SCHREIBEN VON PAPST JOHANNES PAUL II.
AN DIE STAATS-UND REGIERUNGSCHEFS DER WELT
An Ihre Exzellenzen
die Staats-und Regierungschefs
Vor genau einem Monat fand in Assisi der Gebetstag für den Frieden in der Welt statt. Heute gehen meine Gedanken spontan zu den Verantwortlichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens jener Länder, die dort durch die religiösen Führer aus vielen Nationen vertreten waren.
Die tiefsinnigen Beiträge dieser Männer und Frauen, Vertreter verschiedener religiöser Bekenntnisse, sowie ihr aufrichtiger Wunsch, sich für Eintracht und die gemeinsame Suche nach wahrem Fortschritt und Frieden innerhalb der gesamten Menschheitsfamilie einzusetzen, fanden ihren erhabenen und zugleich konkreten Ausdruck in einem »Dekalog«, der zum Abschluß dieses einzigartigen Tages verkündet wurde.
Ich habe die Ehre, den Wortlaut dieser gemeinsamen Verpflichtung auch an Eure Exzellenz zu übermitteln in der Überzeugung, daß diese zehn Vorsätze als Anregung für das politische und soziale Handeln Ihrer Regierung dienen können.
Ich durfte feststellen, daß die Teilnehmer am Treffen in Assisi mehr denn je von einer gemeinsamen Überzeugung beseelt waren: Die Menschheit muß zwischen Liebe und Haß wählen. Alle fühlen sich als Mitglieder ein und derselben Menschenfamilie, und sie haben diese Vorstellung durch den obengenannten Dekalog zum Ausdruck gebracht in der Gewißheit, daß Haß zerstört, die Liebe hingegen aufbaut.
Mein Wunsch ist, daß der Geist und die Verpflichtung von Assisi alle Menschen guten Willens zur Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe führen, damit sich jeder Mensch seiner unveräußerlichen Rechte und jedes Volk des Friedens erfreuen kann. Die katholische Kirche, die ihr Vertrauen und ihre Hoffnung auf den »Gott der Liebe und des Friedens« setzt (2 Kor 3, ), wird sich ihrerseits auch in Zukunft dafür einsetzen, daß aufrichtiger Dialog, gegenseitige Vergebung und Eintracht den Weg der Menschen in diesem dritten Jahrtausend bestimmen.
Ich bin Eurer Exzellenz zu Dank verpflichtet für die Aufmerksamkeit, die Sie meiner Botschaft entgegenbringen, und nehme die mir gebotene Gelegenheit wahr, um Sie meiner tiefen Hochachtung zu versichern.
Aus dem Vatikan, 24. Februar 2002
JOHANNES PAUL II.
Der Dekalog von Assisi für den Frieden
1. Wir verpflichten uns, unsere feste Überzeugung kundzutun, daß Gewalt und Terrorismus dem authentischen Geist der Religion widersprechen. Indem wir jede Gewaltanwendung und den Krieg im Namen Gottes oder der Religion verurteilen, verpflichten wir uns, alles Mögliche zu tun, um die Ursachen des Terrorismus zu beseitigen.
2. Wir verpflichten uns, die Menschen zu gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Hochachtung zu erziehen, damit sich ein friedliches und solidarisches Zusammenleben zwischen den Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Gruppen, Kulturen und Religionen verwirklichen läßt.
3. Wir verpflichten uns, die Kultur des Dialogs zu fördern, damit gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zwischen den einzelnen und den Völkern wachsen, die Voraussetzung für einen wahren Frieden sind.
4. Wir verpflichten uns, das Recht jeder menschlichen Person auf ein würdiges Leben gemäß seiner kulturellen Identität und auf die freie Gründung einer eigenen Familie zu verteidigen.
5. Wir verpflichten uns zum aufrichtigen und geduldigen Dialog, indem wir nicht darauf achten, was uns wie eine unüberwindbare Mauer trennt, sondern im Gegenteil erkennen, daß die Begegnung mit dem, was uns von anderen Menschen unterscheidet, zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beitragen kann.
6. Wir verpflichten uns, einander die Irrtümer und Vorurteile in Vergangenheit und Gegenwart zu verzeihen und uns im gemeinsamen Bemühen zu unterstützen, Egoismus und Übergriffe, Haß und Gewalt zu besiegen und aus der Vergangenheit zu lernen, daß Friede ohne Gerechtigkeit kein wahrer Friede ist.
7. Wir verpflichten uns, an der Seite derer zu stehen, die unter Not und Verlassenheit leiden, und uns zur Stimme derer zu machen, die selber keine Stimme haben. Wir müssen konkret an der Überwindung solcher Situationen mitwirken, von der Überzeugung getragen, daß niemand allein glücklich sein kann.
8. Wir verpflichten uns, uns den Ruf all jener zu eigen zu machen, die nicht vor der Gewalt und dem Bösen resignieren. Wir wollen mit all unseren Kräften dazu beitragen, der Menschheit unserer Zeit eine wirkliche Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden zu geben.
9. Wir verpflichten uns, jede Initiative zu ermutigen, die die Freundschaft zwischen den Völkern fördert, in der Überzeugung, daß der technologische Fortschritt eine zunehmende Gefahr von Zerstörung und Tod für die Welt mit sich bringt, wenn ein solidarisches Einverständnis zwischen den Völkern fehlt.
10. Wir verpflichten uns, die Verantwortlichen der Nationen dazu aufzufordern, auf nationaler wie internationaler Ebene alle Anstrengungen zu unternehmen, damit auf der Grundlage der Gerechtigkeit eine Welt der Solidarität und des Friedens erbaut und gefestigt wird.
24. Januar 2002
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