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ENZYKLIKA
MATER ET MAGISTRA
VON PAPST
JOHANNES PP. XXIII.
AN DIE EHRWÜRDIGEN BRÜDER,
PATRIARCHEN, PRIMATEN, ERZBISCHÖFE, BISCHÖFE
UND DIE ANDEREN OBERHIRTEN,
DIE IN FRIEDEN UND GEMEINSCHAFT
MIT DEM APOSTOLISCHEN STUHL LEBEN,
SOWIE AN DEN GESAMTEN KLERUS
UND DIE CHRISTGLÄUBIGEN
DES KATHOLISCHEN ERDKREISES
ÜBER DIE JÜNGSTEN ENTWICKLUNGEN
DES GESELLSCHAFTLICHEN LEBENS
UND SEINE GESTALTUNG IM LICHT DER CHRISTLICHEN LEHRE

 

Ehrwürdige Brüder, geliebte Söhne, 
Gruß und Apostolischen Segen

EINLEITUNG

1. Mutter und Lehrmeisterin der Völker ist die katholische Kirche. Sie ist von Christus Jesus dazu eingesetzt, alle, die sich im Lauf der Geschichte ihrer herzlichen Liebe anvertrauen, zur Fülle höheren Lebens und zum Heile zu führen. Dieser Kirche, der "Säule und Grundfeste der Wahrheit" (1 Tim 3, 15), hat ihr heiliger Gründer einen doppelten Auftrag gegeben: Sie soll ihm Kinder schenken; sie soll sie lehren und leiten. Dabei soll sie sich in mütterlicher Fürsorge der einzelnen und der Völker annehmen in ihrem Leben, dessen erhabene Würde sie stets hoch in Ehren hielt, über das sie wachte und das sie beschützte.

2. Christi Lehre verbindet ja gleichsam Erde und Himmel; sie erfaßt den Menschen in seiner Ganzheit, Leib und Seele, Vernunft und Willen; sie führt seinen Sinn von den wechselvollen Gegebenheiten dieses irdischen Lebens zu den Gefilden des ewigen. Dort soll er einmal unvergängliche Seligkeit und Frieden genießen.

3. Die heilige Kirche hat so zwar vor allem die Aufgabe, die Seelen zu heiligen und ihnen die Teilnahme an den himmlischen Gütern zu schenken. Sie bemüht sich aber auch um die Bedürfnisse des menschlichen Alltags. Dabei geht es ihr nicht nur um das Lebensnotwendige. Sie kümmert sich auch um der Menschen Wohlstand und Wohlergehen in den verschiedensten Kulturbereichen, sowie es jeweils die Zeit erfordert.

4. Damit verwirklicht die heilige Kirche den Auftrag Christi, ihres Gründers. Dieser meint vor allem das ewige Heil des Menschen, wenn er einmal sagt: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14, 6), und bei anderer Gelegenheit: "Ich bin das Licht der Welt" (Joh 8, 12). Wenn er aber beim Anblick der hungernden Menge bewegt ausruft: "Mich erbarmt des Volkes" (Mk 8, 2), zeigt er, wie sehr ihm auch die irdischen Bedürfnisse der Völker am Herzen liegen. Diese Sorge beweisen im Leben unseres göttlichen Erlösers nicht nur seine Worte, sondern auch seine Taten. So hat er, den Hunger der Menge zu stillen, mehrfach wunderbar das Brot vermehrt.

5. Mit diesem Brot, dem Leib zur Speise gegeben, kündigte er jene himmlische Seelenspeise zeichenhaft an, die er "am Abend vor seinem Leiden" den Menschen geben wollte.

6. Kein Wunder also, wenn die katholische Kirche, Christi Lehre aufgreifend und Christi Gebot erfüllend, seit nunmehr zweitausend Jahren, von den Diensten der alten Diakone an bis auf unsere Tage, unentwegt die Fackel der Liebe hochhält. Sie tut es nicht nur in ihrer Lehre. Sie gibt auch das Beispiel der Fülle ihres Tuns. Diese Liebe verbindet harmonisch in sich das Gebot der Zuneigung, die wir zueinander haben sollen, und seine Erfüllung. Wunderbar trägt sie in sich den doppelten Auftrag der Kirche, zu geben: die Gabe der sozialen Lehre und die Gabe der sozialen Tat.

7. Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis dieser von der Kirche im Laufe der Jahrhunderte entfalteten sozialen Lehre und Tat ist nun unstreitig das Rundschreiben Rerum novarum Unseres Vorgängers Leo XIII. Siebzig Jahre sind es jetzt, seit er in ihm seine Grundsätze zur Lösung der Arbeiterfrage im Sinn der christlichen Lehre vortrug.

8. Nur selten fand ein Papstwort einen so weltweiten Widerhall wie dieses. Grund dafür ist sowohl die Gewichtigkeit und Weite seines Inhalts wie die unvergleichliche Kraft seiner Sprache. Inder Tat wurden jene Richtlinien und Mahnungen so bedeutsam, daß sie aus dem Gedächtnis der Nachwelt nicht mehr auszulöschen sind. Seither weitet sich das Wirken der katholischen Kirche sichtbar. Ihr Oberhirt macht sich gewissermaßen die Leiden, die Klagen, die Bestrebungen der unteren Schichten und der Unterdrückten zu eigen. Er tritt auf als Anwalt und Schützer ihrer Rechte.

9. Seitdem ist nun schon ein langer Zeitraum verstrichen. Trotzdem ist bis heute die Kraft jener Botschaft wirksam. Sie ist wirksam in den Verlautbarungen der Nachfolger Leos XIII. auf dem päpstlichen Stuhl. Immer wieder greifen sie in ihren Worten zu Wirtschaft und Gesellschaft auf das Rundschreiben Leos XIII. zurück: bald führen sie es weiter aus; bald stellen sie seine Tragweite deutlicher heraus; bald regen sie, von ihm ausgehend, erneut den Eifer der katholischen Christen an. Die Botschaft ist auch wirksam im Recht vieler Staaten. Vertieft man sich nur gründlich in die Grundsätze, die praktischen Richtlinien und die in väterlicher Liebe ausgesprochenen Mahnworte dieses bedeutenden Rundschreibens Unseres großen Vorgängers, so wird offenkundig, daß sie auch in unsern Tagen noch ihre alte Autorität behaupten; ja daß sie darüber hinaus den Menschen von heute neue und lebendige Anregungen geben können, den Inhalt und Umfang der sozialen Frage, so wie sie sich heute stellt, richtig zu beurteilen und die entsprechende Verantwortung zu übernehmen.

I.

LEHRE DES RUNDSCHREIBENS
RERUM NOVARUM
;
IHRE ENTFALTUNG IN DER LEHRTÄTIGKEIT
PIUS' XI. UND PIUS' XII.

Die Zeit von Rerum novarum

10. Tiefe Schatten liegen über der Zeit, in der die Lehre Leos XIII. an je ganze Menschheit erging. Das läßt das Licht, das von ihr ausging, nur um so heller erstrahlen. Es war die Zeit eines tiefgehenden wirtschaftlichen und politischen Umbruchs; im Zusammenhang damit entbrannten vielfach leidenschaftliche Auseinandersetzungen, schürte man offen den Aufruhr.

11. Die damals vorherrschende Auffassung von der Wirtschaft, der auch weithin die Praxis entsprach, ist, wie bekannt, naturalistisch. Alles ergibt sich danach zwangsläufig aus dem Wirken der Naturkräfte. Es besteht kein Zusammenhang zwischen Wirtschaftsgesetzen und Sittengesetz. Einziger Antrieb des wirtschaftlichen Schaffens ist der persönliche Eigennutz. Oberstes Gesetz, das die Beziehungen zwischen den wirtschaftlich Schaffenden regelt, ist der schrankenlos freie Wettbewerb. Kapitalzins, Preise von Waren und Dienstleistungen, die Höhe von Gewinnen und Löhnen bestimmen sich rein mechanisch nach den Marktgesetzen. Der Staat hat sich jedweder Einmischung in das Wirtschaftsgeschehen zu enthalten. Gleichzeitig waren die Arbeiterorganisationen je nach den einzelnen Ländern entweder verboten oder genossen nur Anerkennung für den Bereich des Privatrechts.

12. In einer solchen Zeit galt die Macht des Stärkeren in der Wirtschaft grundsätzlich als gerechtfertigt; praktisch beherrschte sie eindeutig die Beziehungen der Menschen zueinander. Das Ergebnis war eine bis in ihre Wurzeln hinein verkehrte Ordnung der gesamten Wirtschaft.

13. Während sich nämlich allzu großer Reichtum in den Händen weniger aufhäufte, litten die breiten Massen der Arbeiter unter täglich zunehmender Verelendung. Die Arbeitslöhne langten nicht zum Lebensnotwendigen, waren manchmal sogar ausgesprochene Hungerlöhne; vielfach wurden der Arbeiterschaft Arbeitsbedingungen aufgezwungen, die der körperlichen Gesundheit, Sitte und Sittlichkeit, Glauben und Religion abträglich waren. Unmenschlich sind oft im besonderen die Arbeitsbedingungen zu nennen, denen Kinder und Frauen ausgesetzt waren. Dazu drohte täglich das Schreckgespenst der Arbeitslosigkeit. Die häusliche Lebensgemeinschaft geriet in die Gefahr, sich allmählich aufzulösen.

14. Die natürliche Folge war eine tiefe Unzufriedenheit unter den arbeitenden Schichten. Offen verlangten sie die Beseitigung dieses Zustandes. So erklärt sich auch, warum unter ihnen immer mehr extremistische Auffassungen um sich griffen, die Heilmittel vorschlugen, schlimmer noch als die Übel, die nach Abhilfe riefen.

Wege zum Wiederaufbau

15. In diese geschichtliche Entwicklung hinein stellte Leo XIII. mit der Veröffentlichung von Rerum Novarum seine soziale Botschaft. Sie greift zurück auf die Forderungen der menschlichen Natur und entspricht der Lehre und dem Geist des Evangeliums. Die Botschaft fand - abgesehen vom üblichen Widerstand einiger - allenthalben in der Welt Beifall und höchste Bewunderung. Zwar war es nicht das erstemal, daß der Apostolische Stuhl sich in Anliegen des irdischen Lebens zum Vorkämpfer der Armen machte. Andere Verlautbarungen Leos XIII. selbst hatten dem erwähnten Schritt schon den Weg geebnet. Dieses Rundschreiben aber enthielt erstmals eine Gesamtdarstellung der Grundsätze und ein einheitliches Programm. Man kann es deswegen wohl eine Zusammenfassung dessen nennen, was die katholische Lehre über Wirtschaft und Gesellschaft zu sagen hat.

16. Man muß schon sagen: Dazu gehörte nicht wenig Mut. Während sich manche nicht scheuten, der Kirche vorzuwerfen, sie tue nichts, als den Armen Ergebung in ihr Elend und den Reichen herablassende Mildtätigkeit zu predigen, zögerte Leo XIII. nicht, offen einzutreten für die Unantastbarkeit der Rechte der Arbeiter und sie zu schützen. An den Anfang seiner Ausführungen über die Grundsätze und Forderungen der katholischen Soziallehre stellte er das Wort; ,,Zuversichtlich und mit voller Berechtigung gehen Wir an diesen Gegenstand heran; handelt es sich doch um ein Problem, dessen Lösung, wenn irgendwie, so doch sicherlich nicht ohne Hilfe von Religion und Kirche gefunden werden kann" (Rerum novarum, 13).

17. Ihr kennt sicher, Ehrwürdige Brüder, jene tragenden Grundsätze, die nach den klaren und eindrucksvollen Lehren des großen Papstes die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens in Gesellschaft und Wirtschaft bestimmen sollen.

18. Er handelt zunächst von der Arbeit. Diese dürfe nicht als eine bloße Ware behandelt werden; sei sie doch eine Äußerung der menschlichen Person. Für die große Mehrheit der Menschen ist sie zudem die einzige Quelle ihres Lebensunterhalts. Darum darf die Höhe ihrer Vergütung nicht dem Spiel der Marktgesetze überlassen werden, muß vielmehr bestimmt werden von Gerechtigkeit und Billigkeit. Andernfalls wird beim Arbeitsvertrag die Gerechtigkeit auch dann durchaus verletzt, wenn beide Seiten ihn freiwillig abschließen.

19. Weiter spricht der Papst vom Privateigentum. Die Natur gibt dem einzelnen ein Recht darauf, Produktionsmittel nicht ausgenommen; und der Staat darf dieses Recht unter keinen Umständen unterdrücken. Aber der privaten Verfügungsgewalt über Güter wohnt eine soziale Funktion wesentlich inne; wer das Eigentum daran in Anspruch nimmt, ist darum verpflichtet, nicht nur den eigenen Vorteil, sondern auch den Nutzen der anderen zu berücksichtigen.

20. Der Staat hat zum Ziel die Gewährleistung des irdischen Gemeinwohls. Darum darf er sich nicht völlig aus dem wirtschaftlichen Leben seiner Bürger heraushalten. Er muß vielmehr in ihm gegenwärtig sein und fördernd eingreifen, zunächst um in ihm die Erzeugung jenes Maßes an materiellen Gütern zu gewährleisten, "deren Inanspruchnahme für ein tugendhaftes Handeln notwendig ist" (Thomas von Aquin, De regimine principum I, 15); dann um die Rechte aller Bürger zu schützen, besonders die der Schwächeren; dazu gehören die Arbeiter, die Frauen und die Kinder. Niemals darf er sich seiner Verpflichtung entziehen, sich um die Verbesserung der Lage der Arbeiter zu kümmern.

21. Der Staat hat ferner die Pflicht, darüber zu wachen, daß die rechtliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses dem Gesetz von Gerechtigkeit und Billigkeit entspricht; ferner darüber, daß auf dem Arbeitsplatz nicht die Würde der menschlichen Person an Leib und Seele verletzt wird. In dieser Beziehung enthält das Rundschreiben Leos XIII. oberste Sozialrechtsgrundsätze, die die modernen Staaten in ihrer Gesetzgebung verwerten konnten. Sie haben, wie schon Unser Vorgänger Pius XI. im Rundschreiben Quadragesimo Anno bemerkt, nicht wenig zum Werden und zur Entwicklung eines neuen Rechtszweiges beigetragen, nämlich des Arbeitsrechtes.

22. Den Arbeitern, so heißt es in dem Rundschreiben weiter, steht das naturgegebene Recht zu, Vereine und Verbände zu gründen; seien es reine Arbeiterorganisationen oder gemischte Verbände, aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern als Mitgliedern zusammengesetzt; ferner das Recht, diesen Vereinigungen jene Organisationsform zu geben, die sie in ihrem beruflichen Interesse für die geeignetste halten; schließlich das Recht, sich ungestört, frei und in eigener Initiative für die Verfolgung ihrer Interessen einzusetzen.

23. Endlich sollen Arbeiter und Arbeitgeber ihre Beziehungen zueinander regeln nach den Grundsätzen der menschlichen Solidarität und im Sinn der christlichen Brüderlichkeit; dagegen sind sowohl ein Wettbewerb, wie ihn die sogenannten Liberalen wollen, als auch der Klassenkampf im Sinn des Marxismus ganz und gar unvereinbar mit I der christlichen Lehre, ja mit der menschlichen Natur.

24. Das, Ehrwürdige Brüder, sind die Grundlagen, die den Aufbau einer Ordnung in Wirtschaft und Gesellschaft tragen sollen.

25. Es ist also nicht zu verwundern, wenn hervorragende Katholiken, angespornt durch dieses Schreiben, in einer Fülle von Initiativen darangingen, die hier vorgetragenen Grundsätze zu verwirklichen. Den gleichen Weg gingen in den verschiedenen Ländern der Welt, bewegt von den gleichen Forderungen der menschlichen Natur, auch andere ausgezeichnete Menschen guten Willens.

26. So galt und gilt das Rundschreiben mit vollem Recht als Magna Charta einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Das Rundschreiben "Quadragesimo Anno"

27. Unser Vorgänger Pius XI. veröffentlichte vierzig Jahre nach dem Erscheinen des Rundschreibens Rerum Novarum ein eigenes Rundschreiben, Quadragesimo Anno.

28. In dieser Verlautbarung bekräftigt der Papst das Recht und die Pflicht der Kirche, ihren besonderen Beitrag zur Lösung der ernsten sozialen Frage zu leisten, die die ganze Menschheit so sehr bewegt. Er bestätigt und betont noch einmal die der geschichtlichen Situation entsprechenden Grundsätze und Forderungen des Leoschen Rundschreibens. Dann ergreift er die Gelegenheit, einige Lehrstücke zu klären, über die unter den Katholiken selbst Meinungsverschiedenheiten entstanden waren; ferner um zu zeigen, wie diese Grundsätze und Forderungen der Sozialordnung in Auseinandersetzung mit der veränderten Zeitlage weiterzuentwickeln sind.

29. Die damals entstandenen Zweifel bezogen sich auf die rechte Haltung der Katholiken in der Frage des Privateigentums, der Lohngerechtigkeit sowie einer gemäßigten Form des Sozialismus.

30. Zunächst verkündet Unser Vorgänger erneut den naturrechtlichen Charakter des Privateigentums; er betont zugleich seine soziale Seite und entwickelt und erläutert seine soziale Funktion.

31. In bezug auf das Lohnverhältnis weist der Papst die Behauptung zurück, es sei seiner Natur nach ungerecht. Zugleich bedauert er die unmenschlichen und ungerechten Formen, die es in der Praxis nicht selten annimmt. Er weist eingehend auf die Normen und Bedingungen hin, die zu wahren sind, wenn man hier nicht vom Weg der Gerechtigkeit oder Billigkeit abkommen will.

32. Auf diesem Gebiet, sagt Unser Vorgänger, empfehle es sich heute, den Arbeitsvertrag durch Übernahme einiger Elemente des Gesellschaftsvertrages aufzulockern; "Arbeiter und Angestellte gelangen auf diese Weise zu Mitbesitz oder Mitverwaltung oder zu irgendeiner Art Gewinnbeteiligung" (Quadragesimo Anno, 65).

33. Theoretisch und praktisch bedeutsam ist zweifellos auch die Feststellung Pius' XI.: "Außerachtlassung des zugleich sozialen und individualen Charakters der menschlichen Arbeit verunmöglicht daher wie ihre gerechte Wertung, so ihre Abgeltung zum Gleichwert" (Quadragesimo Anno, 69). Deshalb verlangt die Gerechtigkeit, daß man bei der Bemessung des Arbeitslohnes außer dem Bedarf des einzelnen Arbeiters und seiner Familie auch der Lage des Betriebs Rechnung trägt, in dem der Arbeiter beschäftigt ist, sowie umfassend den Erfordernissen "der allgemeinen Wohlfahrt" (Quadragesimo Anno, 74).

34. Kommunismus und Christentum, so erklärt der Papst, widersprechen sich radikal. Aber auch die Lehre der wohl eine mildere Richtung vertretenden Sozialisten sei für Katholiken durchaus unannehmbar. Aus ihrer Auffassung ergebe sich nämlich zunächst eine rein diesseitige Sicht der gesellschaftlichen Ordnung, und darum eine ausschließliche Hinordnung derselben auf das irdische Wohlergehen; auch beeinträchtige die einseitig auf die Gütererzeugung ausgerichtete Gestaltung der Gesellschaft die menschliche Freiheit unerträglich, zumal man es am rechten Verständnis für wahre gesellschaftliche Autorität fehlen lasse.

35. Es entgeht Pius XI. nicht, daß sich in den vierzig Jahren seit Erscheinen des Leoschen Schreibens die geschichtliche Situation grundlegend geändert hat. Das zeigt sich unter anderem darin, daß der freie Wettbewerb sich schließlich kraft einer inneren Gesetzlichkeit selbst fast ganz aufgehoben hatte. Diese habe zu einer ungeheuren Konzentration des Reichtums und damit maßloser Herrschaftsgewalt in den Händen weniger geführt, "die sehr oft gar nicht Eigentümer, sondern Treuhänder oder Verwalter anvertrauten Gutes sind, über das sie mit geradezu uneingeschränkter Machtvollkommenheit verfügen" (Quadragesimo Anno, 105).

36. Der Papst bemerkt: "An die Stelle der freien Marktwirtschaft trat die Vermachtung der Wirtschaft. Das Gewinnstreben steigerte sich zum zügellosen Machtstreben. Dadurch kam in das ganze Wirtschaftsleben eine furchtbare grauenerregende Härte" (Quadragesimo Anno, 109). Sie lieferte im Ergebnis die staatliche Gewalt der Selbstsucht der Mächtigeren aus und mündete im internationalen Finanzimperialismus.

37. Um dieser Entwicklung der Dinge zu begegnen, verweist der auf ein denkwürdiges Ereignis hinzuweisen, das in den Annalen der Papst auf folgende Leitsätze: Die Welt der Wirtschaft muß wieder zur Achtung vor der sittlichen Ordnung zurückkehren, das Einzel- oder Gruppeninteresse muß wieder in Einklang kommen mit dem Gemeinwohl. Das verlangt, so fordert Unser Vorgänger, zunächst die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung durch auf den wirtschaftlichen und beruflichen Raum bezogene Sozialgebilde eigenen Rechtes, die keine Staatsschöpfungen sein dürfen; ferner die Wiederherstellung der Hoheitsfunktion der staatlichen Gewalt, damit sie nicht die Sorge für das Gemeinwohl zu kurz kommen läßt; endlich fordert der Papst gemeinsame Beratungen zwischen den Staaten und Zusammenarbeit auf Weltebene, auch zum Zweck des wirtschaftlichen Wohles der Völker.

38. Die wesentlichen Grundgedanken des Rundschreibens Pius' XI. lassen sich vor allem auf zwei zurückführen. Der erste ist dieser: Oberster Maßstab in der Wirtschaft darf unter keinen Umständen das Einzel- und Gruppeninteresse sein; auch nicht der zügellose Wettbewerb oder die hemmungslose Macht des Stärkeren, das nationale Prestige oder der Machtwille der Nation oder irgendein derartiger Maßstab.

39. Herrschen müssen in allen wirtschaftlichen Unternehmungen vielmehr Gerechtigkeit und Liebe als die obersten Gesetze sozialen Verhaltens.

40. Der zweite Grundgedanke ist wohl: Zu fordern ist der Ausbau einer innerstaatlichen und internationalen Rechtsordnung mit einem Einrichtungen, öffentlicher und freier, das Ganze beseelt von der sozialen Gerechtigkeit. In ihr müssen die in der Wirtschaft Tätigen ihr eigenes Interesse mit dem Gemeinwohl harmonisch vereinigen können.

Die Rundfunkbotschaft von Pfingsten 1941

41. Aber auch Unser Vorgänger Pius XII. Hat zur Klärung der sozialen Pflichten und Rechte nicht wenig beigetragen. Am heiligen Pfingstfest, dem 1Juni1941, erging von ihm eine Rundfunkbotschaft an die ganze Welt, "um die Aufmerksamkeit der katholischen Welt Kirche mit goldenen Lettern aufgezeichnet zu werden verdient: auf das Erscheinen von Leos XIII. grundlegendem sozialem Lehrschreiben Rerum Novarum vor fünfzig Jahren am 15. Mai 1891" (Pfingstbotschaft vom 1.6.1941) und "um dem Allmächtigen demütigen und tief empfundenen Dank abzustatten für die Gabe, die er vor fünfzig Jahren mit jenem Rundschreiben seines Stellvertreters auf Erden seiner Kirche schenkte, um ihn zu preisen für das erfrischende Geisteswehen, das er von ihr stärker und immer stärker über die ganze Menschheit ausströmen ließ" (ebd.).

42. In der Rundfunkbotschaft betont der Papst: "Zum unanfechtbaren Geltungsbereich der Kirche gehört es... darüber zu befinden, ob die Grundlagen der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung mit der ewig gültigen Ordnung übereinstimmen, die Gott, der Schöpfer und Erlöser, durch Naturrecht und Offenbarung kundgetan hat" (ebd.). Er bestätigt die bleibende Bedeutung des Rundschreibens Rerum Novarum und seine unerschöpfliche Fruchtbarkeit. Er ergreift die Gelegenheit, "zu drei Grundwerten des Gemeinschafts- und Wirtschaftslebens weitere Richtlinien sittlichen Gehalts zugeben. Die drei Grundwerte, die sich gegenseitig bedingen, durchdringen und fördern, sind die Nutzung der Erdengüter, die Arbeit und die Familie" (ebd.).

43. Was das erste angeht, so stellt Unser Vorgänger fest, daß das Recht jedes Menschen, materielle Güter zu seinem Lebensunterhalt zu nutzen, einen Vorrang hat vor jedem andern Recht wirtschaftlichen Inhalts, also auch vor dem Recht auf Privateigentum. Gewiß gründet, so gibt Unser Vorgänger zu bedenken, auch das Recht auf Privateigentum in der menschlichen Natur. Nach der objektiven, von Gott eingerichteten Ordnung kann das Recht auf Eigentum sich nicht als Hindernis entgegenstellen. um die Erfüllung "der unumstößlichen Forderung" zu vereiteln, ",daß die Güter, die Gott für die Menschen insgesamt schuf, im Ausmaß der Billigkeit nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Liebe allen zuströmen'" (ebd.).

44. Mit Beziehung auf die Arbeit greift Pius XII. einen Gedanken aus dem Rundschreiben Leos auf und betont, daß sie gleichzeitig eine Pflicht und ein Recht der Einzelmenschen ist. Folglich kommt es auch ihnen in erster Linie zu, ihre gegenseitigen Beziehungen im Arbeitsverhältnis zu regeln. Nur in dem Fall, daß die Beteiligten ihre Aufgabe nicht erfüllen wollen oder nicht erfüllen können, "ist es Aufgabe des Staates, einzugreifen in den Einsatz wie in die Verteilung der Arbeit auf die Art und in dem Maße, wie es die Wahrung des wohlverstandenen Gemeinwohls verlangt" (ebd.).

45. Zur Familie übergehend, weist der Papst darauf hin, welche Bedeutung das Privateigentum an den materiellen Gütern als Lebensraum der Familie habe; es soll "dem Familienvater die nötige Freiheit und Unabhängigkeit sichern, deren er bedarf, um die vorn Schöpfer selbst ihm auferlegten Pflichten hinsichtlich des leiblichen, geistigen und religiös-sittlichen Wohl es der Familie erfüllen zu können" (ebd.). Ebendarin gründet auch das Recht der Familie auszuwandern. Unser Vorgänger mahnt darum die verantwortlichen Lenker der Staaten, die die Auswanderung freigeben, wie jener, die neue Menschen aufnehmen, "alle etwa möglichen Hindernisse eines wirklichen Vertrauens zwischen dem Heimatland und dem der Einwanderung zu beseitigen" (ebd.). Geschehe das, so ergebe sich daraus für beide Völker ein bedeutsamer wirtschaftlicher und kultureller Fortschritt.

Neue Wandlungen

46. Wenn schon Pius XII. die Zeit der von ihm begangenen Gedenkfeier gegenüber früher erheblich verändert fand, so hat sich die Lage in diesen letzten zwanzig Jahren erneut und grundlegend gewandelt; und dies nicht nur innerhalb der einzelnen Staaten, sondern auch im Verhältnis der Staaten zueinander.

47. Betrachten wir den Bereich der Wissenschaft, der Technik und der Wirtschaft, so stehen hier heute vor allem diese neuen Gegebenheiten: die Entdeckung der Atomkraft; ihre erste Anwendung zu Kriegszwecken, dann ihre täglich wachsende Nutzung für friedliche Zwecke; die fast unbegrenzten Möglichkeiten der Herstellung synthetischer Stoffe durch die Chemie; die immer mehr zunehmende Anwendung der Automation in der Gütererzeugung und in den Dienstleistungen; die Modernisierung der Landwirtschaft; das fast völlige Schwinden der Entfernungen zwischen den Völkern im Nachrichtenwesen, vor allem durch Rundfunk und Fernsehen; das rasch wachsende Tempo im gesamten Verkehr; schließlich unser Vorstoß in den Weltraum.

48. Wenden wir uns dem gesellschaftlichen Bereich zu, so stellen wir heute fest: erweiterte Leistungen der Sozialversicherungen in einigen wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern; die Einführung umfassender Systeme sozialer Sicherheit; in den Arbeiterorganisationen ein wachsendes Bewußtsein der wesentlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge; eine allgemeine Hebung der Elementarbildung in vielen Ländern; die Ausdehnung des Wohlstandes auf immer breitere Schichten der Bevölkerung; die wachsende Beweglichkeit des Menschen zwischen den einzelnen Industriezweigen und die ständige Verminderung des Unterschieds zwischen den verschiedenen Schichten; die wachsende Anteilnahme des einfachen Mannes an den Ereignissen in der ganzen Welt. Gleichzeitig wachsen mit dem mächtigen Fortschritt der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation in einer zunehmenden Zahl von Staaten auch täglich offenkundiger werdende Spannungen; so zwischen der Landwirtschaft, der Industrie und den Dienstleistungsgewerben; zwischen wirtschaftlich verschieden gut gestellten Gebieten innerhalb des gleichen Landes; endlich auf Weltebene die Spannungen zwischen wirtschaftlich unterschiedlich entwickelten Völkern.

49. Beim Blick auf den politischen Bereich stellen wir ebenfalls Veränderungen fest. In vielen Ländern beteiligt die Demokratisierung eine wachsende Zahl von Bürgern aller sozialen Schichten an der politischen Verantwortung. Immer weiter, immer tiefer greifen die Regierungen in Wirtschaft und Gesellschaft ein. Nach dem Untergang der Kolonialherrschaft erreichten die Völker Asiens und Afrikas ihre politische Selbständigkeit; es wachsen die Verflochtenheiten der Völker untereinander und damit die Abhängigkeit der Völker voneinander; es entstehen und entwickeln sich auf Weltebene immer weitere überstaatliche Organisationen und Gremien wirtschaftlich er, sozialer oder kultureller Art, mit dem Ziel, das Wohl der weltweiten Völkergemeinschaft zu gewährleisten.

50. Im Blick auf diese Vorgänge schien es Uns als Unsere Pflicht, die von Unsern großen Vorgängern entzündete Flamme unauslöschlich lebendigzuhalten und alle aufzufordern, von ihr aus Licht und Antrieb zu empfangen für gegenwartsgerechte Lösungen der sozialen Frage. Darum möchten Wir dieses Rundschreiben nicht nur dem verdienten Gedenken an das Rundschreiben Leos widmen, sondern auch angesichts der veränderten Lage der Welt die von Unsern Vorgängern dargelegten Weisungen bekräftigen und klärend weiterführen. Wir möchten zugleich aber auch die Lehre der Kirche im Hinblick auf die neuen und ernsten Anliegen der Gegenwart nach verschiedenen Seiten entfalten.

II.

KLARSTELLUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN
ZUR LEHRE VON
RERUM NOVARUM

Persönliche Initiative und staatlicher Eingriff in die Wirtschaft

51. Von vornherein ist festzuhalten: Im Bereich der Wirtschaft kommt der Vorrang der Privatinitiative der einzelnen zu, die entweder für sich allein oder in vielfältiger Verbundenheit mit andern zur Verfolgung gemeinsamer Interessen tätig werden.

52. Aber aus den bereits von Unsern Vorgängern angeführten Gründen bedarf es in der Wirtschaft auch des tätigen Eingreifens der staatlichen Gewalt, um in der rechten Weise die Wohlstandssteigerung zu fördern, so daß mit ihr zugleich ein sozialer Fortschritt verbunden ist und sie so allen Bürgern zustatten kommt.

53. Dieses staatliche Eingreifen, das fördert, anregt, regelt, Lücken schließt und Vollständigkeit gewährleistet, findet seine Begründung in dem "Subsidiaritätsprinzip" (Quadragesimo Anno, 78), sowie es Pius XI. in dem Rundschreiben Quadragesimo Anno ausgesprochen hat: "Fest und unverrückbar bleibt jener oberste Grundsatz der Sozialphilosophie, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die rechte Ordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär: sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen" (Quadragesimo Anno, 79).

54. Es ist wahr, die Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis und Produktionstechnik geben augenscheinlich der staatlichen Führung heute in umfassenderem Maß als früher Möglichkeiten an die Hand, Spannungen zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen, zwischen den verschiedenen Gebieten ein und derselben Nation wie zwischen den verschiedenen Nationen auf Weltebene zu mildern; die aus den Konjunkturschwankungen der Wirtschaft sich ergebenden Störungen zu begrenzen und durch vorbeugende Maßnahmen den Eintritt von Massenarbeitslosigkeit wirksam zu verhindern. Darum ist von der staatlichen Führung, die für das Gemeinwohl verantwortlich ist, immer wieder zu fordern, daß sie sich in vielfältiger Weise, umfassender und planmäßiger als früher, wirtschaftspolitisch betätigt und dafür angepaßte Einrichtungen, Zuständigkeiten, Mittel und Verfahrensweisen ausbildet.

55. Immer aber muß dabei festgehalten werden: Die Sorge des Staates für die Wirtschaft, so weit und so tief sie auch in das Gemeinschaftsleben eingreift, muß dergestalt sein, daß sieden Raum der Privatinitiative der einzelnen Bürger nicht nur nicht einschränkt, sondern vielmehr ausweitet, allerdings so, daß die wesentlichen Rechte jeder menschlichen Person gewahrt bleiben. Zu diesen ist zunächst das Recht und die Pflicht der einzelnen zu zählen, in der Regel sich und ihre Angehörigen selbst mit dem Lebensunterhalt zu versorgen. Das besagt: daß es überall in der Wirtschaft einem jeden nicht nur möglich, sondern leicht gemacht werden muß, erwerbstätig zu sein.

56. Übrigens macht die geschichtliche Entwicklung selbst immer einsichtiger: Ein geordnetes und gedeihliches Zusammenleben der Menschen ist einfach nicht möglich, ohne daß die Bürger und die politische Führung in der Wirtschaft zusammenwirken; das erfordert einträchtige gemeinsame Anstrengung derart, daß der Beitrag beider den Erfordernissen des Gemeinwohls je nach den wechselnden Verhältnissen möglichst gut entspricht.

57. In der Tat belehrt uns die ständige Erfahrung. Wo die Privatinitiative der einzelnen fehlt, herrscht politisch die Tyrannei; da geraten aber auch manche Wirtschaftsbereiche ins Stocken; da fehlt es an tausenderlei Verbrauchsgütern und Diensten, auf die Leib und Seele angewiesen sind; Güter und Dienste, die zu erlangen in besonderer Weise die Schaffensfreude und den Fleiß der einzelnen auslöst und anstachelt.

58. Wo umgekehrt in der Wirtschaft die gebotene wirtschaftspolitische Aktivität des Staates gänzlich fehlt oder unzureichend ist, kommt es schnell zu heilloser Verwirrung. Da herrscht die freche Ausbeutung fremder Not durch von Skrupeln wenig gehemmte Stärkere, die sich - leider - allzeit und allenthalben breitmachen wie Unkraut im Weizen.

Die gesellschaftliche Verflechtung

Ursprung und Umfang der Erscheinung

59. Zu den für unsere Zeit kennzeichnenden Merkmalen gehört zweifellos die wachsende Zahl gesellschaftlicher Verflechtungen, dieses täglich dichter werdende Netz sozialer Beziehungen zwischen den Menschen, die ihr Leben und Wirken durch eine Fülle von Organisationen bereichert haben, teils privatrechtlicher, teils öffentlich-rechtlicher Art. Das hat seinen Grund in einer Mehrzahl von zeitgeschichtlichen Umständen; zum Beispiel im wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, in der gesteigerten Ergiebigkeit der Wirtschaft, in der gehobenen Lebenshaltung.

60. Diese im gesellschaftlichen Leben zu beobachtenden Tendenzen sind einerseits Anzeichen, anderseits aber auch Ursache dafür, daß der Staat mehr und mehr in Bereiche eindringt, die zum Persönlichsten des Menschen gehören und darum von höchster Bedeutung, aber auch ernsten Gefährdungen ausgesetzt sind. Als Beispiel seien genannt: Gesundheitswesen, Unterricht und Erziehung der jungen Generation, Berufsberatung, Mittel und Wege der Rehabilitation und Wiedereingliederung der verschiedenen Gruppen von Behinderten. Eben diese Tendenzen sind aber auch teils Ergebnis, teils Ausdruck eines sozusagen unwiderstehlichen Strebens der menschlichen Natur, des Strebens, sich mit andern zusammenzutun, wenn es darum geht, Güter zu erlangen, die von den einzelnen begehrt werden, jedoch die Möglichkeiten und Mittel der einzelnen übersteigen. Dieses Streben führt, vor allem in der jüngsten Gegenwart, zu einer reichen Vielfalt von Verbänden, Vereinigungen, Einrichtungen mit wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller, unterhaltender, sportlicher, beruflicher und politischer Zielsetzung sowohl im nationalen Raum wie auf Weltebene.

61. Zweifellos bringt der so verstandene Vergesellschaftungsprozeß mancherlei Vorteile. So kann zahlreichen Rechtsansprüchen der Person Genüge geschehen, insbesondere solchen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Natur, zum Beispiel auf Deckung des lebensnotwendigen Bedarfs, auf Gesundheitspflege, auf erweiterten und vertieften Grundunterricht, auf eine angemessene Fachausbildung, auf Wohnung, Arbeit, auf gebührende Freizeit und angemessene Erholung. Hinzu kommt, daß die immer vollkommenere Organisation der modernen Nachrichtenmittel, der Presse, des Films, des Rundfunks und Fernsehens den Menschen überall in der Welt gestattet, auch an weit entfernt sich abspielenden Ereignissen unmittelbaren Anteil zu nehmen.

62. Aber dieser täglich fortschreitende und wechselvolle Vergesellschaftungsprozeß läßt in vielen Bereichen auch die Vorschriften und Bindungen zahlreicher werden, die die wechselseitigen Beziehungen der Menschen regeln wollen. Dadurch wird der den einzelnen zur Verfügung stehende Freiheitsraum mehr und mehr eingeschränkt. Es kommen Mittel zur Anwendung, es entwickeln sich Methoden, es bilden sich Umweltbedingungen, unter denen es für den einzelnen wirklich schwer ist, noch unabhängig von äußeren Einflüssen zu denken, aus eigener Initiative tätig zu werden, in Eigenverantwortung seine Rechte auszuüben und seine Pflichten zu erfüllen, die geistigen Anlagen voll zu betätigen und zu entfalten. Werden also mit fortschreitendem Vergesellschaftungsprozeß die Menschen entpersönlicht werden und aufhören, eigenverantwortlich zu sein? Dem ist entschieden zu widersprechen.

63. Der Vergesellschaftungsprozeß ist ja nicht das Produkt unwiderstehlich wirkender Naturgewalten; er ist vielmehr, wie gesagt, eine Schöpfung des Menschen selbst, freier Wesen also, von Natur auf verantwortliches Handeln angelegt; nichtsdestoweniger sind sie genötigt, die Gesetze einer wirtschaftlichen Entwicklung anzuerkennen und sich einem Fortschritt der Kultur zu fügen; sie sind nicht in der Lage, sich dem Druck ihrer Umwelt vollständig zu entziehen.

64. Deswegen kann und solider Vergesellschaftungsprozeß sich nach unserer Meinung in einer Weise vollziehen, die bei größtmöglicher Nutzung seiner Vorteile doch die mit ihm verbundenen Nachteile vermeidet oder mildert.

65. Um zu diesem erwünschten Ergebnis zu gelangen, müssen die Staatslenker die richtige Auffassung vom Gemeinwohl haben. Dieses umfaßt ja den Inbegriff jener gesellschaftlichen Voraussetzungen, die den Menschen die volle Entfaltung ihrer Werte ermöglichen oder erleichtern. Außerdem halten Wir es für notwendig, daß die leistungsgemeinschaftlichen Gebilde sowie die vielfachen Unternehmungen, in denen der Vergesellschaftungsprozeß sich vorzugsweise abspielt, sich wirklich kraft eigenen Rechtes entwickeln können und daß die Verfolgung ihrer Interessen in Einklang mit dem Gemeinwohl bleibt. Aber nicht weniger notwendig ist, daß diese Sozialgebilde die Gestalt und den Charakter echter Gemeinschaftlichkeit haben, das heißt, daß sie ihre Glieder wirklich als menschliche Personen betrachten und zur aktiven Mitarbeit anhalten.

66. In der Entwicklung der Organisationsform des gesellschaftlichen Zusammenlebens unserer Zeit kommen die Staaten um so leichter zur rechten Ordnung, je mehr ihnen der Ausgleich zwischen zwei Kräften gelingt: einmal den Kräften, über die die einzelnen Bürger und Gruppen verfügen, sich unter Wahrung des Zusammenhalts des Ganzen selbst zu bestimmen; dann der staatlichen Tätigkeit, die die privaten Unternehmungen in geeigneter Weise ordnet und fördert.

67. Solange sich das gesellschaftliche Leben an diese Leitsätze und an die sittliche Ordnung hält, birgt seine Verdichtung nicht naturnotwendig neue Gefahren oder untragbare Belastungen für den einzelnen Menschen in sich; ja man darf sogar hoffen, daß sie nicht nur die Behauptung und Entfaltung der der Person eigentümlichen Anlagen fördert, sondern auch zu einem gedeihlichen Zusammenwachsen der menschlichen Gesellschaft beiträgt. Dieses erwünschte Zusammenwirken ist, wie Unser Vorgänger Pius XI. im Rundschreiben Quadragesimo Anno zu bedenken gibt, eine unerläßliche Voraussetzung dafür, daß den Rechten und Pflichten des gesellschaftlichen Lebens voll Genüge geschehen kann (Quadragesimo Anno, 136/137).

Der Arbeitsentgelt

Gerechtigkeit und Billigkeit als Maßstab

68. Schwerer Kummer bedrückt Uns angesichts der traurigen Tatsache, daß in vielen Ländern und ganzen Erdteilen zahllosen Arbeitern ein Lohn gezahlt wird, der ihnen selbst und ihren Familien wirklich menschenunwürdige Lebensbedingungen aufzwingt. Das hat gewiß zum Teil darin seine Ursache, daß in diesen Gebieten die industrielle Produktionsweise gerade erst eingeführt wurde oder noch nicht ausreichend fortgeschritten ist.

69. In einigen von diesen Ländern steht jedoch zu diesem Zustand äußersten Elends der Mehrzahl der Überfluß und hemmungslose Luxus weniger Reicher in schreiendem und beleidigendem Gegensatz; während in andern Ländern die Menschen übermäßig belastet werden, um in kurzer Zeit den nationalen Reichtum in einem Maße zu steigern, wie es ohne Verletzung von Gerechtigkeit und Billigkeit nun einmal nicht möglich ist; in andern wieder wird ein hoher Anteil des volkswirtschaftlichen Ertrages für ein falsch verstandenes nationales Prestige verschwendet, oder es werden ungeheure Summen für die Rüstung ausgegeben.

70. Hierher gehört auch, daß in den wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern Leistungen von geringerer Bedeutung oder fraglichem Wert nicht selten hohe und höchste Entgelte erzielen, die ausdauernde und werteschaffende Arbeit ganzer Schichten arbeitsamer und ehrbarer Bürger dagegen allzu niedrig und für den Lebensunterhalt unzureichend entgolten wird oder jedenfalls in keinem gerechten Verhältnis zu dem geleisteten Beitrag zum allgemeinen Wohl oder zum Gewinn der betreffenden Unternehmen oder zum Volkseinkommen.

71. Deswegen halten Wir es für Unsere Pflicht, noch einmal einzuschärfen: Wie die Höhe des Arbeitslohnes nicht einfachhin dem freien Wettbewerb überlassen bleiben darf, so darf sie auch nicht vom Stärkeren nach Willkür diktiert werden. Sie muß sich vielmehr unbedingt an den Maßstab von Gerechtigkeit und Billigkeit halten. Dazu ist geboten, dem Arbeiter einen Lohn zu zahlen, der für ihn selbst zu einem menschenwürdigen Leben ausreicht und ihm ermöglicht, die Familienlasten zu bestreiten. Um den Entgelt für die Arbeit gerecht zu bemessen, ist zu berücksichtigen an erster Stelle die produktive Leistung, sodann die wirtschaftliche Lage des Beschäftigung gebenden Unternehmens, weiter die Erfordernisse des volkswirtschaftlichen Gemeinwohls, besonders im Hinblick auf die Vollbeschäftigung, endlich des weltwirtschaftlichen Gemeinwohls, das heißt des Ineinandergreifens einer Vielzahl in ihrer Struktur und in ihrer Größe sehr verschieden gearteter Volkswirtschaften.

72. Die hier angeführten Maßstäbe gelten offenbar immer und überall; wie sie aber auf die konkrete Situation angewendet werden müssen, das kann mit Sicherheit nur bestimmt werden unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Mittel; diese Mittel können bei den einzelnen Ländern nach Menge und Art verschieden sein und sind es auch tatsächlich; und auch in der gleichen Volkswirtschaft können sie mit dem Wechsel der Zeiten schwanken.

Die Angleichung von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt

73. Angesichts der Tatsache, daß sich in der Gegenwart das Wirtschaftsleben der Länder rasch entwickelt, besonders nach dem letzten Weltkrieg, halten Wir es für angebracht, alle auf ein wichtiges Gebot der sozialen Gerechtigkeit aufmerksam zu machen: daß nämlich dem wirtschaftlichen Fortschritt der soziale Fortschritt entsprechen und folgen muß, so daß alle Bevölkerungskreise am wachsenden Reichtum der Nation entsprechend beteiligt werden. Darauf ist zu achten und darauf wirksam hinzuarbeiten, daß die aus der ungleichen Lage sich ergebenden sozialen Spannungen nicht zunehmen, sondern nach Möglichkeit sich vermindern.

74. Mit vollem Recht bemerkt Unser Vorgänger Pius XII.: "Auch die nationale Wirtschaft als die Wirtschaft der in der staatlichen Gemeinschaft verbundenen wirtschaftenden Menschen hat keinen anderen Zweck, als dauernd die materielle Grundlage zu schaffen, auf der sich das volle persönliche Leben der Staatsbürger verwirklichen kann.

Wird dies erreicht und dauernd erreicht, dann ist ein solches Volk in Wahrheit wirtschaftlich reich, eben weil die umfassende Wohlfahrt al1er und somit das persönliche Nutzungsrecht aller an den irdischen Gütern nach dem vom Schöpfer gewollten Zweck verwirklicht ist" (Radioansprache vom 1.6.1941). Daraus ergibt sich, daß der wirtschaftliche Wohlstand eines Volkes weniger zu bemessen ist nach der äußeren Fülle von Gütern, über die seine Glieder verfügen, als vielmehr nach ihrer gerechten Verteilung, so daß alle im Lande etwas davon für die Entfaltung und Vervollkommnung ihrer Persönlichkeit erhalten; denn das ist das Ziel, auf das die Volkswirtschaft ihrer Natur nach hingeordnet ist.

75. Hier muß bemerkt werden, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse vieler Länder den Mittel- und Großbetrieben ein besonders schnelles Wachstum im Wege der Selbstfinanzierung ihrer Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen gestatten. Wo dies zutrifft, könnte den Arbeitern ein rechtmäßiger Anspruch an diese Unternehmen zuzuerkennen sein, den diese einzulösen hätten, vor allem dann, wenn sie im übrigen nicht mehr als den Mindestlohn zahlen,

76. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, was Unser Vorgänger Pius XI. in dem Rundschreiben Quadragesimo Anno aussprach: "Es widerstreitet den Tatsachen, einem der beiden, dem Kapital oder der Arbeit, die Alleinursächlichkeit an dem Ertrag ihres Zusammenwirkens zuzuschreiben; vollends widerspricht es der Gerechtigkeit, wenn der eine oder andere Teil, auf diese angebliche Alleinursächlichkeit pochend, das ganze Erträgnis für sich beansprucht" (Quadragesimo Anno, 53).

77. Der hier angedeuteten Rechtspflicht kann, wie die Erfahrung zeigt, in mehreren Formen Genüge geschehen. Um von anderen zu schweigen, ist heute besonders zu wünschen, daß die Arbeiter in geeigneter Weise in Mitbesitz an ihrem Unternehmen hineinwachsen. Denn heute ist noch mehr als zu der Zeit, da Unser Vorgänger dies aussprach, "mit aller Macht und Anstrengung dahin zu arbeiten, daß (wenigstens) in Zukunft die neugeschaffene Güterfülle nur in einem billigen Verhältnis bei den besitzenden Kreisen sich anhäufe, dagegen in breitem Strom der Lohnarbeiterschaft zufließe" (Quadragesimo Anno, 61).

78. Aber man muß darauf achten, zwischen dem Arbeitslohn und der verfügbaren Gütermenge ein Verhältnis zu wahren, das Rücksicht nimmt sowohl auf das volkswirtschaftliche als auch auf das gesamtmenschheitliche Gemeinwohl.

79. Was das erstere angeht, so sind als Anliegen des volkswirtschaftlichen Gemeinwohls zu nennen: einer möglichst großen Zahl von Arbeitern Beschäftigung zu sichern; zu vermeiden, daß innerhalb der Arbeiterschaft selbst privilegierte Gruppen entstehen; zwischen Löhnen und Preisen ein angemessenes Verhältnis zu wahren; breitesten Kreisenden Zugang zu Gütern und Dienstleistungen eines gehobenen Bedarfs zu erschließen; ein unausgewogenes Verhältnis zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen, das heißt der Industrie, der Landwirtschaft und dem Dienstleistungsgewerbe, wenn schon nicht völlig zu beseitigen, so doch in Grenzen zu halten; zwischen dem steigenden materiellen Wohlstand und den vermehrten Dienstleistungen, besonders den öffentlichen Diensten zugunsten der Allgemeinheit, den rechten Einklang herzustellen; die Verfahren der Gütererzeugung an den Fortschritt von Wissenschaft und Technik nach Kräften anzupassen; schließlich dafür zu sorgen, daß der erreichte Wohlstand und die Kulturstufe nicht nur der Gegenwart, sondern auch kommenden Zeiten zugute kommen.

80. Was das zweite angeht, so gebietet das gesamtmenschheitliche Gemeinwohl, den Wettbewerb der verschiedenen Länder untereinander von unlauteren Machenschaften frei zu halten, vielmehr im wirtschaftlichen Bereich einträchtiges, freundschaftliches und daher gedeihliches Zusammenwirken zu pflegen; schließlich sich an der Entwicklungshilfe zugunsten der wirtschaftlich schwächeren Länder zu beteiligen.

81. Eben diese Forderungen des volkswirtschaftlichen und gesamtmenschheitlichen Gemeinwohls sind selbstverständlich auch bei der Bemessung der Anteile gebührend zu berücksichtigen, die den leitenden Männern der Unternehmen als Entgelt für ihre unternehmerische Leistung oder den Kapitalgebern als Ausschüttungen zufließen.

Forderungen der Gerechtigkeit im Hinblick auf die Unternehmensverfassung

Anpassung an den Menschen

82. Aber nicht nur die Verteilung des Wirtschaftsertrages muß den Forderungen der Gerechtigkeit entsprechen, sondern auch der gesamte Wirtschaftsvollzug. Inder menschlichen Natur selbst ist das Bedürfnis angelegt, daß, wer produktive Arbeit tut, auch in der Lage sei, den Gang der Dinge mitzubestimmen und durch seine Arbeit zur Entfaltung seiner Persönlichkeit zu gelangen.

83. Wenn darum in der Gütererzeugung eine Betriebsordnung gilt und Verfahren zur Anwendung kommen, die der Würde des arbeitenden Menschen zu nahe treten, sein Verantwortungsgefühl abstumpfen oder seine schöpferischen Kräfte lahmlegen, so widerspricht eine solche Art des Wirtschaftens doch wohl der Gerechtigkeit; das gilt selbst dann, wenn der Güterausstoß sehr hoch liegt und die Verteilung nach Recht und Billigkeit erfolgt.

Eine praktische Richtlinie

84. Es ist unmöglich, ein für allemal die Art des Wirtschaftens zu bestimmen, die am besten der Menschenwürde entspricht, die am besten im Menschen das Verantwortungsbewußtsein für seine Arbeit zu wecken vermag. immerhin gibt unser Vorgänger Pius XII. folgenden praktischen Wink: "Zum selben Zweck müssen die kleineren und mittleren Besitzstände in der Landwirtschaft, in Handwerk und Gewerbe, in Handel und Industrie garantiert und gefördert werden; die genossenschaftlichen Vereinigungen sollen ihnen die Vorteile des Großunternehmens verschaffen; und wo sich die Großunternehmung noch heute als produktionsfähiger erweist, soll die Möglichkeit geboten werden, den Arbeitsvertrag durch einen Gesellschaftsvertrag mildernd zu ergänzen" (Radioansprache vom 1.9.1944).

Der handwerkliche und genossenschaftliche Betrieb

85. Im Interesse des Gemeinwohls und im Rahmen des technischen Fortschritts sind der handwerkliche Betrieb und der landwirtschaftliche Familienbetrieb zu schützen und zu fördern, aber auch die genossenschaftlichen Unternehmen, insbesondere diejenigen, die darauf angelegt sind, den beiden ersteren Hilfsstellung zu leisten.

86. Vom landwirtschaftlichen Betrieb soll später die Rede sein. Hier halten Wir einige Bemerkungen über den Handwerksbetrieb und über die Genossenschaften für angebracht.

87. Zunächst sei die Bemerkung vorausgeschickt: um lebensfähig sein zu können, müssen diese Betriebe und Genossenschaften sich ständig - in Ausstattung und Verfahren - den Ansprüchen der Gegenwart anpassen. Diese ergeben sich einmal aus dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, dann aus den wechselnden Bedürfnissen und Ansprüchen der Menschen. Um diese Anpassung haben die Handwerker und die Mitglieder der Genossenschaften in erster Linie sich selbst zu bemühen.

88. Beide bedürfen deshalb einer guten Allgemein- und Fachausbildung. Sie müssen sich ferner in entsprechenden Berufsorganisationen zusammenschließen. Ebenso muß aber auch der Staat eine geeignete Schulpolitik, Steuerpolitik, Kreditpolitik und Sozialpolitik betreiben.

89. Diese Sorge des Staates für das Handwerk und die Genossenschaften ist auch deshalb gerechtfertigt, weil diese wertechte Güter schaffen und zum kulturellen Fortschritt beitragen.

90. Und so ergeht aus väterlichem Herzen an Unsere geliebten Söhne auf der ganzen Welt, die in handwerklichen und genossenschaftlichen Betrieben tätig sind, die Mahnung, sie sollen eine hohe Auffassung von der Bedeutung ihrer Arbeit für ihr ganzes Land haben. Diese Arbeit soll in allen Volksschichten den Sinn für verantwortliche Berufserfüllung und den Geist der Solidarität wecken; sie soll die Menschen auch zu Qualitätsleistungen anspornen.

Verantwortliche Mitarbeit der Arbeiter im Mittel- und Großbetrieb

91. Wie schon Unser Vorgänger sind auch Wir der Meinung, daß die Arbeiter mit Recht aktive Teilnahme am Leben des sie beschäftigenden Unternehmens fordern. Wie diese Teilnahme näher bestimmt werden soll, ist wohl nicht ein für allemal auszumachen. Das ergibt sich vielmehr aus der konkreten Lage des einzelnen Unternehmens. Diese ist keineswegs überall gleich, sie kann sogar in demselben Unternehmen rasch und grundlegend wechseln. In jedem Fall aber sollten die Arbeiter an der Gestaltung der Angelegenheiten ihres Unternehmens aktiv beteiligt werden. Das gilt sowohl für private als auch für öffentliche Unternehmen. Das Ziel muß in jedem Fall sein, das Unternehmen zu einer echten menschlichen Gemeinschaft zu machen; diese muß den wechselseitigen Beziehungen der Beteiligten bei aller Verschiedenheit ihrer Aufgaben und Pflichten das Gepräge geben.

92. Das erfordert im gegenseitigen Verhältnis von Arbeitgebern, leitenden Angestellten und Arbeitern im Betrieb Zusammenarbeit, Achtung voreinander und Wohlwollen; alle müssen zum gemeinsamen Werk mit ehrlichem und innerlichem Einsatz all ihrer Kräfte zusammenwirken; sie sollen ihre Arbeit nicht nur als Mittel des Erwerbs auffassen, sondern auch als Pflichterfüllung und Dienst an der Gemeinschaft. Das bedeutet aber: Bei der Erledigung der Angelegenheiten und beim Ausbau des Unternehmens sollte auch die Stimme des Arbeiters gehört und seine Mitverantwortung angesprochen werden. Unser Vorgänger Pius XII. sagte mit Recht: "Anderseits verlangt die wirtschaftliche und soziale Funktion, die jeder Mensch erfüllen möchte, daß die Tätigkeit die der einzelne entfaltet, nicht völlig dem Willen eines anderen untergeordnet sei" (Ansprache vom 8.10.1956). Zweifellos muß ein Unternehmen, das der Würde des Menschen gerecht werden will, auch eine wirksame Einheitlichkeit der Leitung wahren; aber daraus folgt keineswegs, daß wer Tag für Tag in ihm arbeitet, als bloßer Untertan zu betrachten ist, dazu bestimmt, stummer Befehlsempfänger zu sein, ohne das Recht, eigene Wünsche und Erfahrungen anzubringen; daß er bei Entscheidungen über die Zuweisung eines Arbeitsplatzes und die Gestaltung seiner Arbeitsweise sich passiv zu verhalten habe.

93. Hier ist ein weiterer Gedanke angebracht: Die weitergehende Verantwortung, die heute in verschiedenen Wirtschaftsunternehmen den Arbeitern übertragen werden soll, entspricht durchaus der menschlichen Natur; sie liegt aber auch im Sinn der geschichtlichen Entwicklung von heute in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat.

94. Gewiß bestehen auch zu unserer Zeit in Wirtschaft und Gesellschaft noch schwere Mißverhältnisse, die im Widerspruch zu Gerechtigkeit und zur Menschlichkeit stehen; im ganzen Bereich der Wirtschaft machen sich Irrtümer geltend, die ihren Ablauf, ihre Zielsetzungen, ihre Struktur und ihre Funktionen schwer in Mitleidenschaft ziehen; niemand aber kann den bedeutenden Fortschritt der modernen Wirtschaftsverfahren leugnen, die der wissenschaftliche und technische Fortschritt ausgelöst hat, und ihr im Vergleich zur Vergangenheit rascheres Wachstum. Vom Arbeiter verlangt das heute erhöhte Geschicklichkeit und längere Erfahrung. Darum braucht er eine reichere Ausstattung mit Arbeitsmitteln, aber auch Zeit für eine entsprechende Ausbildung als Facharbeiter wie auch Gelegenheit für Weiterbildung und religiös-sittliche Gesamtbildung.

95. Unter diesen Umständen kann den Jugendlichen mehr Zeit gelassen werden für ihre Allgemeinbildung und berufliche Lehre.

96. So werden die Voraussetzungen dafür verwirklicht, daß die Arbeiter in der Lage sind, in ihren Unternehmen verantwortungsvollere Aufgaben zu übernehmen. Auch für den Staat ist es von nicht geringer Bedeutung, daß in allen Schichten sich das Bewußtsein verstärkt, für das Gemeinwohl mitverantwortlich zu sein.

Mitwirken der Arbeiter auf allen Ebenen

97. Offenkundig erleben die Arbeiterorganisationen in unserer Zeit einen mächtigen Aufschwung und haben ganz allgemein auf nationa1er und internationaler Ebene eine anerkannte Rechtsstellung. Sie treiben die Arbeiter nicht mehr in den Klassenkampf, sondern leiten sie zu sozialer Partnerschaft an. Dazu dienen vor allem die Gesamtarbeitsverträge zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden. Wir möchten darauf hinweisen, wie notwendig oder mindestens höchst angemessen es ist, daß die Arbeiterschaft Gelegenheit hat, ihre Meinung und ihr Gewicht auch über die Grenzen des Unternehmens hinaus geltend zu machen, und zwar in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.

98. Der Grund dafür ist vor allem dieser: Wenn auch ein einzelnes Wirtschaftsunternehmen noch so groß, ergiebig und für das ganze Land bedeutsam ist, so steht es doch in engstem Zusammenhang mit dem Allgemeinzustand von Wirtschaft und Gesellschaft in dem betreffenden Land; seine eigene günstige Lage ist dadurch bedingt.

99. Über das zu entscheiden, was den allgemeinen Stand der Wirtschaft fördert, ist nicht Sache der einzelnen Wirtschaftssubjekte, sondern liegt bei der staatlichen Führung und bei jenen nationalen und übernationalen Institutionen, die für bestimmte Wirtschaftsbereiche zuständig sind. Daher erweist es sich als angemessen oder notwendig, daß an den staatlichen Stellen und in diesen Institutionen außer den Unternehmern und deren Beauftragten auch die Arbeiter vertreten sind oder diejenigen, die bestellt sind, die Rechte, Ansprüche und Interessen der Arbeiter wahrzunehmen.

100. So versteht es sich, daß Unser Gedenken und Unser väterliches Wohlwollen sich den verschiedenen Berufsorganisationen und Gewerkschaften zuwenden, die, von christlichem Gedankengut beseelt, in den verschiedenen Erdteilen am Werke sind. Wir wissen, wie schwierig der Einsatz Unserer geliebten Söhne war, wissen aber auch um ihren Erfolg, wenn es galt, im nationalen Bereich oder auf Weltebene die Rechte der Arbeiter wahrzunehmen und deren wirtschaftliche und kulturelle Lage zu heben.

101. Darüber hinaus möchten Wir anerkennend darauf hinweisen, wie verdienstlich diese Arbeit ist. Ihr Wert bestimmt sich nicht nach dem unmittelbaren, sichtbaren Erfolg; wirkt sie doch in die ganze Welt der menschlichen Arbeit hinein - überallhin verbreitet sie die rechten Maßstäbe christlichen Denkens und Handelns und den Geist der christlichen Religion.

102. Mit dieser väterlichen Anerkennung wollen Wir auch jene geliebten Söhne auszeichnen, die, von christlichen Grundsätzen durchdrungen, ausgezeichnete Arbeit in anderen Berufsorganisationen und Gewerkschaften leisten, die sich vom natürlichen Sittengesetz leiten lassen und die religiös-sittliche Freiheit ihrer Mitglieder achten.

103. An dieser Stelle können Wir es nicht unterlassen, von Herzen Unseren Glückwunsch und Unsere Hochachtung der Internationalen Arbeits-Organisation (IAO) auszusprechen. Seit vielen Jahren leistet sie mit Geschick und Erfolg ihren wertvollen Beitrag dazu, im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu verwirklichen. Eine solche Ordnung der Dinge gewährleistet auch die gebührende Anerkennung der Rechte der Arbeiter.

Das Privateigentum

Die veränderte Lage

104. Augenscheinlich vollzieht sich in jüngster Zeit gerade bei den größten wirtschaftlichen Unternehmen eine immer schärfere Scheidung der Funktionen hier der Kapitaleigner, dort des Managements. Daraus erwachsen der staatlichen Führung recht schwierige Aufgaben. Diese hat ja darüber zu wachen, daß die Planungen der Leiter führender Unternehmen, besonders solcher, die für die gesamte Volkswirtschaft von entscheidender Bedeutung sind, nicht in dieser oder jener Hinsicht den Erfordernissen des Gemeinwohls zuwiderlaufen. Diese Schwierigkeiten bestehen, wie die Erfahrung zeigt, unabhängig davon, ob das für die großen Unternehmen notwendige Kapital sich in öffentlicher oder privater Hand befindet.

105. Wir wissen auch, daß heute immer mehr Menschen auf Grund der vielfältigen wirtschafts- und sozialpolitischen Sicherungen unbesorgt und zuversichtlich in die Zukunft blicken können. Früher gründete ihre Zuversicht auf einem wenn auch bescheidenen Vermögen.

106. Heute bemüht man sich vielfach mehr um die Erlernung eines Berufes als um den Eigentumserwerb. Man schätzt das Einkommen, das auf Arbeitsleistung oder auf einem davon abgeleiteten Rechtsanspruch beruht, höher als das Einkommen aus Kapitalbesitz oder daraus abgeleiteten Rechten.

107. Das entspricht vollkommen dem eigentlichen Wesen der Arbeit. Denn diese ist unmittelbarer Ausfluß der menschlichen Natur und deshalb wertvoller als Reichtum an äußeren Gütern, denen ihrer Natur nach nur der Wert eines Mittels zukommt. Diese Entwicklung ist deshalb ein echter Ausdruck menschlichen Fortschritts.

108. Auf Grund dieser wirtschaftlichen Entwicklung sind nun Zweifel darüber entstanden, ob ein von Unseren Vorgängern mit Nachdruck vorgetragener und verfochtener gesellschaftswirtschaftlicher Grundsatz unter den gegenwärtigen Umständen seine Geltung verloren habe oder weniger bedeutsam geworden sei, der Grundsatz nämlich, daß dem Menschen auf Grund seiner Natur das Recht zukommt, Privateigentum, und zwar auch an Produktionsmitteln, zu haben.

Das natürliche Recht auf Eigentum

109. Ein solcher Zweifel ist völlig unbegründet. Denn das Recht auf Privateigentum, auch an Produktionsmitteln, gilt für jede Zeit. Es ist in der Natur der Dinge selbst grundgelegt, die uns belehrt, daß der einzelne Mensch früher ist als die bürgerliche Gesellschaft, und daß diese zielhaft auf den Menschen hingeordnet sein muß. Übrigens würde die Anerkennung des menschlichen Rechts auf wirtschaftliche Privatinitiative gegenstandslos, wollte man dem Menschen nicht zugleich auch die Möglichkeit einräumen, die für die Ausübung dieses Rechts notwendigen Mittel selbst zu bestimmen und anzuwenden. Sowohl die Erfahrung wie die geschichtliche Wirklichkeit bestätigen es: wo das politische Regime dem einzelnen das Privateigentum auch an Produktionsmitteln nicht gestattet, dort wird auch die Ausübung der menschlichen Freiheit in wesentlichen Dingen eingeschränkt oder ganz aufgehoben. Das beweist: das Recht auf Eigentum bildet in der Tat eine Stütze und zugleich einen Ansporn für die Ausübung der Freiheit.

110. Hierin liegt die Erklärung für die Tatsache, daß jene gesellschaftlichen und politischen Verbände und Organisationen, die einen Ausgleich zwischen Freiheit und Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Zusammenleben suchen und bis vor kurzem das Eigentum an Produktionsmitteln ablehnten, heute, durch die soziale Entwicklung belehrt, ihre Meinung merklich geändert haben und dieses Recht durchaus anerkennen.

111. Wir möchten hier auf eine Feststellung verweisen, die Unser Vorgänger Pius XII. getroffen hat: "Wenn also die Kirche den Grundsatz des Privateigentums verteidigt, so verfolgt sie dabei ein hohes ethisch-soziales Ziel. Sie beabsichtigt keineswegs, den gegenwärtigen Stand der Dinge einfachhin und ohne Abstriche zu befürworten, als ob sie darin etwa den Ausdruck des göttlichen Willens sähe, noch grundsätzlich den Reichen und Plutokraten gegenüber dem Armen und Habenichts zu schützen... Worauf die Kirche vielmehr abzielt, das ist, die Einrichtung des Privateigentums zu dem zu machen, was sie nach den Plänen der göttlichen Weisheit und den Anordnungen der Natur sein soll" (Radioansprache vom 1.9.1944). Das Privateigentum muß das Recht des Menschen auf Freiheit schützen und zugleich einen unentbehrlichen Beitrag leisten zum Aufbau der rechten gesellschaftlichen Ordnung.

112. Wir sagten schon, daß in nicht wenigen Ländern in der letzten Zeit die Wirtschaft einen raschen Aufschwung genommen hat. Wenn aber der Ertrag steigt, so verlangen Gerechtigkeit und Billigkeit auch eine im Rahmen des Gemeinwohls mögliche Erhöhung des Arbeitslohnes. Dadurch wird den Arbeitern erleichtert, Ersparnisse zu bilden und ein bescheidenes Vermögen zu erwerben. Es ist deswegen unverständlich, wenn von einigen der naturrechtliche Charakter des Eigentums bestritten wird. Lebt doch das Eigentum von der Fruchtbarkeit der Arbeit und erhält von ihr seine Bedeutung. Es schützt zudem in wirksamer Weise die Würde der menschlichen Person und erleichtert die Ausübung der beruflichen Verantwortung in allen Lebensbereichen. Es fördert die Ruhe und Beständigkeit des menschlichen Zusammenlebens in der Familie und fördert den inneren Frieden und die Wohlfahrt des Landes.

Wirksame Streuung

113. Es genügt jedoch nicht, nur das naturgegebene Recht auf Privateigentum, auch an Produktionsmitteln, zu betonen. Mit gleichem Nachdruck muß alles unternommen werden, damit alle Kreise der Bevölkerung in den Genuß dieses Rechtes gelangen.

114. Pius XII. hat es klar ausgesprochen: "Die Persönlichkeitswürde des Menschen erheischt also das persönliche Nutzungsrecht an den Gütern der Erde als normale und naturgemäße Lebensgrundlage. Dem entspricht die grundsätzliche Forderung des Privateigentums, soweit möglich, für alle" (Weihnachtsbotschaft 1942). Anderseits fordert die Würde der Arbeit auch "die Erhaltung und Vervollkommnung einer Sozialordnung, welche allen Schichten des Volkes die Bildung eines dauerhaften, sei es auch nur bescheidenen Privateigentums ermöglicht" (ebd.).

115. Breitere Streuung des Eigentums ist, wenn jemals, so heute ganz besonders geboten. In einer wachsenden Zahl von Ländern wächst der wirtschaftliche Wohlstand rasch. Bei kluger Anwendung bereits erprobter Verfahrensweisen dürfte es nicht schwer sein, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in diesen Ländern so zu lenken, daß sie den Zugang zu privatem Eigentum erleichtert und verbreitert, beispielsweise zu dauerhaften Gebrauchsgütern, Wohnhaus, Grundstück, Geräten für den handwerklichen oder bäuerlichen Familienbetrieb, in Wertpapieren verbrieften Kapitalanlagen in Groß- und Riesenunternehmen. In sozial und wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern sind da bereits erfreuliche Ergebnisse erzielt.

Öffentliches Eigentum

116. Das eben Gesagte schließt keineswegs aus, daß auch der Staat und andere öffentlich-rechtliche Gebilde rechtmäßig Eigentum besitzen, auch an Produktionsmitteln, ganz besonders dann, wenn "die mit ihnen verknüpfte übergroße Macht ohne Gefährdung des öffentlichen Wohls Privathänden nicht überantwortet bleiben kann" (Quadragesimo Anno, 114).

117. Ja, es scheint ein Merkmal unserer Zeit zu sein, daß das staatliche und sonstige öffentliche Eigentum immer umfangreicher wird. Das hat unter anderem darin Beine Ursache, daß der Staat um des Gemeinwohls willen immer größere Aufgaben übernehmen muß. Aber auch hier will das bereits erwähnte Prinzip der Subsidiarität unbedingt beachtet sein. Nur dann dürfen der Staat und andere öffentlich-rechtliche Gebilde den Umfang ihres Eigentums ausweiten, wenn das richtig verstandene Gemeinwohl dies offenbar verlangt, wobei zu vermeiden ist, das Privateigentum übermäßig zu beschränken oder, was noch schlimmer wäre, ganz zu verdrängen.

118. Wir müssen auch darauf hinweisen, daß wirtschaftliche Unternehmungen des Staates oder anderer öffentlich-rechtlicher Gebilde nur solchen Männern anvertraut werden dürfen, die sich durch besondere Sachkenntnis, durch Charakterfestigkeit und durch großes Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Volksgemeinschaft auszeichnen. Die Tätigkeit dieser Männer ist sorgsam zu überwachen. Es muß verhindert werden, daß innerhalb der staatlichen Verwaltung selbst wirtschaftliche Macht sich in den Händen weniger anhäuft. Das ist unvereinbar mit dem öffentlichen Wohl.

Soziale Funktion und Verpflichtung des Eigentums

119. Unsere Vorgänger haben auch wiederholt erklärt, daß das Recht auf Eigentum zugleich eine soziale Funktion einschließt. Nach dem Willen des Schöpfers sind alle Güter an erster Steile auf die menschenwürdige Versorgung aller hingeordnet. In dem Rundschreiben Rerum Novarum heißt es: "Wem durch Gottes Fügung mehr Güter zuteil wurden, seien es leibliche und materielle Güter oder seien es Güter des Geistes, hat sie empfangen, um sie im Dienste der Vorsehung zu seiner eigenen Vervollkommnung und zum Nutzen der anderen zu gebrauchen. ,Wer Geist besitzt, darf nicht schweigen, wer Reichtum an Gütern besitzt, sehe zu, daß seine Barmherzigkeit nicht erlahme, wer über eine Handfertigkeit verfügt, verwende sein Können zum Besten der Mitmenschen" (Gregor d. Gr.)" (Rerum Novarum, 19).

120. Wie sehr auch in unserer Zeit der Aufgabenbereich des Staates und der öffentlich-rechtlichen Gebilde sich ausgeweitet hat und immer noch mehr ausweitet, so folgt daraus keineswegs, wie manche offenbar meinen, die soziale Funktion des Eigentums sei dadurch überholt. Die soziale Funktion des Eigentums entspringt vielmehr aus dem Eigentumsrecht selbst. Unmittelbar damit sind die jederzeit überaus zahlreichen Härtefälle und verborgenen, aber schwerwiegenden Notstände zu bedenken, denen die noch so vielseitige öffentliche Fürsorge nicht beikommt und denen sie in keiner Weise abhelfen kann. Hier bleibt für private menschliche Hilfsbereitschaft und christliche Caritas immer ein weites Feld. a ist zudem eine Tatsache, daß jene Unternehmungen, bei denen es um ideelle Werte geht, durch die Initiative der einzelnen Personen oder Personengruppen besser gefördert werden als durch öffentliche Organe.

121. Hier scheint noch der Hinweis angebracht, daß die Autorität des Evangeliums das Recht auf Privateigentum eindeutig bestätigt, das nichtsdestoweniger uns Christus den Herrn vor Augen stellt, wie er eindringlich mahnt, die irdischen Güter den Armen zu schenken und sie so in übernatürliche Reichtümer zu verwandeln "Suchet nicht Schätze auf Erden aufzuhäufen, wo Rost und Motten sie verzehren und Diebe sie ausgraben und stehlen. Sammelt euch vielmehr Schätze für den Himmel, wo weder Rost noch Motten sie verzehren noch Diebe sie ausgraben und stehlen" (Mt 6, 19-20). Und der göttliche Meister sieht als ihm selbst erwiesen an, was den Armen getan worden ist. "Wahrlich, ich sage euch, was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25, 40).

III.

NEUE SEITEN
DER SOZIALEN FRAGE

122. Die Entwicklung der geschichtlichen Situation stellt immer klarer heraus: Die Maßstäbe von Gerechtigkeit und Billigkeit müssen nicht nur auf die Beziehungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern angewandt werden, sondern ebenso auch auf die verschiedenen Wirtschaftszweige untereinander und die wirtschaftlich unterschiedlich gestellten Gebiete ein und desselben Landes; das gleiche gilt innerhalb der ganzen menschlichen Gemeinschaft für die verschiedenen wirtschaftlich und gesellschaftlich in verschiedenem Grade entwickelten Länder.

Forderungen der Gerechtigkeit in den Beziehungen zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen

Die Landwirtschaft, ein benachteiligter Bereich

123. Zuerst wollen Wir etwas über die Landwirtschaft sagen. Wir beginnen mit der Feststellung: Der Zahl nach ist die Landbevölkerung, aufs Ganze gesehen, wohl nicht zurückgegangen; dennoch verlassen heute zweifellos nicht wenig bäuerliche Menschen den angestammten Boden und ziehen in dichter besiedelte Räume oder auch in die Großstädte. In fast alten Ländern haben wir die Erscheinung der Landflucht, die manchmal Massencharakter annimmt; daraus erwachsen für ein menschenwürdiges Leben der Bürger nicht leicht zu behebende Schwierigkeiten.

124. Offenbar nimmt mit dem Wachstum und Fortschritt der Wirtschaft der Anteil der landwirtschaftlich erwerbstätigen Bevölkerung ab; dafür wächst die Zahl der in der Industrie und in den übrigen Sektoren Beschäftigten. Wir meinen nun, wer aus der Landwirtschaft in die anderen Wirtschaftszweige abwandert, tut das zwar oft aus Gründen, die mit der Entwicklung der Wirtschaft zusammenhängen; nicht selten aber ist mancherlei anderes mit im Spiel. Vorzugsweise seien genannt: der Wille, aus der Enge herauszukommen, die keine Aufstiegsmöglichkeiten in Aussicht stellt; der Drang nach Erlebnissen und Abenteuern, der die heutige Generation erfaßt hat; die Sucht nach rasch zu erwerbendem Reichtum; der glühende Durst nach freierem Leben und jenen Annehmlichkeiten, wie Räume dichterer Besiedlung und besonders Großstädte sie eben zu bieten haben. Ohne Zweifel verläßt aber die Landbevölkerung auch deshalb die Scholle, weil sie sich fast überall hinter der Entwicklung zurückgeblieben sieht - sowohl was die Arbeitsproduktivität als auch ihre Lebenshaltung angeht.

125. Bei diesem wichtigen Problem, unter dem heute fast alle Länder leiden, ist zunächst zu untersuchen, was sich tun läßt, um die Produktivitätsunterschiede zwischen Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen zu verringern; um die Lebenshaltung der bäuerlichen Bevölkerung an die Lebenshaltung derer anzugleichen, die ihr Einkommen aus Industrie und Dienstleistungen beziehen; schließlich was geschehen kann, um den Minderwertigkeitskomplex der in der Landwirtschaft Beschäftigten gegenüber anderen zu überwinden, sie vielmehr zu überzeugen, daß man auch durch die Landarbeit seine Persönlichkeit entfalten und den Wechselfällen der Zukunft zuversichtlich entgegensehen kann.

126. Es erscheint Uns deshalb angebracht, einige allgemeingültige Leitsätze aufzustellen, die allerdings voraussetzen, daß man sich bei ihrer Anwendung in der Praxis nach dem richtet, was die Umstände der Zeit und des Ortes gestatten oder nahelegen, wenn nicht gar zwingend verlangen.

Gleichstellung in bezug auf die wesentlichen öffentlichen Dienste

127. Besonders müssen alle, vornehmlich aber die Staatsführung darauf hinwirken, daß die Maßnahmen, die allen zugute kommen sollen, auch auf dem Land entsprechend entwickelt werden, z.B. der Wegebau, der Ausbau des Transport- und Kommunikationswesens, die Trinkwasserversorgung, der Wohnungsbau, das Gesundheitswesen, das Volks-, Berufs- und Fachschulwesen; alles, was zur seelischen Erhebung und zur Arbeitsruhe gehört; schließlich alles, was eine zeitgemäße Ausstattung und Ausrüstung des landwirtschaftlichen Betriebes ausmacht. Wo die Landbevölkerung diese für ein angemessenes Leben auf dem Lande erforderlichen Dinge entbehren muß, kommt das wirtschaftliche und soziale Leben dort selbst überhaupt nicht oder allzu langsam voran. Dann setzt eine unaufhaltsame und in ihrem Umfang schwer abschätzbare Landflucht ein.

Schrittweise und ausgeglichene Entwicklung der Gesamtwirtschaft

128. Die Wirtschaft in den einzelnen Ländern sollte sich ferner Schritt für Schritt in rechter Ausgewogenheit ihrer verschiedenen Zweige entfalten. Man muß sich also darum bemühen, zunächst die Landbestellung durch Einsatz moderner Verfahrensweisen zu rationalisieren, in der Anbautechnik, in der Auswahl der Kulturen, in der Ausstattung des landwirtschaftlichen Betriebes mit Inventar, wie es der allgemeine Stand der Wirtschaft ermöglicht, wenn nicht gar erfordert. Das alles soll nach Möglichkeit so durchgeführt werden, daß man mit der Industrie und den Dienstleistungsgewerben Schritt hält.

129. So wird einerseits die Landwirtschaft eine größere Menge industrieller Erzeugnisse aufnehmen und eine gesteigerte Nachfrage nach Dienstleistungen ausüben; umgekehrt bietet sie selbst dann den beiden anderen Sektoren und dem ganzen Volk Erzeugnisse an, die in Menge und Qualität dem Bedarf der Verbraucher entgegenkommen; im Ergebnis trägt die Landwirtschaft damit zur Erhaltung der Kaufkraft des Geldes bei, einem der wichtigsten Erfordernisse, um das wirtschaftliche Wachstum in geordneter Bahn zu halten.

130. Folgt man diesen Ratschlägen, so ergeben sich daraus neben anderen auch diese Vorteile: Man kann dann sowohl in den Abwanderungs- als in den Zuwanderungsgebieten die Wanderbewegung der durch die fortschreitende Einführung moderner Arbeitsverfahren in der Landwirtschaft freigesetzten Arbeitskräfte besser überschauen; man kann ihnen eine entsprechende fachliche Ausbildung geben und ihnen so die Umstellung auf andere Berufe erleichtern; man kann ihnen endlich materielle Unterstützung und jede Art von Hilfe zur geistigen und seelischen Vorbereitung bieten, deren es bedarf, um sich in eine neue soziale Umwelt einzugliedern.

Spezifische Wirtschaftspolitik

131. Um ein ausgeglichenes Wachstum der verschiedenen Wirtschaftszweige zu sichern, müssen die staatlichen Stellen, was die Agrarpolitik angeht, in kluger Weise Bedacht nehmen auf Steuern und Abgaben, auf das Kreditwesen, die Sozialversicherung, die Preisbildung, die Förderung weiterverarbeitender Industrien, schließlich auf bessere Ausstattung der bäuerlichen Betriebe mit Inventar.

Besteuerung

132. Was die Besteuerung angeht, so kommt es unter der Rücksicht von Gerechtigkeit und Billigkeit vor allem darauf an, die Lasten entsprechend der unterschiedlichen Steuerkraft der Bürger zu verteilen.

133. Bei der Bemessung der Steuer für die Landwirtschaft gebietet aber ein Erfordernis des Gemeinwohls Rücksichtnahme auf die Tatsache, daß ihre Erträge langsamer einkommen und größeren Wechsel- zur Leistungssteigerung notwendige Kapital aufzubringen.

Zinsgünstige Kapitalzufuhr

134. Unter diesen Umständen ist verständlich, daß die Kapitalbesitzer ihr Kapital lieber in andern Wirtschaftszweigen anlegen als gerade in der Landwirtschaft. Aus dem gleichen Grund können die Landwirte keine hohen Zinsen, für gewöhnlich nicht einmal den Kapitalmarktzins aufbringen, um sich das für den Fortschritt und die laufende Betriebsführung benötigte Kapital zu beschaffen. Aus Gründen des Gemeinwohls müssen daher die staatlichen Stellen für die Landwirtschaft nicht nur eine eigene Kreditpolitik vorsehen; es bedarf eigener Kreditinstitute, die ihr Kapital zu einem tragbaren Zinsfuß zur Verfügung stellen.

Sozialversicherung beziehungsweise soziale Sicherheit

135. Weiterhin scheinen zwei Versicherungssysteme notwendig: eines für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse, das andere für die Landwirte selbst und ihre Familien. a gilt als ausgemacht, daß das Je-Kopf-Einkommen des Landwirts im allgemeinen unter demjenigen der Industriearbeiter und der im Dienstleistungsbereich Beschäftigten liegt. Darum scheint es den Maßstäben der sozialen Gerechtigkeit und Rechtsgleichheit nicht voll zu entsprechen, die landwirtschaftliche Bevölkerung in bezug auf Sozialversicherung oder soziale Sicherheit schlechter zu stellen als die andern Berufsgruppen. Denn die allgemeinen Maßnahmen der Sozialversicherung und Versorgung sollten keine zu großen Unterschiede aufweisen je nach dem Wirtschaftsbereich, in dem die Menschen tätig sind und aus dem sie ihr Einkommen beziehen.

136. Im übrigen können die Maßnahmen der sozialen Sicherheit und der Sozialversicherung viel dazu beitragen, daß das Volkseinkommen sich nach Recht und Billigkeit unter alle verteilt; es ist daher angezeigt, sich ihrer als Mittel zu bedienen, um übergroße Unterschiede der Lebenslagen, die zwischen verschiedenen Volksgruppen bestehen, zu mildern.

Marktordnung

137. Die Eigenart der landwirtschaftlichen Erzeugnisse erfordert, daß man ihre Preise durch Maßnahmen sichert, die im einzelnen von Fachleuten der Wirtschaft auszuarbeiten sind. Am besten sorgen die Beteiligten selber dafür, und das kann billigerweise von ihnen erwartet werden; nichtsdestoweniger darf die Staatsführung sich daran nicht völlig desinteressieren.

138. Dabei darf man eines nicht übersehen: der Preis landwirtschaftlicher Erzeugnisse ist für gewöhnlich viel mehr Entgelt für die Arbeitsmühe des Landmanns als Vergütung von Kapitaleinsatz.

139. Mit vollem Recht lehrt dazu Unser Vorgänger Pius XI. in seinem Rundschreiben Quadragesimo Anno im Hinblick auf das Gemeinwohl: "Hierhin gehört auch das richtige Verhältnis der Löhne untereinander", und fährt fort: "Eng hängt damit wieder zusammen das richtige Verhältnis der Preise für die Erzeugnisse der verschiedenen Wirtschaftszweige, beispielshalber für Agrar- und Industrieprodukte u.a.m." (Quadragesimo Anno, 75).

140. Da nun die landwirtschaftlichen Erzeugnisse vor allem der Befriedigung der wichtigsten Bedürfnisse der Menschen dienen, muß ihr Preis so bemessen sein, daß alle in der Lage sind, sie zu kaufen. Anderseits wäre es offenbares Unrecht, um dessentwillen eine ganze Berufsgruppe, hier die Bauern, wirtschaftlich und sozial schlechter zustellen, indem ihnen die Kaufkraft mangeln würde, das zu einer ehrbaren Lebenshaltung Benötigte zu erwerben. Das widerspräche offensichtlich auch dem Gemeinwohl.

Ergänzung des Einkommens aus Landwirtschaft

141. Es erscheint angebracht, auf dem Lande jene Industrien und Dienstleistungsgewerbe zu fördern, die der Lagerung, Verarbeitung und dem Transport der landwirtschaftlichen Erzeugnisse dienen. Unternehmen weiterer Wirtschafts- und Berufszweige sollten hinzutreten. Auf diese Weise fänden die bäuerlichen Familien Gelegenheit, zusätzliches Einkommen zu erwerben, und dies in der gewohnten Umwelt ihres Lebens und Wirkens.

Strukturelle Agrarpolitik

142. Niemand kann sich vermessen, allgemeingültig die beste Gestaltung der Landwirtschaft (des landwirtschaftlichen Betriebes) festzulegen. Schon innerhalb ein und desselben Landes sind die Verhältnisse dafür viel zu verschieden, noch mehr in den verschiedenen Weltteilen. Wer jedoch die Würde des Menschen und der Familie schon ihrer Natur entsprechend und darüber hinaus im Sinne der christlichen Lehre wertet, dem schwebt hier ein bäuerlicher Betrieb als erstrebenswert vor, der eine echte Personengemeinschaft darstellt, wo die wechselseitigen Beziehungen der Glieder und die ganze Gestaltung des Betriebs den Maßstäben der Gerechtigkeit und der christlichen Lehre entsprechen, dies gilt in besonderer Weise vom bäuerlichen Familienbetrieb. Daher wird man sich mit aller Kraft dafür einsetzen, daß diese begrüßenswerte Betriebsform in der Landwirtschaft in zeitgemäßer Gestalt endlich Wirklichkeit wird.

143. Der Familienbetrieb ist aber nur dann auf die Dauer lebensfähig, wenn er so viel abwirft, wie für eine menschenwürdige und dem Stand der Kultur entsprechende Lebenshaltung der Familie benötigt wird. Um das zu erreichen, müssen die Landwirte über eine gründliche Ausbildung in ihrem Beruf verfügen, sich über den technischen Fortschritt auf dem laufenden halten und eine von Fachleuten ausgeübte Berufsberatung haben. Sie müssen ferner Hilfs- und Förderungswirtschaften genossenschaftlichen Charakters aufbauen, müssen Organisationen beruflicher Interessenvertretung schaffen; müssen sich wirksam ins öffentliche Leben einschalten, sowohl in die Verwaltungsstellen des Landes als auch in die eigentliche Politik.

Die Landwirte - Vorkämpfer ihres eigenen Aufstiegs

144. Bahnbrecher des wirtschaftlichen Aufstiegs, des kulturellen Fortschritts und der sozialen Hebung der Landwirtschaft sollten Unserer Meinung nach diejenigen sein, die es zunächst angeht, die Bauern selbst. Sie müßten von der Überzeugung durchdrungen sein: die Arbeit, die sie tun, hat ihre besondere Ehre; sie vollzieht sich im weiten Raum von Gottes freier Natur; sie gilt vorzugsweise Pflanze und Tier, deren Leben, unerschöpflich in seinen Ausdrucksformen und doch festen Gesetzen gehorchend, immer wieder auf Gott, den Schöpfer, und eine Vorsehung hinweist. Die Arbeit des Bauern versorgt nicht nur die Menschheit mit Nahrungsmitteln aller Art; sie beliefert auch die Industrie mit einer wachsenden Fülle von Rohstoffen.

145. Diese Arbeit ist ausgezeichnet durch die Vielfalt der Leistungen der Physik, Chemie und Biologie, die in ihr zur Anwendung kommen; angesichts der Bedeutung, die deren Anwendung für die Landwirtschaft besitzt, müssen diese unablässig den wechselnden Zeitbedürfnissen angepaßt werden. Nicht genug damit: diese Arbeit hat ihren eigenen Adel, fordert sie doch vom Bauern klare Übersicht über den 3ang der Zeit und bereitwilliges Mitgehen mit ihr: ruhigen Blick in die Zukunft, Wissen um die Bedeutung und Verantwortung des eigenen Landes, entschlossenen und aufgeschlossenen unternehmerischen Sinn.

Solidarität und Zusammenarbeit

146. Hier darf der Hinweis nicht fehlen, daß sich die Landwirte, wie das in jedem andern Wirtschaftszweig geschieht, organisieren müssen. Das gilt besonders für die landwirtschaftlichen Familienbetriebe. Die in der Landwirtschaft Tätigen müssen sich ihresgleichen solidarisch verbunden fühlen und gemeinsam darangehen, Hilfs- oder Förderungsgenossenschaften und Fachverbände ins Leben zu rufen. Diese sind dringend notwendig, um die Bauern in den Genuß der wirtschaftlichen und technischen Fortschritte zu bringen, wie auch um auf die Preisbildung ihrer Erzeugnisse Einfluß zu nehmen. Hinzu kommt, daß durch diese Einrichtungen die Bauern die Gleichstellung mit den übrigen Berufszweigen, die gewöhnlich schon organisiert sind, erreichen. schließlich können sie, wenn sie all das schaffen, den ihrer Bedeutung entsprechenden Einfluß und Gewicht bei der staatlichen Verwaltung gewinnen. Eine Stimme allein verliert sich in unserer Zeit ja, wie man mit Recht sagt, im Wind.

Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl

147. Wenn die Bauern das Gewicht und den Einfluß ihrer Organisation geltend machen wollen, so dürfen sie das, genauso wie die übrigen arbeitenden Schichten, niemals im Widerspruch zur sittlichen Ordnung und zum staatlichen Gesetz tun. Sie müssen vielmehr bestrebt sein, ihre Rechte mit den Rechten und Interessen der übrigen Gruppen im Rahmen des gesamtstaatlichen Gemeinwohls in Einklang zu bringen. Arbeiten die Landwirte selbst nach Kräften an der Erhöhung des Ertrages der Landwirtschaft, dann können sie anderseits mit Fug und Recht verlangen, daß ihre eigenen Anstrengungen seitens des Staates gefördert und ergänzt werden, vorausgesetzt daß sie selbst den rechten Sinn für das Gemeinwohl zeigen und ihrerseits zu dessen Verwirklichung beitragen.

148. An dieser Stelle möchten Wir Unsere Anerkennung all denen unter Unsern Söhnen aussprechen, die sich wo immer in der Welt um die Gründung oder Ausbreitung von Selbsthilfeorganisationen und Genossenschaften der verschiedensten Art bemühen, mit dem Ziel, daß die Landwirtschaft in jedem Lande sich wirtschaftlichen Wohlstands wie auch eines Lebens in Gerechtigkeit und Ehre erfreuen kann.

Berufung und Sendung

149. In der Arbeit des Bauern findet sich alles vereint, was der Würde, der Entfaltung und vollkommenen Bildung der menschlichen Person dient. Darum muß sie als eine gottgegebene Sendung und Berufung aufgefaßt werden, die den Menschen über sich selbst hinausweist. Der Mensch muß diese Arbeit Gott weihen, der in seiner Vorsehung alle Zeiten zum Heil der Menschen lenkt. Endlich muß der Bauer es gewissermaßen zu seiner Aufgabe machen, durch seine Arbeit sein eigenes Menschtum und das seiner Umgebung zu immer höherer Stufe zu erheben.

Ausgleichs- und Förderungsmaßnahmen innerhalb eines Staates

150. Manchmal haben die Bewohner ein und desselben Landes am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung in sehr ungleicher Weise teil; vor allem deswegen, weil der Raum, in dem sie wohnen und arbeiten, wirtschaftlich weiter oder weniger weit entwickelt ist als andere. In solchen Fällen gebieten Gerechtigkeit und Billigkeit der staatlichen Führung, dafür zu sorgen, daß solche Ungleichheiten behoben oder doch gemildert werden. Zu diesem Zweck muß man sich angelegen sein lassen, die wirtschaftlich zurückgebliebenen Gebiete mit jenen öffentlichen Diensten auszustatten, die den zeitlichen und örtlichen Bedürfnissen entsprechen und, soweit möglich, hinter dem allgemein herrschenden Lebensstand Schritt halten. Des weiteren bedarf es wohlüberlegter Maßnahmen, die sich vor allem zu befassen haben mit Arbeitsbeschaffung, mit Lenkung des Wanderungsstroms, mit Lohnbildung, mit Steuer- und Kreditwesen, mit der Finanzierung von Investitionen in denjenigen Gewerbezweigen, die geeignet sind, wieder andere Zweige zu befruchten. Alles das wird dazu beitragen, nicht nur die Arbeiter produktiv zu beschäftigen und die unternehmerische Initiative anzuregen, sondern auch dazu, die örtlichen Hilfsquellen zu erschließen.

151. Aber die staatliche Führung darf nur das anordnen, was dem Gemeinwohl dient. Ihr Bemühen muß sich im Hinblick auf das Gemeinwohl immer darauf richten, Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungsgewerbe sich möglichst im Gleichschritt und in wechselseitiger Abstimmung entwickeln zu lassen. Dabei sollte sie so vorangehen, daß die Bewohner der weniger entwickelten Gebiete, wenn je sich über den erzielten Fortschritt ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse Rechenschaft ablegen, darin ihr eigenes Werk erblicken können. Denn es gehört zur Würde des Staatsbürgers, ich vor allem durch eigene Leistung emporzuarbeiten.

152. So müssen alle diejenigen, die über eigene Mittel und Unternehmungsgeist verfügen, nach Kräften zu diesem Wohlstandsausgleich innerhalb des Landes mitwirken. Nach dem Subsidiaritätsprinzip sollte die öffentliche Hand die Privatinitiative in der Weise fördern und unterstützen, daß sie die von ihr selbst in die Wege geleiteten Unternehmungen sobald als möglich privaten Händen zur Weiterführung überläßt.

Mißverhältnis zwischen Bevölkerung und Boden

153. An dieser Stelle scheint es angebracht, darauf hinzuweisen, welch großes Mißverhältnis in nicht wenigen Ländern zwischen dem Umfang des bebaubaren Landes und der Zahl der Bewohner besteht. Manche Länder sind schwach besiedelt und haben dafür Überfluß an anbaufähigem Land; andere hingegen sind dicht bevölkert und leiden dafür Mangel an anbaufähigem Boden.

154. Daneben finden sich Länder, in denen der Boden zwar einen reichen Ertrag bieten könnte, wo aber die Hauern so primitive und rückständige Methoden der Feldbestellung anwenden, daß der Ertrag nicht ausreicht, um auch nur den lebensnotwendigen Bedarf der Bevölkerung zu decken. Umgekehrt ist in einigen Ländern die Landwirtschaft zu solcher Höchstleistung entwickelt, daß die Überzeugung an landwirtschaftlichen Erzeugnissen geradezu zu einer wirtschaftlichen Last wird.

155. Unter diesen Umständen verlangt schon die Solidarität aller Menschen und erst recht die christliche Brüderlichkeit dringend vielfache praktische Hilfen zwischen den Völkern. Aus einer solchen Hilfe erwächst nicht nur ein reger Austausch an Gütern, an Kapital und Menschen; sie vermindert auch die Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Ländern. Darauf kommen wir noch ausführlich zurück.

156. Es liegt Uns viel daran, offen zu bekunden, wie sehr Wir die Arbeit der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) begrüßen, die sich vor allem die Aufgabe stellt, die Zusammenarbeit zwischen den Völkern zu fördern, um den Landbau in den wirtschaftlich unterentwickelten Ländern zu modernisieren und jenen Völkern zu helfen, denen es an Nahrungsmitteln fehlt.

Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Ausgleich zwischen Völkern verschieden hoher Wirtschaftsstufe

Das Problem unserer Zeit

157. Eine der größten unserer Zeit gestellten Aufgaben ist wohl diese, zwischen den wirtschaftlich fortgeschrittenen und den wirtschaftlich noch in Entwicklung begriffenen Ländern die rechten Beziehungen herzustellen. Während die einen im Wohlstand leben, leiden die andern bittere Not. Wenn nun die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in allen Teilen der Welt heute so eng geworden sind, daß sie sich gleichsam als Bewohner ein und desselben Hauses vorkommen, dann dürfen die Völker, die mit Reichtum und Überfluß gesättigt sind, die Lage jener anderen Völker nicht vergessen, deren Angehörige mit so großen inneren Schwierigkeiten zu kämpfen haben, daß sie vor Elend und Hunger fast zugrunde gehen und nicht in angemessener Weise in den Genuß der wesentlichen Menschenrechte kommen. Dies um so weniger, als die Staaten täglich mehr voneinander abhängig werden und ein dauerhafter und segensreicher Friede nicht gewährleistet ist, wenn die wirtschaftliche und soziale Lage des einen von der des andern allzu stark abweicht.

158. Da Wir alle Menschen als Unsere Söhne lieben, halten Wir es für Unsere Pflicht, hier feierlich zu wiederholen, was Wir schon einmal gesagt haben: "Uns alle gemeinsam trifft die Verantwortung für die Völker, die an Unterernährung leiden." Darum "muß bei den einzelnen, ja überhaupt, und zwar bei allen, ganz besonders aber beiden Wohlhabenden, das Bewußtsein für diese Pflicht geweckt werden" (Ansprache vom 3.5.1959).

159. Es ist leicht einzusehen, und die Kirche hat es immer nachdrücklich eingeschärft: die Pflicht, für Arme und Schwache zu sorgen, spricht von Rechts wegen die Katholiken vor allem deshalb an, weil sie Glieder sind am mystischen Leibe Christi. "Darin haben wir die Liebe Gottes erkannt", sagt der Apostel Johannes, "daß er sein Leben für ins hingab. Auch wir müssen das Leben geben für die Brüder. Wie kann die Liebe Gottes in dem bleiben, der irdisches Gut besitzt, aber ein Herz verschließt, wenn er seinen Bruder Not leiden sieht?" (1 Joh 3,16-17).

160. Darum sehen Wir mit großer Freude, wie wirtschaftlich besser ausgerüstete Länder den weniger gut gestellten helfen, ihre Lage zu bessern.

Nothilfe

161. Wenn offenbar manche Völker Überfluß haben an Nahrungsmitteln, namentlich an Stapelprodukten, während in anderen Ländern breite Volksmassen Hunger und Not leiden, dann fordern Gerechtigkeit und Menschlichkeit, daß die Überschußländer den Mangelgebieten zu Hilfe kommen. Lebensnotwendige Güter einfach zu vernichten oder sonstwie zu vergeuden verstößt unter solchen Umständen gegen Gerechtigkeit und Menschlichkeit.

162. Wir verkennen keineswegs, daß, wenn irgendwo die Gütererzeugung, vor allem an Agrarprodukten, den Bedarf der Bevölkerung übersteigt, dies für bestimmte Berufsgruppen zu Schwierigkeiten führen kann. Daraus folgt aber nicht, daß die begüterten Völker nicht gehalten seien, ärmeren und hungernden Völkern Hilfe zu leisten, wenn sie sich in besonderer Bedrängnis befinden. Man muß vielmehr mit allem Ernst dafür sorgen, die durch Überproduktion hervorgerufenen Schwierigkeiten in Grenzen zu halten und ihre Last nach den Regeln der Billigkeit auf alle zu verteilen.

Wissenschaftliche, technische und finanzielle Hilfe

163. Maßnahmen dieser Art allein werden in vielen Fällen nicht ausreichen, um die nachhaltigen Ursachen von Hunger und Not schlagartig zu beseitigen. Meist wird rückständige Wirtschaftsweise die Schuld tragen. Um hier abzuhelfen, müssen alle gangbaren Wege versucht werden: man muß den Menschen zu einer guten fachlichen und beruflichen Ausbildung verhelfen; ferner muß ihnen Kapital zugeführt werden, um ihre Wirtschaft zeitgemäß auszustatten und weiterzuentwickeln.

164. Das Bewußtsein der Verpflichtung, jenen Völkern, die über wenig Mittel und eine unzureichende Ausstattung verfügen, Entwicklungshilfe zu leisten, hat - Wir verkennen das nicht - in den letzten Jahren weite Kreise ergriffen.

165. In diesem Sinne bemühen sich internationale und nationale Institutionen, ebenso private Unternehmen und Gesellschaften. Wir sehen, wie sie jenen Ländern in immer großzügigerer Weise ihren Beistand gewähren, indem sie ihnen leistungsfähigere Produktionsverfahren vermitteln. In diesem Zusammenhang gibt man zahlreichen jungen Leuten die Möglichkeit, an den Hochschulen der fortgeschrittenen Länder zu studieren und sich zeitgemäß in Technik und Wissenschaft auszubilden. Dazu kommen die von internationalen Finanzinstituten, von einzelnen Staaten oder von privater Seite den unterentwickelten Ländern gewährten Kredite, mittels deren dort zahlreiche wirtschaftliche Unternehmen ins Leben gerufen werden. Gern benutzen Wir die Gelegenheit, diesem großzügigen Werk Unsere Anerkennung auszudrücken. Zu wünschen bleibt, daß in Zukunft die wirtschaftlich starken Länder ihre Bemühungen mehr und mehr vereinigen den Entwicklungsländern zu helfen, in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft Fortschritte zu machen.

Die Irrtümer der Vergangenheit vermeiden

166. Deshalb halten Wir es für Unsere Pflicht, an dieser Stelle auf eilige Punkte hinzuweisen.

167. Zunächst scheint es richtig, daß die Staaten, deren Wirtschaft noch gar nicht oder erst wenig entwickelt ist, sich die Erfahrungen der Länder zunutze machen, die es zu wirtschaftlicher Blüte gebracht haben.

168. Der Gedanke an die Zukunft und die harte Not der Gegenwart zwingen dazu, mehr und rationeller zu produzieren. Ebenso gebieten Sachnotwendigkeit und Gerechtigkeit, alle Staatsbürger an dem erzeugten Reichtum in billigem Ausmaße teilnehmen zu lassen. Darum naß man darauf hinwirken, daß Wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg miteinander Schritt halten. Desgleichen müssen die Fortschritte in der Landwirtschaft, in der Industrie und im gesamten Sektor der Dienstleistungen aufeinander abgestimmt sein.

Rücksicht auf die Eigenart der einzelnen Völker

169. Man muß auch folgendes berücksichtigen: Die Entwicklungsländer weisen vielfach ganz bestimmte, kennzeichnende Merkmale auf, die aus der Natur, ihrer Lage, aus ihren menschlichen wertvollen Traditionen oder aus der besonderen Veranlagung der Bevölkerung ich ergeben.

170. Wenn die wirtschaftlich hochentwickelten Länder den bedürftigen Hilfe leisten, dann sollen sie nicht nur deren Eigenart kennen und gelten lassen; sie sollen sich auch unbedingt davor hüten, diesen Völkern bei ihrer Hilfe den eigenen Lebensstil aufzudrängen.

Uneigennütziges Werk

171. Ganz besonders müssen die wirtschaftlich fortgeschrittenen Länder, wenn sie Wirtschaftlich schwächeren helfen, sich davor hüten, auf deren politische Verhältnisse in eigennütziger Weise Einfluß zu nehmen, um Herrschaftsansprüche durchzusetzen.

172. Würde etwas Derartiges angestrebt, so liefe das offenbar darauf hinaus, eine neue Form von Kolonialherrschaft aufzurichten, die unter einem heuchlerischen Deckmantel die frühere, überholte Abhängigkeit wiederherstellen würde, von der viele Staaten sich erst vor kurzem frei gemacht haben. Das würde die internationalen Beziehungen belasten und so zu einer Gefahr werden für den Weltfrieden.

173. Es ist also unerläßlich und nur gerecht, daß die Staaten, die technische und finanzielle Hilfe leisten, sieden Entwicklungsländern ohne irgendwelche Beherrschungsabsichten gewähren - und zwar so, daß diese in den Stand gesetzt werden, ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt einmal selbständig zu vollziehen.

174. Ist das einmal erreicht, dann Wird es nicht wenig dazu beitragen, alle Staaten zu einer Gemeinschaft zu verbinden, deren einzelne Glieder im Bewußtsein ihrer Rechte und Pflichten übereinstimmend zur Wohlfahrt aller beitragen.

Die rechte Wertordnung

175. Wo immer Wissenschaft und Technik blühen und zugleich Wirtschaftlicher Wohlstand herrscht, bedeutet das einen großen zivilisatorischen und kulturellen Fortschritt. Es bleibt aber zu bedenken, daß dies nicht die höchsten Werte sind; es sind nur Mittel, die dem Streben nach höheren Werten dienlich sein können.

176. Darum gewahren Wir mit großem Bedauern in wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern die große Zahl von Menschen, denen an einer gerechten Güterordnung nichts liegt, die geistige Werte allzusehr vernachlässigen, völlig übersehen oder sie überhaupt leugnen. Währenddessen verlegen sie sich mit äußerster Anspannung der Kräfte darauf, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft voranzutreiben, und überschätzen den materiellen Wohlstand derart, daß sie ihn vielfach als den höchsten Wert des Lebens ansehen. Infolgedessen birgt die den wirtschaftlich armen Völkern von Wirtschaftlich reichen zu ihrer Entfaltung gewahrte Hilfe eine heimliche Gefahr: ist doch bei den Angehörigen jener Völker mit alter Tradition das Bewußtsein jener höheren Werte, die die sittliche Ordnung tragen, meist noch lebendig und für Handeln bestimmend.

177. Diese noch ungebrochene Gesinnung irgendwie zu erschüttern hieße eindeutig sich an diesen Völkern schwer versündigen. Diese ihre Einstellung, die aller Ehren wert ist, sollte man vielmehr fördern und weiter veredeln, da ja in ihr das wahre und echte Menschentum gründet.

Der Beitrag der Kirche

178. Nach göttlichem Recht umfaßt die Kirche alle Völker. Dies wird auch durch die Tatsache bestätigt, daß sie überall auf Erden verbreitet und alle Völker zu erfassen sich müht.

179. Bei allen Völkern, die sie zu Christus führt, trägt die Kirche unausbleiblich auch zum Fortschritt des Wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens bei; das zeigt die geschichtliche Erfahrung der Vergangenheit wie auch der Gegenwart. Jeder, der sich Christ nennt, muß es als seinen Auftrag und als seine Sendung ansehen, sich mit aller Kraft für die Vervollkommnung der Gesellschaft einzusetzen und bis um äußersten sich zu bemühen, daß die Menschenwürde in keiner Weise angetastet wird, vielmehr alle Schranken niedergelegt und alle Hilfen beigestellt werden, die ein Leben nach der Tugend anziehend machen und befördern.

180. Hat die Kirche in einem Volk lebendige Wurzeln geschlagen, so betrachtet sie sich deshalb nicht als etwas ihm von außen Aufgezwungenes und ist es auch nicht. Der Grund dafür ist, daß dort, wo Kirche lebt, die Menschen in Christus Wiedergeboren werden und auferstehen. Wer aber in Christus wiedergeboren und auferstanden ist, der fühlt sich nie von außen gezwungen. Ja, weil er sich wirklich und wahrhaft frei fühlt, wird er in Freiheit zu Gott sich hingezogen fühlen und was ihm gut und wertvoll erscheint bejahen und vollbringen.

181. "Die Kirche Christi", so spricht Unser Vorgänger Pius XII. das klar aus, "als treue Hüterin der göttlichen Erziehungsweisheit, kann nicht daran denken und denkt nicht daran, die Eigentümlichkeiten anzutasten oder ihnen ihre Ächtung zu versagen, die jedes Volk mit empfindlicher Ehrfurcht und begreiflichem Stolz bewahrt und als kostbares Erbe betrachtet. Ihr Ziel ist die übernatürliche Einheit in der allumfassenden, tief empfundenen und praktisch betätigten Liebe; nicht die rein äußerliche, oberflächliche und deshalb schädliche Gleichschaltung. Alle Bemühungen und Forderungen nach einer sinnvollen Entwicklung und Entfaltung der Anlagen und Kräfte und Bestrebungen, die im verborgenen Innern jedes Stammes schlummern, begrüßt die Kirche mit Freuden und begleitet sie mit ihren mütterlichen Wünschen, vorausgesetzt daß sie nicht im Widerstreit stehen mit den Pflichten, die sich aus der Einheit ihres Ursprungs und ihrer gemeinsamen Bestimmung für die Menschheit ergeben.." (Enzyklika Summi Pontificatus).

182. Mit großer Freude im Herzen stellen Wir fest, daß die Katholiken als Bürger unterentwickelter Länder aufs Ganze gesehen im Bemühen um den Wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihren Mitbürgern nicht nachstehen.

183. Anderseits beobachten Wir, daß die Katholiken der hochentwickelten Länder vieles unternehmen, damit die Hilfe, die ihre Länder den notleidenden Ländern gewähren, mehr und mehr zu deren Wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt beiträgt. Man kann darum die vielfältige und jährlich steigende Hilfe nur anerkennen, die sie den jungen Amerikanern und Asiaten bieten, damit diese an den europäischen und amerikanischen Hochschulen studieren können, ebenso das Bemühen, Fachleute jeder Sparte auszubilden, die bereit sind, in die Entwicklungsländer zu gehen, um dort berufstätig zu sein.

184. Allen Unseren geliebten Söhnen, die in der ganzen Welt mit so viel Eifer am echten Fortschritt der Völker und am gesunden Wachstum der Kultur arbeiten und dadurch die immerwährende Kraft und Wirksamkeit der Kirche öffentlich bezeugen, ihnen allen möchten Wir voll Freude Unser Wohlwollen und Unsere Anerkennung ausdrücken.

Bevölkerungszuwachs und wirtschaftliche Entwicklung

185. Inder letzten Zeit drängt sich die Frage in den Vordergrund, wie die Wirtschaft und die verfügbare Menge lebensnotwendiger Güter der steigenden Bevölkerungszahl nachkommen können. Dies gilt für die Welt im ganzen, aber besonders für schlechtgestellte Völker.

Mißverhältnis zwischen Bevölkerung und Unterhaltsmitteln

186. Für die Welt im ganzen wollen manche errechnen, die Menschenzahl werde sich in einigen Jahrzehnten vervielfachen, wogegen das Wachstum der Wirtschaft viel langsamer vor sich gehen werde. Daraus will man schließen, wenn die menschliche Fortpflanzung nicht irgendwie begrenzt werde, müsse das Mißverhältnis zwischen Bevölkerungszahl und verfügbarem Lebensbedarf sich in absehbarer Zeit noch verschärfen.

187. Wie aus Statistiken der wirtschaftlich unterentwickelten Länder ohne weiteres hervorgeht, sinkt heute dank der zunehmenden Verbreitung der neueren hygienischen und medizinischen Errungenschaften die Kindersterblichkeit und steigt die durchschnittliche Lebenserwartung; die ohnehin schon hohe Geburtenziffer bleibt vorerst unverändert. - Während so aber die jährliche Geburtenzahl die Zahl der Sterbefälle übertrifft, steigt das Sozialprodukt nicht im Gleichschritt mit der Bevölkerungszahl. Infolgedessen verbessern sich die Lebensbedingungen in diesen ärmeren Ländern nicht, viel eher verschlechtern sie sich noch weiter. Um das Äußerste zu verhindern, halten es daher einige für notwendig, zu Mitteln der Empfängnisverhütung oder Geburtenbeschränkung aller Art zu greifen.

Der Stand des Problems

188. Tatsächlich dürfte, in weltweitem Maßstab gesehen, das Verhältnis zwischen Bevölkerungszahl und der Versorgungsmöglichkeiten weder jetzt noch in absehbarer Zukunft zu ernstlichen Schwierigkeiten führen. Die Gründe, die dafür angeführt werden, sind doch so unsicher und so umstritten, daß sich aus ihnen nichts Sicheres folgern läßt.

189. Zudem hat Gott in seiner Güte und Weisheit der Natur eine nahezu unerschöpfliche Ergiebigkeit mitgegeben und zugleich dem Menschen soviel geistige Fähigkeiten geschenkt, daß dieser mit Hilfe entsprechender Werkzeuge die Gaben der Natur zur Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse nutzbar machen kann. Selbstverständlich dürfen, um die hier gestellte Frage von Grund auf zu lösen, nicht Wege eingeschlagen werden, die nicht nur der gottgegebenen Sittenordnung zuwiderlaufen, sondern die menschliche Fortpflanzung selbst ihrer Würde entkleiden. Vielmehr soll das menschliche Bemühen sich daraufrichten, durch umfassenden Einsatz von Technik und Wissenschaft sich eine immer bessere Kenntnis der Kräfte der Natur und damit eine immer vollkommenere Beherrschung der Natur zu erwerben. Im übrigen berechtigt der bis zum heutigen Tage auf dem Gebiete der Wissenschaft und Technik erzielte Fortschritt in dieser Hinsicht zu fast unbegrenzten Hoffnungen für die Zukunft.

190. Uns entgeht nicht, daß, was dies angeht, in bestimmten Gebieten und zumal in weniger reichen Ländern infolge wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Mißstände manchmal Schwierigkeiten entstehen, für die von Jahr zu Jahr anwachsende Bevölkerung im eigenen Lande die notwendigen Unterhaltsmittel zu finden, und daß auch die gebotene internationale Solidarität versagt.

191. Desungeachtet halten Wir entschieden daran fest: bei Behandlung und Lösung dieser Fragen darf der Mensch weder Wege gehen noch Mittel anwenden, die in Widerspruch zu seiner Würde stehen, wie sie von jenen ungescheut angeboten werden, die vom Menschen und seinem Leben rein materialistisch denken.

192. Unserer Überzeugung nach läßt sich die Frage nur lösen, wenn beim wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt sowohl der einzelnen wie des ganzen Menschengeschlechtes die echt menschlichen Werte und Güter geachtet und gemehrt werden. Deswegen verdient bei der Behandlung dieser Frage alles das den ersten Platz, was der Würde des Menschen im allgemeinen und dem Leben eines jeden einzelnen dient. Das geht über alles. In eben dieser Angelegenheit ist sodann eine weltweite Zusammenarbeit zu erstreben mit dem Ziel freizügigen Austauschs von Informationen, Kapital und Arbeitskräften zum größten Nutzen aller Beteiligten.

Achtung der Lebensgesetze

193. In dieser Sache erklären Wir feierlich. Die Weitergabe des menschlichen Lebens ist das Vorrecht der Familie; diese ist auf die eine unauflösliche Ehe gegründet, die für den Christen den Rang eines Sakramentes hat. Diese Weitergabe des menschlichen Lebens ist ein personaler Akt; damit ist sie gebunden an Gottes heilige, unerschütterliche und unantastbare Gesetze. Niemand darf sie mißachten oder übertreten. Darum sind hier Mittel und Wege schlechterdings unerlaubt, die der pflanzlichen und tierischen Fortpflanzung bedenkenfrei sind.

194. Das Leben der Menschen muß nämlich von allen für etwas Heiliges gehalten werden: denn es erfordert von seinem Anbeginn an das Wirken Gottes, des Schöpfers. Wer deshalb von diesen Geboten Gottes abweicht, verletzt nicht nur die Majestät Gottes selbst und drückt sich und dem Menschengeschlecht ein Schandmal auf, sondern schwächt auch die innersten Kräfte seines Staates.

Erziehung zur Verantwortung

195. Darum kommt viel darauf an, daß der jungen Generation nicht nur eine sorgfältige menschliche und religiöse Erziehung zuteil wird - dies ist Recht und die Pflicht der Eltern -, sondern daß sie in allen ihren Lebensäußerungen höchstes Verantwortungsbewußtsein an den Tag legt, folglich auch bei der Gründung einer eigenen Familie und bei der Zeugung und Erziehung von Kindern. Diesen Kindern müssen sie nicht nur ein festes Vertrauen auf die göttliche Vorsehung vermitteln, es muß ihnen auch der unerschütterliche und entschlossene Wille anerzogen werden, Opfer zu bringen. Niemand darf selber sich Opfern entziehen, der die hohe und schwere Aufgabe auf sich nimmt, in der Weitergabe des Lebens und in der Erziehung der Kinder das eigene Wirken mit dem göttlichen zu verbinden. Mehr als irgend jemand sonst hilft die Kirche dazu mit. Aus diesem Grunde ist ihr Recht auf freie Ausübung ihres Auftrags anzuerkennen.

Dienst am Leben

196. Den ersten Wesen, denen Gott selbst, wie wir im Buche Genesis lesen, die menschliche Natur verlieh, gab er zwei Gebote, die sich gegenseitig ergänzen. Als erstes befahl er nämlich "Wachset und mehret euch!" (Gen 1,28) Dann gebot er: "Erfüllet die Erde und machet sie euch untertan!." (ebd.)

197. Letzteres will keine Verschleuderung wirtschaftlicher Güter, sondern deren Nutzbarmachung für den menschlichen Lebensunterhalt.

198. Mit großer innerer Trauer stellen Wir heute zwei widersprüchliche Erscheinungen fest. Auf der einen Seite malt man den Mangel an Unterhaltsmitteln so düster, daß danach die Menschheit vor Elend und Hunger zugrunde gehen müsse. Auf der anderen Seite verwandeln sieh die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte sowie der wirtschaftliche Wohlstand in Werkzeuge, die das Menschengeschlecht an den Rand einer Katastrophe eines schrecklichen Todes treiben.

199. In seiner Vorsehung hat Gott zwar dem Menschen genügend Güter verliehen, mit deren Hilfe er die Lasten mit Würde auf sich nehmen kann. die mit der Zeugung von Kindern verbunden sind. Das aber läßt sieh nur schwer oder überhaupt nicht verwirklichen, wenn die Menschen vom rechten Wege abweichen, wenn sie verkehrten Sinnes die Mittel. von denen Wir sprachen. verwenden im Widerspruch zur menschlichen Vernunft oder gegen ihre eigene soziale Natur, und so gegen Gottes Pläne verstoßen.

Zusammenarbeit auf Weltebene

Weltweites Ausmaß der großen Probleme

200. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt hat in jüngster Zeit die zwischenstaatlichen Beziehungen in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens verstärkt; dadurch wird die wechselseitige Abhängigkeit der Völker immer größer.

201. Jedes Problem von einiger Bedeutung, stelle es sich nun auf dein Gebiet der Wissenschaft, der Technik, der Wirtschaft und Gesellschaft, der Politik oder der Kultur, übersteigt darum sehr oft die Möglichkeiten eines einzelnen Landes. Es steht oft in internationalen, ja weltweiten Zusammenhängen.

202. Die einzelnen Länder, selbst wenn sie sich durch ihre Kultur, durch die Zahl und den Fleiß ihrer Bewohner, durch ihre fortgeschrittene Wirtschaft, durch die Werte und den Reichtum ihres Gebietes auszeichnen, können auf sich allein gestellt ihre eigene Probleme nicht sachgerecht lösen. Die einzelnen Länder sind darauf angewiesen, sich gegenseitig auszuhelfen und zu ergänzen; so können sie ihr eigenes Wohl nur wahren, wenn sie zugleich auf das Wohl anderer Länder Bedacht nehmen. Darum sind Einvernehmen und Zusammenarbeit dringend geboten.

203. Diese Überzeugung setzt sich bei den einzelnen und in der öffentlichen Meinung der Völker immer mehr durch. Nichtsdestoweniger sind die Menschen, namentlich die verantwortlichen Staatsmänner, offenbar nicht imstande, beides (Einvernehmen und Zusammenarbeit) zu verwirklichen, das die Völker doch so sehr ersehnen. Das liegt nicht an der Unzulänglichkeit der wissenschaftlichen, technischen oder wirtschaftlichen Ausrüstung, sondern an gegenseitigem Mißtrauen. Die Menschen und folgerecht die Staaten leben in ständigem Mißtrauen gegeneinander. Jeder fürchtet, der andere trage sich mit Eroberungsplänen und warte nur eine günstige Gelegenheit ab, um sie auszuführen. Darum bereitet jeder mit allen Mitteln seine Verteidigung vor, d.h., man rüstet, um andere - wie man versichert - von einem Angriff abzuschrecken.

204. Dies hat zur Folge, daß viel menschliche Arbeitskraft und ungeheure materielle Mittel mehr zum Schaden als zum Nutzen der menschlichen Gesellschaft eingesetzt werden müssen. Die einzelnen und die Völker sind von tiefem Unbehagen bedrückt, das Unternehmungslust und Arbeitsfreude lähmt.

Mißachtung der sittlichen Ordnung

205. Der Grund dafür liegt in den völlig verschiedenen Lebensauffassungen, die das Handeln der Menschen und vor allem der verantwortlichen Staatsmänner bestimmen. Manche leugnen überhaupt das Bestehen einer wahren und gültigen sittlichen Ordnung, die über die sichtbare Welt und über den Menschen selbst hinausweist, die unbedingt verbindlich ist, die alle umfaßt und für alle in gleicher Weise gilt. Mangels einer von allen übereinstimmend anerkannten Rechtsordnung läßt sich über nichts eine volle und sichere Übereinkunft erzielen.

206. Das Wort "Gerechtigkeit" und die Redensart von "Forderungen der Gerechtigkeit" sind zwar in aller Munde. Aber solche Redewendungen haben nicht bei allen die gleiche Bedeutung. Sehr oft versteht man darunter Entgegengesetztes. Wenn die verantwortlichen Führer sich auf die "Gerechtigkeit" und die "Forderungen der Gerechtigkeit" berufen, so sind sie sich nicht nur darüber uneins, was damit gemeint ist, sondern finden eben darin oft den Grund zu harten Auseinandersetzungen. So verbreiten sie die Auffassung, es gebe kein anderes Mittel zur Wahrung seiner Rechte und Interessen als die Gewalt, die doch die Quelle der größten Übel ist.

Gott als Fundament der sittlichen Ordnung

207. Damit das gegenseitige Vertrauen der führenden Staatsmänner sich bilde und festige, müssen zunächst auf beiden Seiten die wahren sittlichen Grundsätze der Ordnung anerkannt und beachtet werden.

208. Die sittliche Ordnung hat nur in Gott Bestand. Wird sie von Gott gelöst, löst sie sich selbst auf. Der Mensch ist eben kein bloßes Leibwesen, sondern zugleich mit Erkenntnis und freier Selbstbestimmung begabtes Geistwesen, Dieser Geist verlangt nach einer religiös begründeten sittlichen Ordnung. Diese ist besser als jeder äußere Macht und jedes äußere Interesse imstande, Probleme zu lösen, die das Leben der einzelnen und der sozialen Gruppen, das eines Volkes und das der Völkergemeinschaft stellt.

 

IV.
DIE NEUORDNUNG DES GESELLSCHAFTLICHEN LEBENS
IN DER WAHRHEIT, DER GERECHTIGKEIT UND DER LIEBE

Ideologien

209. Es fehlt heute nicht an Stimmen, die behaupten, bei einer solchen Hochblüte von Wissenschaft und Technik habe man Gott nicht mehr nötig. Die menschliche Kraft allein genüge für ein Höchstmaß an kultureller Entfaltung. In Wirklichkeit stellt aber gerade der wissenschaftliche und technische Fortschritt die Menschen vor Probleme von weltweitem Ausmaß. Diese Probleme können nur gelöst werden, wenn die Autorität Gottes, des Schöpfers und Lenkers des Menschen und der ganzen Welt; voll anerkannt wird.

210. Der bald grenzenlose Fortschritt der Wissenschaften selbst scheint diese Wahrheit zu bestätigen, indem sich bei vielen die Überzeugung bildet, eine an Zahl und Maß gebundene Wissenschaft könne zwar die Dinge und ihre wechselnden Erscheinungsformen beobachten und in etwa beschreiben, nicht aber ihr Wesen begreifen und befriedigend verständlich machen. Und mit Schrecken nehmen die Menschen wahr, wie die durch technische Mittel freigelegten Kräfte zwar dem Fortschritt dienen, nicht minder aber auch zum Verderben der Menschen führen können. Darum mögen sie beherzigen, daß geistige und sittliche Werte vor allen anderen den Vorrang haben müssen, soll der wissenschaftliche und technische Fortschritt nicht zur Vernichtung des Menschen führen, sondern dem kulturellen Aufstieg dienen.

211. In den wirtschaftlich reichen Ländern machen die Menschen mehr und mehr die Erfahrung, daß kein äußerer Wohlstand den Glückshunger zu sättigen vermag, und beginnen bereits, dem Trugbild eines unbegrenzt anhaltenden glücklichen und sorglosen Lebens auf Erden zu entsagen. Zugleich erstarkt das Bewußtsein der menschlichen Personwürde und ihrer unverzichtbaren Rechte und damit verbunden das Bemühen, gerechtere und der Menschenwürde angemessenere Beziehungen untereinander herzustellen. Das führt die Menschen zur Erkenntnis ihrer Begrenztheit und veranlaßt sie, sich mehr als in der Vergangenheit um geistige Werte zu bemühen. Dies alles berechtigt offenbar zu einiger Hoffnung auf reiche und fruchtbare Zusammenarbeit, nicht nur im zwischenmenschlichen, sondern auch im zwischenstaatlichen Bereich.

212. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt hat in Vergangenheit und Gegenwart eine Fülle von zwischenmenschlichen Verbindungen und Verbindlichkeiten geschaffen. Es scheint deshalb notwendig, dies alles, sowohl in den einzelnen Ländern wie in der Völkergemeinschaft, in ein besseres menschliches Gleichgewicht zu bringen.

213. Hierzu wurden schon viele Theorien entwickelt und im Schrifttum verbreitet. Einige davon haben sich bereits in nichts aufgelöst wie der Nebel vor der Sonne. Andere haben heute eine ganz andere Gestalt als früher. Wieder andere verlieren immer mehr an Anziehungskraft in der Gegenwart. Der Grund dafür liegt sicher darin, daß es sich dabei um Ideologien handelt, die nicht den ganzen Menschen sehen, sondern nur bestimmte Seiten an ihm, und oft nicht einmal die wichtigeren. Sie übersehen zudem die zweifellos vorhandenen Schwächen der menschlichen Natur, wie z.B. Krankheit und Schmerz. Diese Schwächen kann aber kein noch so gut entwickeltes Wirtschafts- und Sozialsystem beheben. Hinzu kommt der tiefe und unbesiegbare religiöse Sinn des Menschen, den keine Gewaltanwendung jemals niedertreten, keine Schlauheit ersticken kann.

214. Eine ganz irrige, aber in unseren Tagen weitverbreitete Meinung versucht den von Natur eingepflanzten religiösen Sinn des Menschen als eine Art Selbsttäuschung oder als Einbildung hinzustellen. Diesen Sinn müsse man restlos überwinden, da er nicht mehr zu unserem Zeitgeist und zu unserer fortschrittlichen Zivilisation passe. Aber gerade in diesem tiefen religiösen Bedürfnis wird offenbar, was der Mensch wirklich ist: ein Geschöpf Gottes, zu dem es unwiderstehlich hinstrebt. Wie es bei Augustinus heißt: "Du hast uns zu dir hin geschaffen, Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir" (Bekenntnisse I, 1).

215. Technik und Wirtschaft sind zwar fortgeschritten. Aber es wird weder Friede noch Gerechtigkeit auf Erden geben, solange die Menschen ihre Würde als Geschöpfe ,und als Kinder Gottes nicht erkennen. Denn Gott ist der erste und letzte Grund aller geschaffenen Dinge. Losgelöst von Gott, wird der Mensch sich selbst und den Mitmenschen zum Ungeheuer: die gegenseitigen menschlichen Verbindlichkeiten setzen die rechte Bindung des menschlichen Gewissens an Gott voraus, die Quelle aller Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe.

216. Es ist allen hinlänglich bekannt, daß in vielen Ländern, darunter in solchen mit alter christlicher Kultur, ,viele Uns ganz besonders teure Brüder und Schwestern nun schon seit Jahren aufs grausamste verfolgt werden. Die überlegene Würde der Verfolgten ist dabei nicht weniger offenkundig als die ausgeklügelte Grausamkeit der Verfolger. Wenn diese Tatsache diese auch noch nicht zur gesunden Ordnung bekehrt, so kommen dadurch doch viele zum Nachdenken.

217. Es gibt in unserer Zeit wohl keine größere Torheit als den Versuch, in dieser Welt eine feste und brauchbare Ordnung aufzubauen ohne das notwendige Fundament, nämlich ohne Gott; die Größe des Menschen zu verherrlichen und dabei die Quelle versiegen zu lassen, aus der diese Größe fließt und genährt wird, indem man versucht, das Verlangen nach Gott zu schwächen oder womöglich zu unterdrücken. Aber was in dieser unserer Zeit geschehen ist, hat die falschen Hoffnungen vieler zerstört und tiefes Leid über viele Menschen gebracht. Da bewahrheitet sich das Wort der Schrift: "Wenn der Herr das Haus nicht baut, bauen die Bauleute vergebens" (Ps 126, 1).

Bleibende Aktualität der kirchlichen Soziallehre

218. Die Soziallehre, die die katholische Kirche überliefert und verkündet, bleibt ohne Zweifel für alle Zeiten in Geltung.

219. Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre muß der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein. Und zwar der Mensch, sofern er von Natur aus auf Mit-Sein angelegt und zugleich zu einer höheren Ordnung berufen ist, die die Natur übersteigt und diese zugleich überwindet.

220. Dieses oberste Prinzip trägt und schützt die unantastbare Würde der menschlichen Person. Aus dem gleichen Prinzip heraus hat die Kirche, besonders in den letzten hundert Jahren, unter Mitarbeit von Gelehrten aus dem Priester- und Laienstand ihre weitausgebaute Soziallehre entwickelt. Nach ihr sollen die menschlichen Beziehungen gestaltet werden entsprechend den allgemeinen Grundsätzen, die sich aus der Natur der Dinge sowie den konkreten Verhältnissen des menschlichen Zusammenlebens ergeben, wie aus dem spezifischen Charakter der Zeit. Die Grundsätze sind deshalb für alle annehmbar.

221. Diese Lehre muß nicht nur gekannt und erfaßt werden. Sie muß auch in die Tat umgesetzt werden, und zwar in der Weise und mit den Mitteln, die den jeweiligen örtlichen und zeitlichen Verhältnissen entsprechen, Dies ist eine zwar schwierige, aber äußerst bedeutsame Aufgabe. Zu ihrer Verwirklichung rufen Wir nicht nur Unsere Söhne auf der ganzen Welt auf, sondern darüber hinaus alle Menschen guten Willens.

Verbreitung der Soziallehre

222. Wir weisen vor allem darauf hin, daß die Soziallehre der katholischen Kirche ein integrierender Bestandteil der christlichen Lehre vom Menschen ist.

223. Deswegen wünschen Wir dringend, daß man sich immer mehr in sie vertieft. Vor allem wünschen Wir, daß sie in den katholischen Schulen aller Stufen, ganz besonders aber in den Seminarien, als Pflichtfach vorgetragen werde; Wir wissen allerdings, daß dies in verschiedenen Anstalten bereits seit längerer Zeit in ausgezeichneter Weise geschieht. Außerdem soll die Soziallehre in die religiöse Bildungsarbeit der Pfarreien und der apostolischen Laienbewegungen aufgenommen werden. Sie soll auch mit allen Mitteln verbreitet werden, die die moderne Zeit bietet: durch Zeitungen und Zeitschriften, durch wissenschaftliche Publikationen und volkstümliche Schriften und schließlich durch Rundfunk und Fernsehen.

224. Zu einer immer weiteren Verbreitung dieser Lehre der katholischen Kirche können, so meinen Wir, vor allem Unsere Söhne aus dem Laienstande sehr viel beitragen, indem sie sie nicht nur selbst studieren und sich in ihrer Aktion zu eigen machen, sondern sich auch eifrig bemühen, ihre Wirkkraft auch anderen nahezubringen.

225. Sie müssen davon überzeugt sein, daß die Wahrheit und Lebenskraft dieser Lehre durch nichts besser dargestellt werden kann, als wenn sie zeigen, wie sehr sie sich für die Lösung praktischer Gegenwartsfragen eignet. Auf diese Weise werden sich ihr auch Menschen zuwenden, die sie heute noch ablehnen, weil sie sie nicht kennen. Vielleicht werden diese dann doch einmal etwas Anregung aus ihr schöpfen.

Anleitung zum sozialen Handeln

226. Alle Soziallehren müssen jedoch nicht nur vorgetragen, sie müssen auch verwirklicht werden. Dies gilt für die Soziallehre der Kirche ganz besonders. Ist doch die Wahrheit ihr Fundament, die Gerechtigkeit ihr Ziel und die Liebe ihre Triebkraft.

227. Darum ist es ganz besonders wichtig, daß Unsere Söhne die Grundsätze der Soziallehre nicht nur kennen, sondern auch nach ihnen erzogen werden.

228. Die christliche Erziehung muß, soll sie vollständig sein, alle Pflichtenkreise umfassen. In ihr müssen die Gläubigen also auch angeleitet werden, ihr Handeln nach der Lehre der Kirche über Wirtschaft und Gesellschaft auszurichten.

229. Der Übergang von der Theorie in die Praxis ist an sich schon schwierig. Noch schwieriger ist es, die Soziallehre der Kirche in die Tat umzusetzen. Die Gründe dafür sind die ungezügelte Selbstsucht des Menschen, die materialistische Weltanschauung, die sich heute in Gesellschaft breitmacht, und die Schwierigkeit, festzustellen, was die der Gerechtigkeit in der konkreten Situation fordert.

230. Deswegen genügt es nicht, die Menschen bloß zu einem Handeln nach christlichen Grundsätzen auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet im Sinn der kirchlichen Lehre anzuhalten. Es müssen ihnen auch die Wege gezeigt werden, auf denen sie diese Aufgabe entsprechend erfüllen können.

231. Eine solche Erziehung wäre aber noch immer unzureichend, wenn nicht zu den Bemühungen der Erzieher eine ebensolche Bemühung des zu Erziehenden hinzutritt und wenn nicht zur Vermittlung der Lehre deren Einübung in der Praxis kommt.

232. Ein Sprichwort sagt, man lerne den rechten Gebrauch der Freiheit erst durch den Gebrauch der Freiheit selbst. Ebenso lernt niemand sein Handeln auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete nach der Lehre der Kirche ausrichten außer im Handeln und durch das Handeln nach dieser Lehre selbst.

Die soziale Mission der Laien

233. Aus diesem Grunde fällt nach Unserer Meinung in der Bildungsarbeit den apostolischen Laienbewegungen eine wichtige Rolle zu. Sie ist besonders Aufgabe derer, die sich zum Ziel gesetzt haben, alle Aufgaben der Gegenwart aus christlichem Geist zu erfüllen. Hier können in der Tat viele Mitglieder in täglicher Aktion sich selbst bilden und dann auch die Jugend in die Verwirklichung solcher Aufgaben besser einführen.

234. Es scheint Uns an dieser Stelle nicht unangebracht, die Reichen wie die Armen auf den Sinn des Lebens hinzuweisen, wie die Weisheit des Christentums ihn versteht. Die Ausrichtung darauf schließt unbedingt den Willen zur Nüchternheit und zum Ertragen von Opfern, natürlich mit Gottes Gnade, in sich.

235. Leider beherrscht heute nicht wenige Menschen die Sucht nach Vergnügen. Das Jagen nach Genuß und die unbändige Gier nach Vergnügungen scheinen ihnen das Hauptziel des Lebens zu sein. Die Schäden, die für das geistige, aber auch für das leibliche Wohl daraus entstehen, sind unbestritten. Auch wer allein nach dem natürlichen Menschenverstand urteilt, wird zugeben, daß es klug und weise ist, in en Dingen Maß zu halten und die Leidenschaften zu zügeln. Wer aber die Dinge im Lichte der Gottesordnung sieht, kann nicht verkennen daß die Botschaft Christi, die Lehre der katholischen Kirche und die überlieferte Aszese uns auffordern, unsere Triebhaftigkeit zu zügeln und die Widerwärtigkeiten des Lebens mit besonderer Geduld zu ertragen. Diese Tugenden ermöglichen eine feste ,und ausgeglichene Beherrschung des Körpers durch den Geist. Sie sind auch eine mächtige Hilfe, die Strafen für die Sünde zu tilgen, von der außer Christus und seiner makellosen Mutter niemand frei ist.

Praktische Anregungen

236. Die Grundsätze der Soziallehre lassen sich gewöhnlich in folgenden drei Schritten verwirklichen: Zunächst muß man den wahren Sachverhalt überhaupt richtig sehen; dann muß man diesen Sachverhalt anhand dieser Grundsätze gewissenhaft bewerten; schließlich muß man feststellen, was man tun kann und muß, um die überlieferten Formen nach Ort und Zeit anzuwenden. Diese drei Schritte lassen sich den drei Worten ausdrücken: sehen, urteilen, handeln.

237. Es ist sehr zu wünschen, daß die Jugend diese Schritte nicht nur theoretisch erlernt, sondern auch, soweit als möglich, in einem gegebenen Fall praktisch verwirklicht. So werden sie nicht der Meinung verfallen die erlernten Grundsätze brauchten sie nur häufig zu erwägen, nicht aber zugleich praktisch zu verwirklichen.

238. Bei der Anwendung dieser Grundsätze können nun manchmal auch unter Katholiken, selbst wenn sie ehrlichen Willens sind, Meinungsverschiedenheiten aufkommen. In einem solchen Fall müssen je trotzdem die gegenseitige Achtung und Ehrerbietung in Wort und Tat zu wahren trachten. Auch müssen sie überlegen, wie sie gemeinsam zusammenarbeiten können. Nur so tun sie zeitig, was die Situation erfordert. Sie sollen sich geflissentlich davor hüten, ihre Kräfte in ständigen Diskussionen zu verbrauchen und unter dem Schein, das Beste zu suchen, das zu unterlassen, was sie verwirklichen können und darum auch verwirklichen sollen.

239. Die Katholiken kommen nun aber in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Arbeit auch vielfach mit Menschen zusammen, die andere Lebensauffassungen haben als sie selber. Da sollen die Katholiken sorgfältig darauf achten, sich selber treu zu bleiben. Sie sollen sich nicht auf Kompromisse einlassen, durch die in irgendeiner Weise der volle Glaube oder die Sittlichkeit Schaden leidet. Sie sollen aber auch andere Auffassungen mit dem gebührenden Wohlwollen prüfen. Sie sollen nicht überall nur auf ihr eigenes Interesse schauen; vielmehr bereit sein, in ehrlicher Zusammenarbeit dort mitzuwirken, wo es um etwas geht, was seine? Natur nach gut ist oder zum Guten führen kann. Wenn aber in einer solchen Angelegenheit die kirchliche Hierarchie mit Weisung oder Vorschrift eingreifen sollte, müssen sich die Katholiken selbstverständlich unverzüglich nach einer solchen Entscheidung richten. Die Kirche hat ja nicht nur das Recht und die Pflicht, über die Grundsätze des Glaubens und der Sittlichkeit zu wachen, sondern sich auch in verbindlichen Entscheidungen mit Bezug auf die Verwirklichung dieser Grundsätze zu äußern.

Sachgerechtigkeit und Grundsatztreue

240. An die Grundsätze, die Wir für die Ausbildung gegeben haben, muß man sich aber auch in der Praxis halten. Das geht vor allem unsere Söhne aus dem Laienstande an. Denn bei ihrer Arbeit geht es gewöhnlich um die Gestaltung des irdischen Lebens oder auf dieses Ziel hin zu gründende Einrichtungen.

241. Bei dieser bedeutsamen Aufgabe müssen die Laien nicht nur beruflich auf der Höhe sein; sie müssen einerseits ihren Einsatz entsprechend den jeweiligen Zielen sachgerecht gestalten, anderseits ihre Aktion ausrichten nach den Grundsätzen und Forderungen der Soziallehre der Kirche; sie dürfen sich ihrer Weisheit aufrichtig anvertrauen und ihren Mahnungen folgen wie Kinder ihrer Mutter. Sie sollen bei sich bedenken: Wenn sie sich in ihrem Leben nicht treu an jene sozialen Grundsätze und Forderungen halten, wie die Kirche sie aufgestellt hat und wie Wir sie bestätigen, dann erfüllen sie nicht ihre Pflicht. Dann werden aber oft auch die Rechte anderer gefährdet. Es kann dann so weit kommen, daß das Vertrauen in diese Lehre geschwächt wird, weil man glaubt, sie sei in sich zwar sehr gut, aber ohne jede Kraft wirklich das Leben zu bestimmen.

Eine ernste Gefahr

242. Wie Wir schon erwähnten, haben die Menschen unserer Zeit die gründlich und umfassend durchforscht. Sie haben Werkzeuge erfunden, die Naturkräfte zu beherrschen; sie haben wirklich großartige und staunen erregende Leistungen vollbracht und vollbringen weiterhin solche. Während sie aber so versuchen, sich der äußeren Dinge zu bemächtigen und sie umzugestalten, sind sie in Gefahr, selbst zu verkümmern und ihre Geistes- und Körperkräfte zu schwächen. Schon unser Vorgänger Pius XI. hat das bedauert. Er klagt darüber in dem Rundschreiben Quadragesimo Anno: "... So wird der Hände Arbeit, die Gott in seiner väterlichen Vorsehung auch nach dem Sündenfalle zur leiblichen und seelischen Wohlfahrt der Menschen bestimmt hatte, weit und breit zur Quelle sittlicher Verderbnis. Während er tote Stoff veredelt die Stätte der Arbeit verläßt, werden die Menschen dort an Leib und Seele verdorben" (Quadragesimo Anno, 135).

243. Auch Unser Vorgänger Pius XII. erklärt mit Recht, daß sich unsere Zeit dadurch von andern unterscheide, daß Wissenschaft und Technik zwar ins Ungeheure fortgeschritten seien, die Menschen aber n Sinn für ihre Würde verloren haben. Denn unsere Zeit sehe ihre ausschließliche, aber unheimliche Aufgabe darin, "den Menschen in einen Riesen der physischen Welt zu verwandeln auf Kosten seines Geistes, den sie zu einem Zwerg in der übernatürlichen Welt macht" (Rundfunkansprache, Weihnachten 1953).

244. Es trifft deshalb in unsern Tagen in weitestem Umfang zu, was der Psalmist von den Götzendienern bezeugt: daß sich die Menschen bei ihrem Handeln selbst sehr oft vernachlässigen, ihre Leistungen aber derart bewundern, daß sie sie als Götzen verehren: "Ihre Götzen sind Silber und Gold, Machwerk von Menschenhänden" (Ps 113, 4).

245. Deswegen ermahnen Wir in der Hirtensorge, in der Wir allen Menschen nachgehen, Unsere Söhne eindringlich, sich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und dem Streben nach dem vorgesteckten Ziel ihr Pflichtbewußtsein nicht betäuben zu lassen noch die rechte Wertordnung in wichtigen Dingen zu vergessen.

246. Die Kirche hat immer ganz eindeutig gelehrt und lehrt noch, daß der Fortschritt in Wissenschaft und Technik und der daraus entstandene Wohlstand wirklich einen Wert darstellen; daß derselbe als ein Anzeichen fortschreitender menschlicher Kultur anzusehen ist. Aber ebenso lehrt die Kirche, die Güter dieser Art auf Grund ihrer wahren Natur zu beurteilen: sie müssen nämlich als Mittel betrachtet werden, die der Mensch benützt, um leichter sein letztes Ziel zu erreichen: seine natürliche und übernatürliche Vervollkommnung.

247. Deshalb wünschen Wir sehr, Unsere Söhne möchten sich immer die Worte unseres göttlichen Meisters zu eigen machen, der mahnt: "Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, an seiner Seele aber Schaden leidet? Oder was kann der Mensch zum Tausch für seine Seele geben?" (Mt 16, 26.)

Sonn- und Feiertage

248. Mit diesen Mahnungen hängt eng zusammen die Mahnung der Kirche zur Feiertagsruhe.

249. Um die Würde des Menschen zu schützen, der ein Geschöpf Gottes ist und dessen Seele Gott als sein Ebenbild geschaffen hat, hat die Katholische Kirche allzeit darauf bestanden, daß alle Menschen das dritte Gebot gewissenhaft beobachten: "Gedenke, daß du den Sabbat heiligst!" Gott hat das Recht und die Macht, dem Menschen zu gebieten, daß er jeweils den siebten Tag dazu verwende, den ewigen Gott in angemessener und gebührender Weise zu verehren, die Alltagsarbeit zu unterbrechen, den Geist zu den himmlischen Gütern zu erheben, die Geheimnisse seines Gewissens zu erforschen, sein notwendiges und heiliges Verhältnis zu Gott zu bedenken.

250. Aber der Mensch hat auch das Recht und das Bedürfnis, von Zeit zu Zeit mit der Arbeit aufzuhören. Einmal um sich körperlich von der harten Alltagsarbeit zu erholen und ehrbar zu entspannen. Er muß sich aber auch der Familiengemeinschaft widmen. Denn diese braucht n vertrauten Umgang und das frohe Zusammensein ihrer Glieder.

25l. Übereinstimmend fordern also der Glaube, die sittliche Ordnung und die Sorge um die Gesundheit bestimmte Zeiten der Ruhe. Die katholische Kirche hat dafür schon seit vielen Jahrhunderten für Gläubigen den Sonntag bestimmt und sie an diesem Tag zur Teilnahme an der heiligen Messe verpflichtet; sie erneuert das Gedächtnis unserer Erlösung durch Gott und teilt deren Frucht der menschlichen Seele mit.

252. Wir müssen die Tatsache außerordentlich bedauern und mißbilligen, daß viele, wenn sie vielleicht auch nicht absichtlich dieses heilige Gesetz übertreten wollen, doch tatsächlich allzuoft von ihm abweichen. Notwendigerweise werden gerade dadurch die Uns besonders teuren Arbeiter an Leib und Seele geschädigt.

253. Um des Nutzens für Leib und Seele willen mahnen Wir darum, gleichsam mit Gottes Worten selber, alle Menschen, die leitenden Staatsmänner, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer, dieses Gebot Gottes und der katholischen Kirche einzuhalten. Sie sollen bedenken, daß Gott und der menschlichen Gesellschaft darüber Rechenschaft schuldig sind.

Christlicher Dienst in der Welt

254. Wegen dieser kurzen Hinweise soll aber niemand meinen, Unsere Söhne, besonders aus dem Laienstand, handelten klug, wenn sie sich als Christen für diese innerweltlichen Angelegenheiten weniger einsetzen. Wir betonen mit Nachdruck, daß dieser Einsatz von Tag zu Tag größer und stärker werden muß.

255. Christus der Herr bat ja bei jenem feierlichen Gebet für die Einheit seiner Kirche den Vater um seiner Jünger willen; ,Ich bitte nicht, daß du sie von der Welt hinwegnimmst, sondern daß du sie vor dem Bösen bewahrst" (Joh 17, 15). Niemand soll sich deshalb dem eitlen Wahn hingeben, die eigene geistliche Vervollkommnung und die irdische Alltagsarbeit widersprächen einander. Sie sind durchaus miteinander vereinbar. Und es soll niemand meinen, man müsse sich den Werken des zeitlichen Lebens notwendigerweise entziehen, um nach christlicher Vollkommenheit zu streben; oder man könne sich auf keinen Fall einer solchen Tätigkeit hingeben, ohne die eigene Würde als Mensch und Christ aufs Spiel zu setzen.

256. Es entspricht durchaus dem Plan der göttlichen Vorsehung, daß sich die Menschen bilden und vervollkommnen im Vollzug ihrer täglichen Arbeit. Fast alle müssen diese Arbeit zeitlichen Dingen widmen. Deshalb stellt die Gegenwart die Kirche heute vor die schwierige Aufgabe, in der modernen Kultur die Grundsätze echter Humanität und die Lehre des Evangeliums in Einklang zu bringen. Die heutige Zeit erwartet dies von der Kirche; ja sie scheint sogar dringend danach zu verlangen, um nicht nur ein höheres Ziel zu erreichen, sondern auch um das schon Erlangte ohne eigenen Schaden sicher zu erhalten. Dazu fordert die Kirche, wie Wir bereits sagten, vor allem die wirksame Unterstützung der Laien. Sie sollen deswegen ihre Arbeiten so erledigen, daß sie ihre Pflichten den andern gegenüber erfüllen und arbeiten in Verbundenheit mit Gott durch Christus und um seiner größeren Ehre willen. So mahnt der Apostel, der heilige Paulus: "Ihr möget essen oder trinken oder sonst etwas tun, tut alles zur Ehre Gottes" (1 Kor 10; 31). Und an einer anderen Stelle: "Was ihr auch tut in Wort oder Werk, tut alles im Namen Jesu, des Herrn! Danket durch ihn Gott, dem Vater!" (Kol 3,17.)

257. Wenn das menschliche Schaffen und die Einrichtungen dieses Lebens auch zum geistigen Fortschritt und zum ewigen Glück des Menschen beitragen, dann können sie ohne Zweifel auch viel besser das erreichen, wozu sie bereits ihrer Natur nach hingeordnet sind. Für jede Zeit gilt das wichtige Wort des göttlichen Meisters: "Suchet also zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch hinzugegeben werden" (Mt 6, 33). Denn wer "Licht im Herrn" (Eph 5, 8) geworden ist und "als Sohn des Lichtes" (vgl. ebd.) wandelt, der kann tatsächlich sicherer beurteilen, was die Gerechtigkeit in den verschiedenen Bereichen menschlichen Wirkens zu tun verlangt; das gilt auch für diejenigen Bereiche, in denen die übertriebene Eigenliebe, der Nationalismus oder der Rassendünkel weiter Kreise den Erfolg erschweren. Wer sich von der christlichen Liebe leiten läßt, muß auch andere lieben; so empfindet er deren Nöte, Krankheiten und Freuden als seine eigenen. Sein Wirken, wo immer es geschieht ist kraftvoll, ist froh, ist voller Menschlichkeit und bemüht um Wahl der andern. Denn "die Liebe ist langmütig, die Liebe ist freundlich und ohne Neid, die Liebe prahlt nicht und bläht sich nicht f. Sie benimmt sich nicht anmaßend und sucht nicht ihren Vorteil; sie läßt sich nicht aufreizen, sie trägt das Böse nicht nach; sie freut sich nicht über das Unrecht, sie freut sich mit an der Wahrheit. Alles trägt sie, alles glaubt sie, alles hofft sie, alles duldet sie" (1 Kor 13, 4-7).

Lebendige Glieder am mystischen Leibe Christi

258. Wir können dieses Schreiben nicht schließen, ohne Euch, Ehrwürdige Brüder, an die so wichtige Wahrheit der katholischen Lehre erinnern, daß wir Glieder am geheimnisvollen Leibe Christi, an der Kirche, sind. "Wie der Leib zwar nur einer ist und dennoch viele Glieder hat und alle Glieder des Leibes, so viele es sind, nur einen Leib ausmachen so ist es auch mit Christus" (1 Kor 12, 12).

259. Darum bitten Wir eindringlich alle Unsere Söhne auf der ganzen Welt im Klerus und im Laienstand: sie sollen sich des Adels und der Würde klar bewußt sein, die ihnen deshalb zukommen. Sie sind ja mit Christus wie Reben mit dem Weinstock verbunden gemäß jenem Wort: "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben" (Joh 15, 5). Sie ja an seinem göttlichen Leben selbst teilhaben. Wenn darum die Gläubigen unserem heiligen Erlöser aus ganzem Herzen verbunden sind bei ihrer Arbeit in der Welt, dann setzt ihre Arbeit in gewissem Sinn die Arbeit Jesu Christi selber fort; sie empfängt von ihm erlösende Kraft und Stärke: "Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viele Frucht" (ebd.). Diese menschliche Arbeit wird dann so über sich hinausgehoben und geadelt, daß sie die Menschen, die sie ausführen, innerlich vervollkommnet und dazu hilft, den Segen der christlichen Erlösung anderen mitzuteilen und überallhin zu verbreiten. So wirkt dann die christliche Lehre wie der Sauerteig des Evangeliums; sie durchdringt das Geäder der Gesellschaft, in der wir leben und wirken, wie der Sauerteig den Teig.

260. Zugegeben: diese unsere Zeit ist in schlimme Irrtümer verstrickt und von tiefgehenden Unordnungen zerrüttet; und doch öffnen sich in dieser unserer Zeit den aktiven Christen unermeßlich weite Felder apostolischen Wirkens. Sie sind für Unser Herz ein Anlaß großer Hoffnung.

261. Ehrwürdige Brüder und geliebte Söhne! Ausgehend von dem bewunderungswürdigen Schreiben Leos XIII. haben Wir verschiedene Probleme der heutigen sozialen Wirklichkeit mit Euch besprochen. Wir bitten Euch dringend, die Grundsätze und Forderungen, die Wir in diesem Zusammenhang entwickelt haben, nicht nur sorgsam zu überdenken, sondern auch nach Kräften zu helfen, daß sie verwirklicht werden. Wenn jeder von Euch das tapferen Herzens tut, dann wird das viel dazu beitragen, Christi Reich in dieser Welt zu festigen - "das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens" (Präfation vom Christkönigsfest). Dann werden wir dereinst zu jener Seligkeit des Himmels gelangen, für die Gott uns erschaffen hat und die wir heiß ersehnen.

262. Es geht um die Lehre der katholischen und apostolischen Kirche, der Mutter und Lehrmeisterin aller Völker. Ihr Licht erleuchtet, entzündet und entflammt. Ihre mahnende Stimme, himmlischer Weisheit voll, wendet sich an alle Zeiten. In ihrer Kraft liegt das rechte und wirksame Heilmittel für die wachsenden Nöte der Menschen, für die Sorgen und Bedrängnisse dieses vergänglichen Lebens. Mit dieser ihrer Stimme vereint sich in wunderbarer Weise jene uralte Stimme des Psalmisten, die unaufhörlich unser Herz stärkt und erhebt: "Lauschen will ich, was Gott der Herr zu mir redet: wahrlich, er redet Frieden, zu seinem Volk und seinen Frommen, denen, die sich von Herzen zu ihm kehren. Sicher, nah ist sein Heil allen, welche ihn fürchten, seine Herrlichkeit wird in unserem Lande wohnen. Begegnen werden sich Gnade und Treue, Recht und Friede einander umarmen. Treue wird aus der Erde sprossen, Gerechtigkeit nieder vom Himmel schauen. Der Herr wird uns seine Güter spenden und unser Land seine Frucht bescheren. Voraufgehen wird ihm Gerechtigkeit und Heil der Spur seiner Füße folgen" (Ps 84, 9ff.).

263. Ehrwürdige Brüder! Am Schluß dieses Schreibens, dem Wir ein gutes Stück Zeit in Unserer Sorge für die Gesamtkirche gewidmet haben, fassen Wir alles in einem Wunsch zusammen: Möge der göttliche Erlöser des Menschengeschlechts, der "für uns von Gott zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung geworden ist" (1 Kor 1,30), allem und über alles in Ewigkeit herrschen und siegen. Es möge eine rechte soziale Ordnung erstehen und alle Völker zu Wohlstand, Freude und Frieden führen.

264. Zeichen dieses Wunsches und Unterpfand Unseres väterlichen Wohlwollens sei der Apostolische Segen, den Wir Euch, Ehrwürdige Brüder , und allen Gläubigen, die Eurer Sorge anvertraut sind, von ganzem Herzen im Herrn erteilen - denen besonders, die auf diese Unsere Ermahnungen bereitwillig eingehen.

Gegeben in Rom, bei Sankt Peter, am 15. Mai 1961, im dritten Jahr Unseres Pontifikates

 

IOANNES PP. XXIII

 

 

 



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