HEILIGE MESSE
PREDIGT VON PAPST FRANZISKUS
Vatikanische Basilika
33. Sonntag im Jahreskreis, 15. November 2020
Das Gleichnis, das wir gehört haben, hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, welche den Anfang, die Mitte und das Ende unseres Lebens erhellen.
Der Anfang. Alles beginnt mit einem großen Vermögen: Der Herr behält seine Reichtümer nicht für sich selbst, sondern gibt sie den Dienern, dem einen gibt er fünf, dem anderen zwei und wieder einem anderen ein Talent, »jedem nach seinen Fähigkeiten« (Mt 25,15). Man hat errechnet, dass ein einziges Talent einem Lohn von etwa zwanzig Jahren Arbeit entsprach: Es war ein überreichliches Vermögen, das damals für ein ganzes Leben ausreichte. Das also ist der Anfang: Auch für uns begann alles mit der Gnade Gottes, – alles beginnt immer mit der Gnade, nicht mit unseren Leistungen – mit der Gnade Gottes, die der Vater ist und so viel Vermögen in unsere Hände gelegt hat, indem er jedem von uns unterschiedliche Talente anvertraut hat. Wir sind Träger eines großen Reichtums, der nicht davon abhängt, wie viel wir haben, sondern davon, was wir sind: von dem Leben, das wir empfangen haben, von dem Guten, das in uns ist, von der unüberwindlichen Schönheit, die Gott uns verliehen hat. Denn wir sind als sein Bild geschaffen, jeder von uns ist in seinen Augen kostbar, jeder von uns ist einzigartig und unersetzlich in der Geschichte! So schaut uns Gott an, so empfindet er uns.
Wie wichtig ist es doch, sich daran zu erinnern. Wenn wir unser Leben betrachten, sehen wir allzu oft nur das, was uns fehlt, und wir beklagen uns über das, was uns fehlt. Dann erliegen wir der Versuchung des „Schön wär’s! …“: Schön wär’s, wenn ich diesen Job hätte, wenn ich dieses Haus besäße, wenn ich Geld und Erfolg hätte, wenn ich dieses Problem nicht hätte, wenn ich bessere Menschen um mich herum hätte! ... Doch die Illusion des „Schön wär’s“ hindert uns daran, das Gute zu sehen, und lässt uns die Talente vergessen, die wir haben. Ja, jenes Talent hast du nicht, aber dieses, und das „Schön wär’s“ führt dazu, dass wir dieses vergessen. Aber Gott hat sie uns anvertraut, weil er jeden von uns kennt und weiß, wozu wir fähig sind; er vertraut uns, trotz unserer Schwächen. Er vertraut auch jenem Diener, der das Talent dann verstecken wird: Gott hofft, dass auch er, trotz seiner Ängste, das, was er erhalten hat, gut nutzen wird. Kurz gesagt, der Herr bittet uns, die Gegenwart zu nutzen und dabei nicht der Vergangenheit nachzutrauern, sondern aktiv seine Rückkehr zu erwarten. Jene Misanthropie, die wie Zynismus, wie ein schwarzer Humor die Seele vergiftet und sie immer zurückschauen lässt, immer auf die anderen, doch nie auf die eigenen Hände, auf die Möglichkeiten zu arbeiten, die der Herr uns gegeben hat, auf unsere Gelegenheiten…, und auch auf unsere Armseligkeit.
Damit sind wir in der Mitte des Gleichnisses angelangt. Hier geht es um das, was die Diener tun, das heißt um ihren Dienst. Mit diesem Dienst ist auch unser Tun gemeint, das, was unsere Talente fruchtbar macht und dem Leben einen Sinn gibt: Tatsächlich vertut einer sein Leben, wenn er nicht lebt, um zu dienen. Das müssen wir wiederholen und uns oft vorsagen: Der vertut sein Leben, wenn er nicht lebt, um zu dienen. Wir sollten das meditieren: Der vertut sein Leben, wenn er nicht lebt, um zu dienen. Aber wie sieht dieser Dienst aus? Im Evangelium werden diejenigen als gute Diener bezeichnet, die etwas riskieren. Sie sind nicht vorsichtig und zurückhaltend, sie bewahren nicht auf, was sie erhalten haben, sondern sie setzen es ein. Denn ein Gut, das nicht investiert wird, geht verloren, und die Bedeutung unseres Lebens hängt nicht davon ab, wie viel wir beiseitelegen, sondern davon, wie viel Frucht wir bringen. Wie viele Menschen verbringen ihr Leben nur damit, Besitz anzuhäufen. Sie sind darauf bedacht, dass es ihnen gut geht, anstatt dass sie Gutes tun. Aber wie leer ist solch ein Leben, das Bedürfnissen nachjagt, ohne auf die Bedürftigen zu schauen! Wenn wir über Gaben verfügen, dann nur darum, dass wir eine Gabe für die anderen sind. Und hier, Brüder und Schwestern, stellen wir uns die Frage: Befriedige ich nur das Bedürfnis des Anderen, oder schaue ich ihn an, der ein Bedürfnis hat? Der bedürftig ist? Ist meine Hand so [er streckt sie aus] oder so [er zieht sie zurück]?
Es sei darauf hingewiesen, dass die Diener, die investieren, die Risiken eingehen, viermal als „treu“ bezeichnet werden (V. 21 und 23). Für das Evangelium gibt es keine Treue ohne Risiko. „Stimmt es, Pater, dass Christsein heißt, etwas zu riskieren?“ – „Ja, mein Lieber oder meine Liebe, etwas riskieren! Wenn du nichts riskierst, endest du wie der dritte [Diener]: Du vergräbst deine Fähigkeiten, deine geistigen und materiellen Gaben, alles“. Riskieren: Es gibt keine Treue ohne Risiko. Gott treu zu sein bedeutet sein Leben hinzugeben, es bedeutet, die eigenen Pläne durch den Dienst durcheinanderbringen zu lassen. „Ich habe einen bestimmten Plan, wenn ich mich aber jetzt zur Verfügung stelle …“. Lass es zu, dass der Plan durcheinandergebracht wird, stelle dich zur Verfügung! Es ist traurig, wenn ein Christ in die Defensive geht und sich nur an die Einhaltung der Regeln und die Befolgung der Gebote klammert. Jene „maßvollen“ Christen, die nie die Regeln übertreten, nie, weil sie Angst vor dem Risiko haben. Und diese, gestattet mir das Bild, diese, die sich so um sich selbst sorgen, um bloß nicht etwas zu riskieren, diese beginnen schon im Leben einen Prozess der Seelenmumifizierung und enden als Mumien. Das reicht nicht, es reicht nicht, die Regeln zu beachten. Die Treue zu Jesus erschöpft sich nicht darin, keine Fehler zu machen. So was ist negativ. Das dachte der faule Diener des Gleichnisses: Bar jeglicher Initiative und Kreativität, versteckt er sich hinter einer unnützen Angst und vergräbt das empfangene Talent. Der Herr nennt ihn sogar »schlecht« (V. 26), obwohl er nichts falsch gemacht hat! Ja, aber er hat eben auch nichts Gutes getan. Er zog es vor, durch Unterlassung zu sündigen, anstatt Fehler zu riskieren. Er war Gott nicht treu, denn dieser liebt die Selbsthingabe; und der Diener beleidigte ihn aufs Schlimmste, indem er ihm die erhaltene Gabe zurückgab. „Du hast mir das gegeben, ich gebe dir das“, nichts weiter. Der Herr lädt uns vielmehr ein, uns großzügig einzusetzen, die Angst zu besiegen und jene Passivität zu überwinden, die mitschuldig macht. Lasst uns heute, in diesen Zeiten voll Unsicherheit, in diesen zerbrechlichen Zeiten, unser Leben nicht damit vergeuden, dass wir nur an uns selbst denken, mit jener Haltung der Gleichgültigkeit. Machen wir uns keine Illusionen, während wir sagen: »Friede und Sicherheit!« (1 Thess 5,3). Der heilige Paulus fordert uns auf, uns der Realität zu stellen und uns nicht von der Gleichgültigkeit anstecken zu lassen.
Wie also sieht ein Dienst nach Gottes Willen aus? Der Herr erklärt es dem untreuen Diener: »Du hättest mein Geld auf die Bank bringen müssen, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten« (V. 27). Wer sind für uns diese „Banken“, die in der Lage sind, einen langfristigen Zins zu geben? Das sind die Armen. Vergesst es nicht: Die Armen stehen in der Mitte des Evangeliums. Das Evangelium versteht man nicht ohne die Armen. Die Armen sind in der Person Jesu selbst verkörpert, der obwohl er reich war, sich selbst entäußerte, sich arm gemacht hat, sich selbst zur Sünde, zur schlimmsten Form der Armut, gemacht hat. Die Armen garantieren uns eine ewige Rendite und sie ermöglichen uns schon jetzt, reicher an Liebe zu werden. Denn die größte Armut, die es zu bekämpfen gilt, ist unsere Armut an Liebe. Die größte Armut, die es zu bekämpfen gilt, ist unsere Armut an Liebe. Das Buch der Sprichwörter preist die Frau, die tüchtig ist in der Nächstenliebe und alle Perlen an Wert übertrifft: diese Frau sollten wir nachahmen, denn, wie es im Text heißt, »sie reicht dem Armen ihre Hände« (Spr 31,20): Das ist der große Reichtum dieser Frau. Reiche den Bedürftigen die Hand, anstatt zu beanspruchen, was dir fehlt: Auf diese Weise wirst du die Talente, die du erhalten hast, vervielfachen.
Die Weihnachtszeit rückt näher, die Zeit der Feste. Oftmals kommt da bei vielen Leuten die Frage auf: „Was kann ich kaufen? Was kann ich noch brauchen? Ich muss in die Geschäfte gehen, um einzukaufen“. Sagen wir lieber ein anderes Wort: „Was kann ich für die anderen tun?“ Um wie Jesus zu sein, der sich selbst hingegeben hat und eben in dieser armseligen Krippe geboren wurde.
So kommen wir zum Ende des Gleichnisses: Da wird es denjenigen geben, der im Überfluss haben wird, und denjenigen, der sein Leben vergeudet hat und arm bleiben wird (vgl. V. 29). Am Ende des Lebens, also, wird die Wirklichkeit offenbar: Die Täuschung der Welt, wonach Erfolg, Macht und Geld dem Leben Sinn verleihen, wird vergehen, während die Liebe, das, was wir gegeben haben, sich als wahrer Reichtum erweisen wird. Jene Dinge werden fallen, die Liebe wird hingegen hervortreten. Ein großer Kirchenvater schrieb einmal: »So geschieht es im Leben: Nachdem der Tod gekommen ist und der Vorhang gefallen ist, nehmen alle die Masken von Reichtum und Armut ab und verlassen diese Welt. Sie werden nur nach ihren Werken beurteilt, einige als wirklich reich, andere als arm« (vgl. hl. Johannes Chrisostomus, De Lazaro concio, II, 3). Wenn wir schon nicht arm leben wollen, dann bitten wir um die Gnade, Jesus in den Armen sehen und Jesus in den Armen dienen zu dürfen.
Ich möchte den vielen treuen Dienern Gottes danken, die nicht von sich reden machen, sondern dies leben, indem sie dienen. Ich denke dabei zum Beispiel an Don Roberto Malgesini. Dieser Priester hatte keine großen Konzepte; er sah einfach Jesus in den Armen und den Sinn des Lebens im Dienen. Sanftmütig trocknete er Tränen im Namen Gottes, der tröstet. Der Anfang seines Tages war das Gebet, um das anzunehmen, was Gott ihm gab; die Mitte des Tages war die Nächstenliebe, um die empfangene Liebe fruchtbar zu machen; das Ende war ein klares Zeugnis des Evangeliums. Dieser Mann hatte verstanden, dass er den vielen armen Menschen, denen er täglich begegnete, die Hand reichen musste, weil er in jedem von ihnen Jesus sah. Brüder und Schwestern, bitten wir um die Gnade, nicht nur in Worten, sondern auch in unseren Taten Christen zu sein, damit wir Frucht bringen, wie es der Wunsch Jesu ist. Amen.
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