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BESUCH BEIM ITALIENISCHEN STAATSPRÄSIDENTEN
GIORGIO NAPOLITANO

ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.*

Quirinalspalast,
Samstag, 4. Oktober 2008

 

Herr Präsident!

Es ist mir eine wirkliche Freude, von neuem die Schwelle dieses Palastes zu überschreiten, wo ich zum ersten Mal wenige Wochen nach Beginn meines Amtes als Bischof von Rom und Hirte der Universalkirche empfangen wurde. Ich betrete diese Ihre offizielle Residenz, Herr Präsident, das symbolische Haus aller Italiener, in dankbarer Erinnerung an den liebenswürdigen Besuch, den Sie mir gleich nach Ihrer Wahl zum höchsten Amt der italienischen Republik im November 2006 im Vatikan abgestattet haben. Ich möchte die heutige Gelegenheit nutzen, um Ihnen erneut die Gefühle meiner Erkenntlichkeit zum Ausdruck zu bringen, unter anderem für das unvergeßliche Geschenk des künstlerisch anspruchsvollen Konzerts, das sie mir am vergangenen 24. April machen wollten und über das ich mich sehr gefreut habe. Ich möchte daher Ihnen, Herr Präsident, Ihrer verehrten Gattin und allen, die hier zusammengekommen sind, voller Dankbarkeit meinen herzlichen und ehrerbietigen Gruß entbieten. Mein Gruß richtet sich in besonderer Weise an die verehrten Amtsträger, die an der Spitze des italienischen Staates stehen, an die hier anwesenden hochgeschätzten Persönlichkeiten und weiter an das gesamte, mir sehr am Herzen liegende italienische Volk, das Erbe einer jahrhundertealten kulturellen und von christlichen Werten geprägten Tradition ist.

Dieser mein Besuch, der Besuch des Papstes im Quirinal, ist nicht nur eine Geste, die sich in den Kontext der vielfältigen Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien einfügt, sondern ihm kommt, so könnten wir sagen, ein sehr viel tieferer und symbolischerer Wert zu. So haben hier verschiedene meiner Vorgänger gelebt und von hier aus mehr als zwei Jahrhunderte lang die Universalkirche geleitet, wobei sie auch Prüfungen und Verfolgungen zu erleiden hatten, wie etwa die Päpste Pius VI. und Pius VII., die beide gewaltsam von ihrem Bischofssitz fortgerissen und ins Exil verschleppt wurden. Der Quirinal, der im Laufe der Jahrhunderte Zeuge zahlreicher froher und trauriger Seiten in der Geschichte des Papsttums gewesen ist, bewahrt noch viele Zeichen der Förderung von Kunst und Kultur seitens der Päpste.

In einem bestimmten Moment der Geschichte wurde dieses Gebäude fast zu einem Zeichen des Widerspruchs – als einerseits Italien danach strebte, sich zu einem einheitlichen Staat zu fügen, und anderseits der Heilige Stuhl besorgt war, seine Unabhängigkeit zu bewahren, um weiterhin seine universale Sendung erfüllen zu können. Dieser Kontrast zog sich über mehrere Jahrzehnte hin und gab denjenigen Anlaß zu Kummer, die sowohl die Heimat als auch die Kirche aufrichtig liebten. Ich beziehe mich auf die komplexe »römische Frage«, die von Seiten des Heiligen Stuhls auf endgültige und unwiderrufliche Weise durch die Unterzeichnung der Lateranverträge am 11. Februar 1929 beigelegt wurde. Gegen Ende des Jahres 1939, zehn Jahre nach dem Lateranvertrag, erfolgte der erste Besuch, den ein Papst nach dem Jahr 1870 dem Quirinal abstattete. Bei jener Gelegenheit, erklärte mein verehrter Vorgänger, der Diener Gottes Pius XII., dessen 50. Todestages wir in diesem Monat gedenken, mit beinahe poetischen Worten: »Der Vatikan und der Quirinal, die durch den Tiber getrennt werden, sind im Andenken an die Religion der Väter und Vorväter durch das Band des Friedens vereint. Die Tiberwellen haben die trüben Wogen der Vergangenheit fortgerissen und in den Strudeln des tyrrhenischen Meers versinken lassen, und an seinen Ufern sind wieder Olivenzweige erblüht« (Ansprache vom 28. Dezember 1939).

Heute kann man wirklich voller Genugtuung behaupten, daß der italienische Staat und der Apostolische Stuhl in der Stadt Rom friedlich zusammenleben und erfolgreich zusammenarbeiten. Auch dieser mein Besuch bestätigt, daß der Quirinal und der Vatikan sich nicht gegenseitig ignorieren oder mißgünstig gegenüberstehen; es handelt sich vielmehr um Orte, die den gegenseitigen Respekt vor der Souveränität des Staates und der Kirche symbolisieren, dazu bereit, gemeinsam daran mitzuwirken, das umfassende Wohl der menschlichen Person sowie das friedliche gesellschaftliche Zusammenleben zu fördern und ihm zu dienen. Das ist – so möchte ich betonen – eine positive Realität, die fast täglich auf verschiedenen Ebenen festzustellen ist, und auf die auch andere Staaten blicken können, um eine nützliche Lehre daraus zu ziehen.

Herr Präsident, mein heutiger Besuch findet an einem Tag statt, an dem Italien mit großer Freude seinen besonderen Schutzpatron feiert: den hl. Franz von Assisi. Unter anderem hat Pius XI. sich gerade auf den hl. Franziskus bezogen, als er die Unterzeichnung der Lateranverträge und vor allem die Verfassung des Staates der Vatikanstadt verkündigte: für jenen Papst bedeutete die neue Souveränität, wie für den »Poverello«, »so viel Leib, wie ausreichend ist, um die Seele beieinander zu halten« (Ansprache vom 11. Februar 1929). Gemeinsam mit der hl. Katherina von Siena wurde der hl. Franziskus von den italienischen Bischöfen als himmlischer Schutzpatron Italiens vorgeschlagen und vom Diener Gottes Pius XII. bestätigt (vgl. Licet commissa vom 18. Juni 1939; AAS XXXI [1939], 256–257). Dem Schutz dieses großen Heiligen und berühmten Italieners wollte Papst Pacelli in einem Moment, in dem Europa immer stärker durch einen Krieg bedroht wurde, der auch Ihr »bel Paese« auf dramatische Weise betraf, das Schicksal Italiens anvertrauen.

Die Entscheidung für den hl. Franziskus als Patron Italiens hat ihren Grund in der tiefen Übereinstimmung zwischen der Persönlichkeit und dem Handeln des »Poverello« von Assisi und der erhabenen italienischen Nation. Wie der Diener Gottes Johannes Paul II. während des am selben Tag des Jahres 1985 erfolgten Besuches des damaligen Präsidenten Francesco Cossiga im Vatikan in Erinnerung rufen wollte: »Schwerlich ließe sich eine andere Gestalt finden, die die Wesenszüge des italienischen Geistes auf ebenso reiche und harmonische Weise verkörpert. In einer Zeit, in der die Entwicklung der freien Stadtrepubliken Prozesse der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Erneuerung auslöste, die die alte Welt des Feudalismus in ihren Grundfesten erschütterten – erklärte Papst Wojtyla weiter –, brachte Franziskus es fertig, sich zwischen den sich befehdenden Parteien zu erheben, um in voller Treue zur Kirche, als deren Sohn er sich fühlte, und in völliger Zugehörigkeit zu dem Volk, dem er sich verbunden wußte, das Evangelium des Friedens und der Liebe zu verkündigen« (O.R. dt. Nr. 44 v. 1.11.1985, S. 5).

In diesem Heiligen, dessen Gestalt Gläubige wie Nichtgläubige anzieht, können wir das Bild der immerwährenden Sendung der Kirche auch in ihrem Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft ausmachen. Die Kirche fährt in der gegenwärtigen Zeit tiefer und oftmals als schwierig empfundener Veränderungen damit fort, allen die Heilsbotschaft des Evangeliums zu verkünden, und bemüht sich, zum Aufbau einer Gesellschaft beizutragen, die auf Wahrheit und Freiheit, auf der Achtung des Lebens und der menschlichen Würde, auf Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität beruht. Wie ich bei anderer Gelegenheit schon wiederholt habe, »strebt die Kirche nicht nach Macht, noch verlangt sie Privilegien oder trachtet nach wirtschaftlich oder sozial vorteilhaften Positionen. Ihr einziges Ziel ist es, dem Menschen zu dienen, wobei sie sich, als oberste Maßregel, an den Worten und am Beispiel Jesu Christi orientiert, der ›umherzog, Gutes tat und alle heilte‹ (Apg 10,38)« (Ansprache vom 4. Oktober 2007, O.R. dt. Nr. 42 v. 19.10.2007, S. 11).

Um ihren Auftrag zu erfüllen, muß die Kirche immer und überall das Recht umfassender Religionsfreiheit genießen können. Bei der Versammlung der Vereinten Nationen, die in diesem Jahr den 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begeht, habe ich unterstreichen wollen: »Die volle Gewährleistung der Religionsfreiheit kann nicht auf die freie Ausübung des Kultes beschränkt werden, sondern muß in richtiger Weise die öffentliche Dimension der Religion berücksichtigen, also die Möglichkeit der Gläubigen, ihre Rolle im Aufbau der sozialen Ordnung zu spielen« (Ansprache vom 18. April 2008, O.R. dt. Nr. 17 v. 25.4.2008, S. 14–15). Die Kirche bietet diesen Beitrag zum Aufbau der Gesellschaft auf vielfältige Weise an, da sie ein Leib mit vielen Gliedern ist, eine gleichzeitig geistliche und sichtbare Realität, deren Glieder verschiedene Berufungen, Aufgaben und Rollen haben. Besondere Verantwortung empfindet sie angesichts der jungen Generationen: so stellt sich heute dringend das Problem der Erziehung, notwendiger Schlüssel, um den Zugang zu einer Zukunft zu ermöglichen, die nach den beständigen Werten des christlichen Humanismus ausgerichtet ist. Die Ausbildung der Jugendlichen ist daher ein Unterfangen, in das sich auch die Kirche, gemeinsam mit der Familie und der Schule, einbezogen fühlt. So ist sie sich sehr wohl der Bedeutung bewußt, die der Erziehung beim Begreifen wirklicher Freiheit zukommt, als notwendiger Voraussetzung für einen konkreten Dienst am Gemeinwohl. Nur ein ernsthaftes Bemühen um Erziehung wird es ermöglichen, eine solidarische Gesellschaft zu errichten, die wirklich vom Gefühl der Legalität beseelt ist.

Herr Präsident, ich möchte hier gerne den Wunsch wiederholen, daß die christlichen Gemeinschaften und die vielfältigen kirchlichen Realitäten in Italien die Menschen – vor allem die jungen – auch als verantwortliche Bürger heranzubilden wissen mögen, die sich im bürgerlichen Leben einsetzen. Ich bin sicher, daß die Hirten und die Gläubigen weiterhin ihren wichtigen Beitrag leisten, um auch in diesen Momenten wirtschaftlicher und sozialer Ungewißheit das Gemeinwohl des Landes sowie auch Europas und der ganzen Menschheitsfamilie zu gestalten, indem sie den Armen und den Ausgegrenzten, den jungen Menschen, die Arbeit suchen, und den Arbeitslosen, den Familien und den alten Menschen, die mühsam und engagiert unsere Gegenwart aufgebaut haben und daher die Dankbarkeit aller verdienen, besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Ich wünsche mir außerdem, daß der Beitrag der katholischen Gemeinschaft von allen im Geist derselben Bereitschaft aufgenommen wird, mit der er angeboten wird. Es besteht kein Grund, einen Amtsmißbrauch zum Schaden der Freiheit seitens der Kirche und ihrer Mitglieder zu befürchten – die im übrigen erwarten, daß ihnen die Freiheit zuerkannt wird, das eigene, vom Evangelium erleuchtete Gewissen nicht zu verraten. Das wäre noch leichter, wenn niemals vergessen würde, daß alle Mitglieder der Gesellschaft sich im gegenseitigen Respekt darum bemühen müssen, in der Gemeinschaft jenes wahre Wohl des Menschen zu erlangen, dessen sich die Italiener nach zwei Jahrtausenden einer vom Christentum geprägten Kultur mit Leib und Seele bewußt sind.

Herr Präsident, von diesem bedeutungsvollen Ort aus möchte ich erneut meine Zuneigung, ja meine Vorliebe für diese geliebte Nation zum Ausdruck bringen. Sie, sowie alle Italiener und Italienerinnen, versichere ich meines Gebets, und ich bitte um den mütterlichen Schutz der Jungfrau Maria, die mit so großer Frömmigkeit auf der italienischen Halbinsel – von Nord bis Süd – sowie auf den Inseln verehrt wird, wie ich auch anläßlich meiner Pastoralreisen habe feststellen können. Zum Abschied mache ich mir den Wunsch zu eigen, den der sel. Johannes XXIII. am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils als Pilger in Assisi mit dichterischen Akzenten an ganz Italien gerichtet hat: »Mögest du, geliebtes Italien, an dessen Ufern das Schiff Petri gelandet ist – vor allem aus diesem Grund kommen sie von überall her zu Dir, die Völker der ganzen Welt, die du mit größter Achtung und voller Liebe zu empfangen weißt –, mögest du das heilige Vermächtnis bewahren, das dich vor Himmel und Erde verpflichtet« (Ansprache vom 4. Oktober 1962).

Gott schütze und segne Italien und alle seine Bewohner!


*L'Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache n. 44 p. 10.

 

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