der Gruppe der Katholischen Akademie Hamburg in Begleitung von Herrn Weihbischof Jaschke. Es wird eine Eurer wesentlichen Aufgaben sein, vor allem an der Schwelle des neuen Jahrtausends im Geist der Ökumene zu wirken. Ferner begrüße ich den Chor des Sängerkreises Moers. Euch allen, Euren lieben Angehörigen zu Hause sowie den mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbundenen Gläubigen erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.
Copyright © Dikasterium für Kommunikation