JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 12. Juni 1996
1. Die Überzeugung, dass Maria von ihrer Empfängnis an von jedem Makel der Sünde bewahrt worden war, so dass sie ganz heilig genannt werden konnte, setzte sich im Laufe der Jahrhunderte zunehmend in der Liturgie und in der Theologie durch. Diese Entwicklung hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Bewegung von Bittgesuchen um eine dogmatische Definition des Vorrechts der Unbefleckten Empfängnis zur Folge. In der Absicht, dieser Bitte zu entsprechen, befragte Papst Pius IX., nachdem er den Rat der Theologen eingeholt hatte, alle Bischöfe in Bezug auf die Angemessenheit und Möglichkeit einer solchen Definition, indem er gleichsam ein „schriftliches Konzil“ einberief. Das Ergebnis war beeindruckend: Die überwiegende Mehrheit der 604 Bischöfe beantwortete die Frage bejahend. Nach dieser ausgedehnten Umfrage, die die Sorge meines ehrwürdigen Vorgängers deutlich macht, in der Definition des Dogmas den Glauben der Kirche auszudrücken, wurde mit ebenso viel Sorgfalt die Abfassung des Dokumentes in Angriff genommen. Die Sonderkommission der Theologen, von Pius IX. zum Zweck der Prüfung der offenbarten Lehre eingesetzt, maß der kirchlichen Praxis wesentliche Bedeutung bei. Und dieses Kriterium wirkte sich auf die Formulierung des Dogmas aus, die den Sprachgebrauch des kirchlichen Lebens, des Glaubens und des Kultes des christlichen Volkes gegenüber den scholastischen Bezeichnungen vorzog.
Schließlich verkündete Pius IX. im Jahr 1854 mit der Bulle Ineffabilis Deus feierlich das Dogma der Unbefleckten Empfängnis: „… erklären, verkünden und bestimmen Wir: … Die Lehre, dass die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch die einzigartige Gnade und Bevorzugung des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechts, von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt wurde, ist von Gott geoffenbart und deshalb von allen Gläubigen fest und standhaft zu glauben“ (DS 2803).
2. Die Verkündigung des Dogmas der Immaculata bringt den wesentlichen Glaubenssatz zum Ausdruck. Papst Alexander VII. sprach 1661 in der Bulle Sollicitudo von der Bewahrung der Seele Marias „bei ihrer Erschaffung und Eingießung in den Leib“ (vgl. DS 2017). Die Definition durch Pius IX. lässt hingegen alle Erklärungen hinsichtlich der Art und Weise der Eingießung der Seele in den Leib beiseite und schreibt der Person Marias im ersten Augenblick ihrer Empfängnis das Bewahrtsein von jedem Makel der Urschuld zu.
Das Freisein „von jeglichem Makel der Urschuld“ hat sicher das vollständige Freisein von jeder Sünde zur Folge und die Verkündigung der vollkommenen Heiligkeit Marias — eine Lehre, zu der die dogmatische Definition einen grundlegenden Beitrag liefert. Denn die negative Formulierung des marianischen Vorrechts, bedingt durch die im Westen über die Erbsünde entstandenen vorhergehenden Auseinandersetzungen, muss immer durch den klaren Hinweis auf die Heiligkeit Marias ergänzt werden, die in der Tradition der Ostkirche deutlicher hervorgehoben wird.
Die Definition von Pius IX. bezieht sich nur auf das Freisein von der Erbsünde und umfasst nicht ausdrücklich das Freisein von der Begierlichkeit. Dennoch folgt aus der vollständigen Bewahrung Marias von jedem Makel der Sünde auch das Freisein von der Begierlichkeit, der ungeordneten Tendenz, die nach dem Konzil von Trient aus der Sünde stammt und zur Sünde geneigt macht (DS 1515).
3. „Durch die einzigartige Gnade und Bevorzugung des allmächtigen Gottes“ verliehen, stellt diese Bewahrung von der Erbsünde ein ganz unverdientes göttliches Vorrecht dar, das Maria vom ersten Augenblick ihres Daseins an erhalten hat.
Die dogmatische Definition erwähnt nicht, dass dieses besondere Vorrecht einzigartig ist, lässt dies aber vermuten. Die Bekräftigung einer solchen Einmaligkeit kommt jedoch in der Enzyklika Fulgens corona von 1953 zum Ausdruck, wo Papst Pius XII. von dem „einmaligen Vorrecht“ spricht, das „nie einer anderen Person gewährt worden ist“ (AAS 45 [1953] 580), während er so die von einigen unterstützte, aber wenig begründete Möglichkeit ausschließt, sie auch dem hl. Josef zuzuerkennen. Die jungfräuliche Mutter empfing die einzigartige Gnade der unbefleckten Empfängnis „im Hinblick auf die Verdienste Jesu Christi, des Erlösers des Menschengeschlechts“, das heißt seiner universalen Erlösungstat. Im Text der dogmatischen Definition wird nicht ausdrücklich erklärt, dass Maria erlöst worden ist, sondern die Bulle Ineffabilis Deus bekräftigt an anderer Stelle, dass sie „auf erhabenste Weise losgekauft worden ist“. Das ist die außergewöhnliche Wahrheit: Christus war der Erlöser seiner Mutter und vollbrachte in ihr „in vollkommenster Weise“ (Fulgens corona, AAS 45 [1953] 581) vom ersten Augenblick ihres Daseins an seine Erlösungstat. Das II. Vatikanische Konzil hat erklärt, dass die Kirche in Maria „die erhabenste Frucht der Erlösung“ bewundert und preist (Sacrosanctum Concilium, Nr. 103).
4. Diese feierlich verkündete Lehre wird ausdrücklich als „von Gott geoffenbarte Lehre“ bezeichnet. Papst Pius IX. fügt hinzu, dass sie „deshalb von allen Gläubigen fest und standhaft zu glauben“ ist. Wer sie sich nicht zu eigen macht oder eine gegenteilige Meinung bewahrt, „soll klar wissen, dass er … an seinem Glauben Schiffbruch erlitt und von der Einheit der Kirche abfiel“.
Bei der Verkündigung der Wahrheit dieses Dogmas der Unbefleckten Empfängnis war sich mein ehrwürdiger Vorgänger bewusst, dass er seine Vollmacht der unfehlbaren Lehre als universaler Hirt der Kirche ausübte, die einige Jahre später während des I. Vatikanischen Konzils feierlich definiert wurde. So stellte er sein unfehlbares Lehramt in den Dienst des Glaubens des Volkes Gottes — und es ist bedeutsam, dass es bei der Definition des Vorrechtes Marias geschah.
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