ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DIE TEILNEHMER DES KONGRESSES
«KIRCHE UND WIRTSCHAFT»
Freitag, 22. November 1985
Eminenzen,
Exzellenzen,
sehr geehrte Damen und Herren!
1. Mit besonderer Freude begrüße ich hier im Vatikan die Teilnehmer des Kongresses ”Kirche und Wirtschaft in der Verantwortung für die Zukunft der Weltwirtschaft“. Sie beraten in diesen Tagen ein Thema, das die Völker der Welt und auch den Heiligen Stuhl zutiefst beschäftigt: die brennende Frage nämlich, was in gemeinsamer Verantwortung getan werden muß, um zu verwirklichen, was mein Vorgänger Paul VI. ”Populorum progressio“, die ”Entwicklung der Völker“, genannt hat. Ich konnte in diesen Tagen die Generalversammlung der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen im Vatikan empfangen. Sie wurde aus Anlaß des 40. Gründungsjahres einberufen, gleichzeitig aber auch, um im Anblick der wachsenden Not der Entwicklungsländer neue Initiativen zu planen. Aus den Berichten dieser Organisation der Vereinten Nationen ergibt sich ja ein erschütterndes Bild: Die wirtschaftliche Rezession der Industrieländer hat sich auf viele Entwicklungsländer verheerend ausgewirkt. Die Verschuldung vieler von ihnen hat derart zugenommen, daß ihnen ein finanzieller Zusammenbruch droht. In einer Reihe von Entwicklungsländern hat dies im Zusammenhang mit Naturkatastrophen und weiteren Faktoren zu einem Niedergang der Landwirtschaft geführt, so daß Elend und Hunger entsetzliche Ausmaße angenommen haben. Hier steht die ganze Menschheit vor einer Herausforderung, die mein Vorgänger in die Worte gefaßt hat: ”Es eilt! Zu viele Menschen sind in Not, und es wächst der Abstand, der den Fortschritt der einen von der Stagnation, besser gesagt, dem Rückschritt der anderen trennt“.
2. Aus dem Programm Ihres Kongresses ersehe ich, daß Sie, Vertreter der Industrieländer und Vertreter der Entwicklungsländer, sich gemeinsam bemühen, eine Antwort auf die drei Fragen zu finden, die im Mittelpunkt dieser Herausforderung stehen.
Die erste Frage lautet: Was müssen die Industrieländer für die Entwicklung der Völker tun? Es ist nicht die Aufgabe der Kirche, konkrete Lösungen hierfür vorzuschlagen. Dazu verfügt sie weder über die notwendigen Mittel noch über die nötige Kompetenz. Sie muß aber immer wieder deutlich darauf hinweisen, daß die hochentwickelten Länder die schwere Verpflichtung haben, den anderen Ländern in ihrem Ringen um die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu Hilfe zu kommen. Das II. Vatikanische Konzil fordert, daß dazu in den Industrieländern selber ”geistige und materielle Anpassungen“ vollzogen werden müssen, um diese Herausforderung zu bestehen. In dieser Hinsicht geschieht bereits vieles auf staatlicher wie auf privater Ebene. Das muß dankbar anerkannt werden. Aber noch zu viele Industriebereiche, bis hin zur Waffenproduktion, werden nach rein wirtschaftlichen Regeln und Werten geführt und scheinen die Zeichen der Zeit und ihre gesellschaftspolitische Weltverantwortung noch nicht erkannt zu haben.
Es ist zwar verständlich, daß die Industrieländer, die sich heute selber in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden, zuerst auf die Lösung der eigenen Probleme achten. Aber die Gefahr eines kollektiven Egoismus, wie zum Beispiel bei der Versuchung zu neuen Schutzzöllen, muß deutlich gesehen werden. In den Industrieländern kann auch eine gewisse Resignation eintreten, weil ihre Hilfe gelegentlich mißbraucht wurde oder weil sie keinen raschen Erfolg oder sogar negative Effekte gebracht hat. Eine realistische Sicht läßt erkennen, daß Entwicklung von Völkern und Nationen ein langfristiger und mühsamer Prozeß ist.
Aber all das darf die Industrienationen in der Verantwortung für die Entwicklung der Völker nicht ermüden lassen. Wir gehen auf eine Zukunft zu, in der die Welt immer mehr eins, wird und in der alle von allen abhängen, auch wirtschaftlich. Eine Reihe von Problemen, die heute die einzelnen Nationalwirtschaften belasten, werden auf weite Sicht gesehen nur im Kontext einer funktionierenden Weltwirtschaft gelöst werden können.
Für einen Christen und für jeden Menschen guten Willens geht es dabei niemals bloß um die Lösung rein wirtschaftlicher Marktprobleme, sondern letztlich immer um die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Mehr-Mensch-Sein für alle.
3. Mit Recht haben Sie auf diesem Kongreß noch eine zweite Frage gestellt: Was können und müssen die Entwicklungsländer selber für die Entwicklung der Völker tun?
Letztlich entscheidend ist ja die Selbsthilfe; sie kann durch keine Fremdhilfe ersetzt werden. Das wirtschaftliche Bemühen, konkret die Steigerung der eigenen Produktivkräfte, hat hierbei gewiß eine besondere Bedeutung. Hand in Hand wird aber auch die soziale Entwicklung angestrebt werden müssen. Das II. Vatikanische Konzil weist ausdrücklich darauf hin, daß bei allem Respekt vor der sozialen Eigerart der einzelnen Völker doch vermieden werden muß, ”bestimmte Gewohnheiten als starr und unveränderlich anzusehen, wenn sie neuen Bedürfnissen der Gegenwart nicht mehr genügen“. Eine zentrale Bedeutung in der Eigenverantwortung der Entwicklungsländer erhält die Aufgabe der Bildung und Erziehung. Sie ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Gelingen des Werkes der Entwicklung. Solche Bildung und Erziehung haben zweifellos auch eine wirtschaftliche Dimension. Aber sie müssen weit darüber hinausgehen. Sie müssen letztlich aus einer geistigen Grundlage kommen und auf die Entfaltung des ganzen Menschen hinzielen.
Eines aber muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden: Entwicklung der Völker kann nicht darin bestehen, daß die Entwicklungsländer einfach die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Modelle der Industrienationen übernehmen. Die Zerstörung des kulturellen Reichtums dieser Länder würde nicht nur zu schweren inneren Störungen, sondern auch zu schwerwiegenden Konsequenzen für die wachsende Einheit der Völkergemeinschaft führen, die ja nicht aus einer nivellierten Einheitszivilisation, sondern aus der reichen Vielfalt der Kulturen der Menschheit leben möchte.
4. Sie behandeln in Ihrem Kongreß schließlich noch eine dritte Frage: Welche geistigen Voraussetzungen müssen vorhanden sein, um die Entwicklung mit jener Entschiedenheit voranzubringen, wie es die Not erfordert? Diese Voraussetzungen betreffen sowohl die Industrieländer als auch die Entwicklungsländer in gleicher Weise. Gewiß gibt es, wie das II. Vatikanische Konzil sagt, im Bereich der einzelnen Kultursachbereiche eine gewisse Eigengesetzlichkeit, die beachtet werden muß. Das gilt auch für den Bereich der Wirtschaft und ihrer Entwicklung. Aber diese relative Eigengesetzlichkeit ist kein blinder, zwangshafter Mechanismus. Sie muß in einen sittlichen Zusammenhang gebracht werden und von dort ihre Ziele und letzten Motivationen erhalten. Die Suche nach diesen Zielen und Motivationen gehört zu den größten, aber auch schwierigsten Aufgaben unserer Zeit. Sie sind dieser Frage nicht ausgewichen, auch wenn Sie auf diesem Kongreß nicht sofort eine erschöpfende Antwort finden.
Hier liegt sicher auch der Grund, warum Sie das Gespräch mit der Kirche gesucht haben, die sich, wie Paul VI. sagt, als ”Expertin der Menschlichkeit“ versteht, und zwar der Menschlichkeit in ihrer tiefsten Wurzel: nämlich in der Frage des Sinnes und des Zieles. Es ist die bewußte Aufgabe der Kirche, ihren Beitrag für die Formung jenes Menschen zu leisten, der aus einer geistigen Mitte lebt und sich aus dieser Mitte für die Mitarbeit an der Lösung der großen Menschheitsaufgaben verantwortlich weiß und der sich nicht enttäuschen und verbittern läßt, weil er immer aus der Hoffnung lebt. Um diese Aufgabe zu verwirklichen, braucht die Kirche den Dialog mit dieser Welt, vor allem mit den verantwortlichen Trägern der Verantwortung in Wirtschaft, Gesellschaft Politik und Kultur. Ihr Kongreß ist ein wertvoller Beitrag zu diesem ständigen Dialog. Darum begleite ich Ihre Arbeit mit meinem besonderen Interesse und meinem Segen.
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