APOSTOLISCHE REISE NACH POLEN UND UNGARN
ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DIE VERTRETER AUS DER WELT DER KULTUR
UND DER WISSENSCHAFT
Ungarische Akademie der Wissenschaften (Budapest)
Samstag, 17. August 1991
1. Mein Wohlwollen und meine guten Wünsche gelten vor allem dem Präsidenten der Republik Ungarn, Herrn Árpad Göncz, der nicht nur ein herausragender Vertreter des literarischen Lebens Ungarns ist, sondern darüber hinaus als Staatsoberhaupt das lebendige Symbol der nationalen Einheit darstellt. Ich begrüße auch den anwesenden Ministerpräsidenten, Herrn Bertalan Andrásfalvy, Minister für Kultur und Erziehung, der in seinem Amtsbereich darum bemüht ist, die unvergänglichen Werte der ungarischen Kultur zu bewahren und zu mehren. Mein besonderer Gruß gilt sodann Herrn Domokos Kosáry, dem Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, der sich nach dem Vorbild seiner großen Vorgänger für die Erarbeitung einer neuen, objektiveren Interpretation der Geschichte einsetzt; und der Präsidentin der Ungarischen Schriftstellervereinigung, Frau Anna Jòkai, einer scharfsinnigen Erforscherin der verborgenen Tiefen der menschlichen Seele, die sich unermüdlich der Förderung freundschaftlicher Beziehungen der ungarischen Schriftsteller untereinander annimmt.
Eine Botschaft aufrichtiger Wertschätzung und tiefer Hochachtung richte ich an alle Wissenschaftler, die in der Tradition großer Gelehrter der Vergangenheit die Welt der Natur erforschen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse vertiefen. Ihre Errungenschaften helfen eurer Nation und der ganzen Menschheit dabei, Gottes Schöpfungswerk weiterzuführen und damit den allgemeinen Fortschritt in eine sicherere und glücklichere Zukunft zu fördern. Sodann ergeht mein Wort an die ungarischen Künstler, deren Schaffen großartige Kunstwerke hervorbringt, die die Nation dadurch bereichern, daß sie sie zu den edlen Werten der Schönheit, der Wahrheit und des Guten erziehen. Und es ergeht an die Vertreter der Medizin und der Technik, die daran arbeiten, die Harmonie des menschlichen Daseins zu bewahren und gesündere Umwelt- und Lebensbedingungen zu schaffen.
2. Darüber hinaus sei es mir gestattet, den Schriftstellern, Wissenschaftlern, Künstlern und Ärzten besonders herzlich meine Achtung zu bekunden, die auch unter den schwierigen Verhältnissen der jüngsten Vergangenheit nie aufgehört haben, sich zu ihrem christlichen Glauben zu bekennen, und immer dem Gebot der Wahrheit und der Stimme ihres Gewissens treu geblieben sind, auch wenn sie dafür schwere Diskriminierungen ertragen mußten. Könnte man es in der Tat unterlassen, auf die Trauer und den Schmerz hinzuweisen, mit dem wir erleben mußten, wie in den Ländern Mittel- und Osteuropas hervorragende Persönlichkeiten ins Abseits gedrängt wurden, weil sie sich infolge ihres entschlossenen Festhaltens an den Werten des Glaubens aus dem sozialen und kulturellen Leben ausgeschlossen sahen? Mit Freude erleben wir heute den Zusammenbruch der ideologischen Monopole, während eine neue Gesellschaft, die diese menschlichen Grundwerte achtet, feste Gestalt annimmt. Vertreter der Wissenschaften und Künste können sich heute, auch wenn sie verschiedene religiöse oder politische Überzeugungen haben, glücklich vereint sehen in dem gemeinsamen Bemühen um die Suche nach dem Wahren, dem Guten und dem Schönen und um den Dienst an diesen Werten zum Besten der Kultur und der echten Entwicklung der Menschheit nach dem Plan Gottes, des Schöpfers und Erlösers.
Das Zweite Vatikanische Konzil sagt dazu: ”In der Person des Menschen selbst liegt es begründet, daß sie nur durch Kultur, das heißt durch die entfaltende Pflege der Güter und Werte der Natur, zur wahren und vollen Verwirklichung des menschlichen Wesens gelangt. Wo immer es daher um das menschliche Leben geht, hängen Natur und Kultur engstens zusammen“.
Förderung der Kultur bedeutet nicht, in einen abstrakten Spiritualismus zu verfallen, der nichts weiß von den empirischen Vorgängen des täglichen Lebens. Im Gegenteil, um die vielen Gegensätze des sozialen Zusammenlebens zu überwinden und eine bessere Zukunft zu planen, muß man sich unbedingt der Orientierungskraft klarer kultureller Werte bedienen, die zum gültigen Bezugspunkt für alle werden sollen. Mit vollem Recht nannte daher der Urheber dieser Akademie den kultivierten Intellekt den ”Kimüvelt emberfö“, den wichtigsten Faktor der vollständigen menschlichen Entwicklung.
Da muß hinzugefügt werden, daß für den Jünger Christi die kulturelle Entwicklung des Menschen erst dann ihren Höhepunkt erreicht, wenn sie dadurch, daß sie die Teilgüter auf die Anerkennung der höchsten Werte gründet, deren Quelle und Ziel im Glauben an einen persönlichen Gott entdeckt.
Der Gläubige weiß, daß in der vorliegenden Ordnung der Vorsehung der Aufbau des ”vollkommenen Menschen“ sich auf Christus, das fleischgewordene Wort, stützt. Er besteht nämlich im Teilhaben ”an der vollendeten Reife Christi“.
3. Von diesen Gewißheiten unterstützt, blickt die Kirche mit großer Wertschätzung und Achtung auf Sie, die Baumeister der Kultur, und die, die für ihre Verbreitung sorgen. Ihre Tätigkeit hat ihre besondere Würde in der Schöpfungsordnung, und auch in der Gnadenordnung kommt ihr eine wichtige Funktion zu. Die Kirche ist sich dessen bewußt und anerkennt und fordert Freiheit und Autonomie für die wissenschaftliche Forschung und das künstlerische Schaffen. Die Geschichte lehrt, wie unheilvoll es gewesen ist, die dynamische Kraft des Geistes dadurch abzutöten, daß seine Äußerungen den Postulaten der herrschenden Ideologie unterworfen wurden.
Die Kultur braucht rechte Freiheit, auch gegenüber dem religiösen Glauben. Es gibt nämlich zwei Erkenntnisordnungen: die der Vernunft und die des Glaubens. Die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen haben die Naturerscheinungen und ihre Wechselwirkungen zum Gegenstand. Aber über diese Erscheinungen hinaus vermag die philosophische Vernunft zu einer gewissen Erkenntnis Gottes als Fundament des Universums zu gelangen. Erst die göttliche Offenbarung, die den Gegenstand des Glaubens ausmacht, führt uns in das Geheimnis des Lebens Gottes selbst ein. Glaube und Vernunft greifen beide auf dieselbe ursprüngliche Wahrheit zurück, die nicht sich selbst widersprechen kann. Wenn es daher den Anschein hat, daß Vernunft und Glaube in Konflikt geraten, muß gefolgert werden, daß entweder die Kulturtätigkeit oder das Nachdenken über die Gegebenheiten des Glaubens durch Nichteinhaltung der Forderungen ihrer je eigenen Methode den jeweiligen Kompetenzbereich überschritten hat.
Bisweilen haben leider auch im christlichen Bereich die Gläubigen die legitime Autonomie von Wissenschaft und Kunst nicht ausreichend zur Kenntnis genommen, womit sie Widerspruch, Streit und Polemiken auslösten, die nicht wenige Menschen zu der Meinung verleiteten, Wissenschaft und Glaube stünden im Gegensatz zueinander. Man kann nur wünschen, daß sich das nicht wiederholt.
Andererseits ist auch die Hoffnung darauf legitim, daß jetzt jenes negative Vorurteil überwunden ist, infolge dessen es in der Vergangenheit nicht an Wissenschaftlern und Künstlern fehlte, die gegenüber dem religiösen Glauben eine feindselige Haltung einnahmen. Es muß allen klar sein, daß der Glaube dem Forscher weder vorgefertigte Resultate aufnötigt noch die Absicht hat, die Ergebnisse seiner Studien auf empirischem Gebiet abzuändern oder zu ergänzen.
4. Diese Überlegungen drängen mich dazu, ein in der gegenwärtigen Situation eurer Geschichte stark empfundenes Erfordernis zu unterstreichen. Soll den Kindern dieses Landes ermöglicht werden, zu der vollen und harmonischen Reife zu gelangen, von der ich eben gesprochen habe, dann ist es von vorrangiger Bedeutung, daß sie von Kindheit an in die Lage versetzt werden, die Grundlagen des christlichen Glaubens kennenzulernen und an der religiösen Erfahrung der kirchlichen Gemeinschaft teilzunehmen. Zu diesem Zweck ist zweifellos von Bedeutung, daß für sie der Religionsunterricht während der ganzen Schulzeit sichergestellt wird.
Der Mensch ist nach Gottes Ebenbild geschaffen. Wir sind alle lebendige Ikonen von Ihm, der unser Ursprung und unser Endziel ist. Jene, die vom Glauben erleuchtet in sich und in ihren Brüdern die Züge dieser Ikone entdecken, können vom Menschen und von der sie umgebenden Welt eine eindringlichere und universalere Sicht haben. Wenn sie sich dessen bewußt sind, sollen sie in demütiger Dankbarkeit gegenüber Gott ihre Anstrengungen mit jenen aller Menschen guten Willens vereinigen, um der Menschheit die Zuflucht an Licht, die ihnen aus dem Glauben zukommt, anzubieten. Insbesondere sollen sie ihre Brüder daran erinnern, daß jede Form von Immanentismus, der ein verkürztes Menschenbild aufstellt, den Menschen jener transzendenten Dimension beraubt, die ihn allein der Perspektive des endgültigen Unterganges zu entreißen vermag. Der Mensch als Person hat seine besondere Würde, weil er eine ewige Berufung hat. Jede wie auch immer geartete Einseitigkeit bei der Analyse der menschlichen Bedingtheiten und Erwartungen steht im Gegensatz zu einem echten Humanismus.
Welche Verantwortung würde einer gegenüber den jungen Generationen übernehmen, wenn er ihnen nicht den weiten Horizont der christlichen Botschaft anböte und ihnen somit eine echte Freiheit verwehrte, die Freiheit der bewußten und reifen Annahme des Anrufes der Liebe, der aus dem Glauben kommt. Die Unwissenheit macht jede Art der freien Entscheidung unmöglich. Es ist daher notwendig, den Kindern nicht das Recht auf eine vollständige Erziehung vorzuenthalten, die auch Grundelemente des christlichen Glaubens einschließt.
5. Einer der wichtigsten Kulturfaktoren ist die Erziehung.
Sie besteht allerdings nicht nür in der Weitergabe eines knappen Kompendiums der wissenschaftlichen Errungenschaften und realisierten Techniken an die jüngeren Generationen. Ich weiß sehr wohl, welche Anerkennung Ihr Schulsystem für die ausgezeichnete berufliche Ausbildung verdient, die es der Jugend vermittelt. Eine gleiche, ja noch größere Anstrengung muß jedoch auf dem Gebiet der erzieherischen Bildung unternommen werden, um die Reifung der Persönlichkeit der jungen Menschen in ihrer Sicht der Welt, in ihrem Wertesystem, in ihren persönlichen Beziehungen zu fördern. Eine verkürzte Auffassung vom Menschen spiegelt sich unweigerlich in der Bildungsarbeit, wie die Erfahrung der jüngsten Vergangenheit beweist, wo dem langwierigen, aber absolut notwendigen Erziehungsprozeß nicht die ganze ihm gebührende Aufmerksamkeit zuteil wurde.
Heute leuchtet allen ein, daß für einen derart komplexen und schwierigen Weg ein paar moralische Unterweisungen, die von Lehrern oder Eltern erteilt werden, nicht ausreichend sein können. Die jungen Menschen leben in einer konkreten Familie und in einem bestimmten sozialen Umfeld: alles, was um sie herum geschieht, beeinflußt die Entwicklung ihrer Persönlichkeit, indem es entweder ihr Wachstum zu immer vollendeterer Reife fördert oder aber ihr inneres Wachstum hemmt, ja sogar das natürliche Verlangen nach Vollkommenheit und Glück zerstört.
Die ungarische Gesellschaft erlebt eine tiefgehende Übergangskrise. Sie leidet an den Folgen der vergangenen Jahrzehnte der Diktatur und ist schwer bedroht vom Säkularismus. Nicht selten werden grundlegende sittliche Tugenden vernachlässigt oder gar lächerlich gemacht. Eine der wichtigsten Aufgaben, die sich im Rahmen der neu erlangten Freiheit den Vertretern der Kulturwelt stellt, ist die Errichtung einer neuen Gesellschaft auf der Grundlage fundamentaler menschlicher Tugenden, wie Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, gegenseitige Achtung, Solidarität, Eintracht und Arbeitseifer.
Wer die Verantwortung für die Erziehung der jungen Generationen trägt, muß sich um die Sortierung und Sichtung der Einflüsse der Umwelt auf die Jugend kümmern und sich darum bemühen, diese Jugend mit allen Bedingungen auszustatten, die für eine harmonische menschliche Entfaltung notwendig sind. Unglücklicherweise sind heute viele Familien allein nicht mehr in der Lage, eine solche Atmosphäre zu gewährleisten. Die Eltern haben zu wenig Zeit für ihre Kinder. Vielleicht sind sie auch seelisch tief verletzt, in ihren Grundüberzeugungen erschüttert und infolgedessen ohne Interesse für die wirkliche und letzte Bedeutung des Lebens. Die Nation muß ihr Erziehungssystem überprüfen, um durch die Anwendung geeigneter Mittel das Heranreifen echter Persönlichkeiten zu fördern.
Die Kirche ihrerseits ist bereit, für ein so edles Anliegen ihren Beitrag anzubieten. Zu diesem Zweck beabsichtigt sie auch die Eröffnung eigener Schulen. In der Vergangenheit hat sie sich von der Erziehung der jungen Generationen ausgeschlossen gesehen, und es ist daher jetzt ein Grund zur Freude für sie, festzustellen, daß die Eltern zunehmend den Wunsch bekunden, ihren Kindern eine gute Erziehung in den katholischen Schulen sicherzustellen. Zahlreiche Personen, insbesondere unter den Ordensmännern und Ordensfrauen, tun ihr möglichstes, um diesen Erwartungen zu entsprechen, auch wenn dieser Prozeß der Wiederbelebung nur langsam und mühsam vorankommen kann, was nach vierzig Jahren erzwungener Inaktivität nur zu gut verständlich ist. Ich lade alle edlen, selbstlosen Kräfte zur Mitarbeit ein. Es gilt ein besseres und vollständigeres Erziehungssystem zu schaffen, indem man sich auch auf den Beitrag von Ordenskongregationen und engagierten Katholiken stützt.
6. Der Kirche obliegt die Hauptverantwortung für die Verkündigung des Reiches Gottes sowohl in der Versammlung der Gläubigen wie im direkten Dialog mit den einzelnen, besonders mit den Jugendlichen. Mit Befriedigung darf man feststellen, daß die Kirche jetzt auf konstruktive Kontakte zur Jugend zählen kann: dafür sei der göttlichen Vorsehung gedankt! Man muß freilich mit aller Offenheit zugeben, daß auch die Kirche die Nachfrage nach religiöser Unterweisung der Jugend nicht allein befriedigen kann. Sie war in der jüngsten Vergangenheit der Räumlichkeiten und materiellen Mittel, die für die Erfüllung einer solchen Aufgabe notwendig sind, beraubt worden; zudem wird die Jugend in der Schule so in Anspruch genommen, daß es in den meisten Fällen illusorisch wäre, an die Verwirklichung von Erziehungsstrukturen zu denken, die von denen der Schule streng getrennt sind.
Es ist daher unerläßlich, daß die öffentlichen Schulen selbst die systematische Begegnung der Jugendlichen mit den Vertretern der verschiedenen Kirchen dadurch fördern, daß sie innerhalb des Schulbereiches auch den Religionsunterricht vorsehen.
7. Die Geschichte der ungarischen Kultur hat nicht nur wertvolle Profanwerke, sondern auch Meisterwerke christlichen Glaubens und christlicher Kultur aufzuweisen. Das allererste große Werk der ungarischen Literatur bezieht sich auf die Jungfrau Maria, die Schmerzensmutter Jesu. Und viele berühmte ungarische Dichter und Schriftsteller haben das innige Verhältnis herausgestellt, in das Gottes gerechte und barmherzige Liebe mit dem erlittenen Geschick jedes einzelnen Menschen eintritt, der immer als Kind Gottes angesehen wird, auch dann, wenn er vom rechten Weg abkommt.
Ein wesentlicher Teil der ungarischen Musik gibt der Lobpreisung Gottes Ausdruck. Die schönsten historischen Baudenkmäler sind Kirchen und Klöster. Kultur und Glaube sind in eurer Geschichte stets untrennbar miteinander verwoben gewesen.
Der Herr helfe Ihnen, diese Ihre Sendung zu erkennen, und die mütterliche Fürsprache Mariens, an die sich das ungarische Volk im Laufe seiner tausendjährigen Geschichte wiederholt vertrauensvoll gewandt hat, stehe Ihnen bei. In ihrem Namen segne auch ich Sie von Herzen.
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