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VIDEOBOTSCHAFT VON PAPST FRANZISKUS ZUR
109. KONFERENZ DER INTERNATIONALEN
ARBEITSORGANISATION

[Multimedia]

 

 

Herr Präsident der Internationalen Arbeitskonferenz,
verehrte Vertreter der Regierungen,
der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerorganisationen!

Ich danke dem Generaldirektor, Herrn Guy Ryder, der mich sehr freundlich eingeladen hat, diese Botschaft auf dem Gipfel über die Welt der Arbeit zu präsentieren. Diese Konferenz wurde in einem entscheidenden Moment der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte einberufen, der für die ganze Welt gravierende und weitreichende Herausforderungen birgt. In den vergangenen Monaten hat die Internationale Arbeitsorganisation durch ihre regelmäßigen Berichte eine lobenswerte Arbeit geleistet, wobei sie unseren am meisten gefährdeten Brüdern und Schwestern besondere Aufmerksamkeit schenkte.

In der anhaltenden Krise sollten wir weiterhin dem Gemeinwohl unsere »besondere Sorge« widmen. Viele der möglichen und erwarteten Umwälzungen haben noch nicht stattgefunden, daher werden sorgfältige Entscheidungen erforderlich sein. Der in den letzten Jahren erfolgte Arbeitsstundenabbau hat sowohl zum Verlust von Arbeitsplätzen als auch zu einer Verkürzung der täglichen Arbeitszeit bei denjenigen geführt, die ihren Arbeitsplatz behalten haben. Viele öffentliche Dienste, aber auch Unternehmen, sind mit enormen Schwierigkeiten konfrontiert, einigen droht die volle oder teilweise Insolvenz. Auf der ganzen Welt haben wir im Jahr 2020 einen beispiellosen Arbeitsplatzabbau erlebt.

Bei aller Eile, nach der Bedrohung durch Covid-19 zu einer höheren wirtschaftlichen Aktivität zurückzukehren, sollten wir die in der Vergangenheit praktizierte Fixierung auf Profit ebenso vermeiden wie Isolierung und Nationalismus, blinden Konsumismus und die Verleugnung der eindeutigen Signale hinsichtlich der Diskriminierung unserer »ausrangierten« Brüder und Schwestern in unserer Gesellschaft. Wir sollten im Gegenteil Lösungen finden, die uns helfen, eine neue Zukunft der Arbeit aufzubauen, die gegründet ist auf angemessene, würdige Arbeitsbedingungen; die aus Kollektivverhandlungen hervorgeht und die das Gemeinwohl fördert, eine Grundlage, welche die Arbeit zu einem wesentlichen Bestandteil unserer Sorge für die Gesellschaft und die Schöpfung macht. In diesem Sinne ist die Arbeit wahrhaft und wesentlich menschlich. Darum geht es: dass sie menschlich ist.

In Anerkennung der grundlegenden Rolle, die diese Organisation und diese Konferenz als privilegierter Ort für einen konstruktiven Dialog spielen, sind wir aufgerufen, unserer Antwort an jene Arbeitnehmer Priorität zu verleihen, die sich am Rand der Arbeitswelt befinden und die noch von der Covid-19-Pandemie betroffen sind. Dazu gehören Geringqualifizierte, Tagelöhner, Beschäftigte im informellen Sektor, Wanderarbeiter und Flüchtlinge, diejenigen, die das tun, was als »Arbeit der drei Dimensionen« bekannt ist: gefährlich, schmutzig und entwürdigend, und die Liste könnte fortgesetzt werden.

Viele schutzbedürftige Migranten und Arbeitnehmer mit ihren Familien bleiben im Allgemeinen vom Zugang zu nationalen Programmen im Bereich von Gesundheitsförderung, Krankheitsvorsorge, Behandlung und Pflege sowie der finanziellen Absicherung und von den psychosozialen Diensten ausgeschlossen. Das ist einer der vielen Fälle jener Wegwerf- und Ausgrenzungsphilosophie, an deren Durchsetzung wir uns in unserer Gesellschaft gewöhnt haben. Dieser Ausschluss erschwert die Früherkennung, Testung, Diagnose, Kontaktverfolgung und Inanspruchnahme medizinischer Versorgung bei Covid-19 für Flüchtlinge und Migranten und erhöht somit das Risiko eines Virenherds in diesen Bevölkerungsgruppen. Solche Ausbrüche können unkontrolliert bleiben oder sogar wissentlich verheimlicht werden, was eine zusätzliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellt (1).

Fehlende Maßnahmen sozialen Schutzes angesichts der Auswirkungen von Covid-19 hatten zahlreiche Folgen: zunehmende Armut, Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Zunahme der Informalität der Arbeit, die Verzögerung bei der Integration junger Menschen in den Arbeitsmarkt, was eine sehr ernste Sache ist, die Zunahme der Kinderarbeit, was noch gravierender ist, die Gefährdung durch Menschenhandel, die Ernährungsunsicherheit und die erhöhte Ansteckungsgefahr bei Bevölkerungsgruppen wie Kranken und älteren Menschen. In diesem Zusammenhang danke ich Ihnen für die Mögichkeit, hier einige grundlegende Sorgen und Beobachtungen vorzutragen.

Zunächst hat die Kirche die wichtige Aufgabe, an alle Beteiligten zu appellieren, mit den Regierungen, mit den multilateralen Organisationen und der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten, um dem Gemeinwohl zu dienen und für es Sorge zu tragen und um bei diesem Einsatz die Teilnahme aller zu gewährleisten. Niemand sollte außen vor gelassen werden bei einem Dialog zugunsten des Gemeinwohls, dessen Ziel es vor allem ist, Frieden und Vertrauen zwischen allen aufzubauen und zu festigen. Die Schutzlosesten – junge Menschen, Migranten, indigene Gemeinschaften, Arme – dürfen nicht ausgeklammert werden bei einem Dialog, der auch Regierungen, Unternehmer und Arbeiter zusammenbringen sollte. Außerdem ist es von grundlegender Wichtigkeit, dass alle Konfessionen und religiösen Gemeinschaften sich gemeinsam einsetzen. Die Kirche hat eine lange Erfahrung in der Teilnahme an diesen Dialogen durch ihre örtlichen Gemeinden, Volksbewegungen und Organisationen, und sie bietet sich der Welt an als Brückenbauerin, um eine Hilfe zu sein bei der Schaffung der Voraussetzungen für einen solchen Dialog oder, wo das angebracht ist, um ihn zu erleichtern. Diese Dialoge für das Gemeinwohl sind wesentlich für das Ziel, eine solidarische und nachhaltige Zukunft unseres gemeinsamen Hauses aufzubauen, und sie sollten sowohl auf gemeinschaftlicher als auch auf nationaler und internationaler Ebene stattfinden. Und ein Merkmal wahren Dialogs ist, dass die Dialogpartner dieselben Rechte und Pflichten haben. Es kann nicht sein, dass einer, der mehr oder weniger Rechte hat, mit jemandem, der keine Rechte hat, einen Dialog führt. Gleicher Umfang an Rechten und Pflichten, das gewährleistet einen ernsthaften Dialog.

Zweitens ist es auch für die Sendung der Kirche wesentlich, sicherzustellen, dass alle den Schutz erhalten, den sie ihrer Verletzlichkeit entsprechend benötigen: Krankheit, Alter, Behinderung, Vertreibung, Marginalisierung oder Sucht. Die sozialen Sicherungssysteme, die selbst großen Risiken ausgesetzt sind, müssen unterstützt und ausgebaut werden, um den Zugang zu Gesundheitsdiensten, Lebensmitteln und zur Stillung der menschlichen Grundbedürfnisse sicherzustellen. In Notzeiten, wie zum Beispiel der Covid-19-Pandemie, sind besondere Hilfsmaßnahmen erforderlich. Eine besondere Aufmerksamkeit für die ganzheitliche und effektive Ver- sorgung durch öffentliche Dienste ist ebenfalls wichtig. Die sozialen Sicherungssysteme waren aufgefordert, viele Herausforderungen der Krise zu bewältigen, und gleichzeitig sind ihre Schwachpunkte deutlicher geworden. Schließlich muss der Schutz der Arbeitnehmer und der am meisten gefährdeten Personen durch die Achtung ihrer Grundrechte, einschließlich des Rechts, sich gewerkschaftlich zu organisieren, gewährleistet sein. Mit anderen Worten: Sich zu einer Gewerkschaft zusammenzuschließen ist ein Recht. Die Covid-Krise hat bereits die Schwächsten getroffen, und sie sollten nicht durch sich ausschließlich auf wirtschaftliche Indikatoren konzentrierende Maßnahmen zur Beschleunigung des Aufschwungs Schaden erleiden. Das heißt, dass hier auch eine Reform der Art und Weise des Wirtschaftens, eine grundlegende Wirtschaftsreform vonnöten ist. Die Art und Weise, wie die Wirtschaft vorangebracht wird, muss anders werden, sie muss sich ihrerseits ändern.

In diesem Augenblick der Reflexion, wo wir versuchen, unserem zukünftigen Handeln Gestalt zu verleihen und eine internationale Post- Covid-19-Agenda zu erstellen, sollten wir besondere Aufmerksamkeit der realen Gefahr zuwenden, diejenigen zu vergessen, die auf der Strecke geblieben sind. Sie laufen Gefahr, von einem Virus angegriffen zu werden, der noch schlimmer ist als Covid-19: vom Virus der egoistischen Gleichgültigkeit. Mit anderen Worten: Eine Gesellschaft kann keine Fortschritte machen, wenn sie ausgrenzt, sie kann keinen Fortschritt erzielen. Dieses Virus breitet sich aus durch ein Denken, das meint, dass das Leben besser ist, wenn es für mich besser ist, dass alles gut wird, wenn es für mich gut wird, und so beginnt und endet man damit, eine Person anstelle einer anderen auszuwählen, die Armen auszugrenzen und die auf der Strecke Gebliebenen auf dem sogenannten »Altar des Fortschritts« zu opfern. Das ist eine echte elitäre Dynamik, die Konstituierung neuer Eliten auf Kosten der Ausgrenzung vieler Menschen und vieler Völker.

Mit dem Blick auf die Zukunft ist es wichtig, dass die Kirche – und damit die Aktion des Heiligen Stuhls zusammen mit der Internationalen Arbeitsorganisation – Maßnahmen zur Korrektur ungerechter oder unrichtiger Zustände unterstützt, die die Arbeitsbeziehungen beeinträchtigen, wenn sie diese ganz der Idee des »Ausschlusses« unterordnen oder die Grundrechte der Arbeitnehmer verletzen. Eine Bedrohung stellen die Theorien dar, die Profit und Konsum als unabhängige Elemente oder autonome Variablen des Wirtschaftslebens betrachten, wobei sie die Arbeitnehmer ausschließen und so die Disparität des Lebensstandards verursachen. »Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Als Folge dieser Situation sehen sich große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg« (Evangelii gaudium, 53).

Die aktuelle Pandemie hat uns daran erinnert, dass es unter den Leidenden keine Unterschiede und keine Grenzen gibt. Wir alle sind zerbrechlich, und zugleich sind wir alle sehr wertvoll. Hoffen wir, dass das, was um uns herum geschieht, uns zutiefst erschüttern möge. Es ist der Moment gekommen, die Ungleichheiten aufzuheben und die Ungerechtigkeit zu heilen, die die Gesundheit der gesamten Menschheitsfamilie bedroht. Im Hinblick auf die Agenda der Internationalen Arbeitsorganisation müssen wir so fortfahren, wie wir es 1931 getan haben, als Papst Pius XI. nach dem Börsenkrach an der Wall-Street und mitten in der »Großen Depression« die Asymmetrie zwischen Arbeitern und Unternehmern als eklatante Ungerechtigkeit anprangerte, die dem Kapital einen Freibrief und Disponibilität einräumte. Er sagte: »Lange genug konnte in der Tat das Kapital ein Übermaß für sich nehmen. Der ganze Ertrag, die ganzen Überschüsse nahm das Kapital für sich in Anspruch, dem Arbeiter kaum das Not- wendige für die Erhaltung der Arbeitskraft übriglassend« (Quadragesimo anno, 55). Sogar in jener Situation vertrat die Kirche die Position, dass der Lohn für geleistete Arbeit nicht nur dazu die- nen darf, die unmittelbaren, aktuellen Bedürfnisse der Arbeitnehmer zu stillen, sondern ihnen auch die Möglichkeit eröffnen muss, zukünftige Ersparnisse für ihre Familien zu sichern oder Investitionen, die in der Lage sind, für die Zukunft eine gewisse Sicherheit zu gewährleisten.

So setzt sich der Heilige Stuhl seit der ersten Sitzung der Internationalen Konferenz für ein- heitliche Regelungen ein, die für die Arbeit in all ihren Aspekten gelten, als Garantie für die Arbeitnehmer (2). Er ist der Überzeugung, dass die Arbeit und damit die Arbeitnehmer auf Garantien, Unterstützung und Verstärkung zählen können, wenn sie vor dem »Spiel« der Deregulierung geschützt werden. Darüber hinaus müssen die Rechtsnormen auf Beschäftigungswachstum, menschenwürdige Arbeit und die Rechte und Pflichten des Menschen ausgerichtet sein. Dies alles sind notwendige Mittel im Hinblick auf das menschliche Wohlergehen, die ganzheitliche menschliche Entwicklung und das Gemeinwohl.

Die katholische Kirche und die Internationale Arbeitsorganisation können entsprechend ihrer verschiedenen Natur und Funktion weiterhin ihre jeweiligen Strategien umsetzen, aber sie können auch weiterhin von den sich bietenden Gelegenheiten zur Zusammenarbeit bei einer Vielzahl von wichtigen Aktivitäten profitieren.

Um diese gemeinsame Aktion zu fördern ist es notwendig, die Arbeit richtig zu verstehen. Das erste Element für ein solches Verständnis for- dert uns auf, die notwendige Aufmerksamkeit allen Formen der Arbeit zuzuwenden, einschließlich der atypischen Beschäftigungsformen. Die Arbeit geht über das hinaus, was man traditionell als »formale Beschäftigung« verstanden hat und das »Programm für würdige Arbeit« muss alle Formen der Arbeit einschließen. Der fehlende Sozialschutz der Arbeitnehmer in der informellen Wirtschaft und ihrer Familien macht sie besonders anfällig für Auseinandersetzungen, weil sie nicht auf den Schutz zählen können, den Sozialversicherung oder Sozialhilfesysteme zur Bekämpfung der Armut bieten. Die Frauen in der informellen Wirtschaft, einschließlich der Straßenverkäuferinnen und Hausangestellten, leiden unter den Auswirkungen von Covid-19 in vielerlei Hinsicht, von der Isolation bis hin zu extremer Gefährdung der Gesundheit. Da es keine zugänglichen Kinderbetreuungseinrichtungen gibt, sind die Kinder dieser Arbeiterinnen einem größeren Gesundheitsrisiko ausgesetzt, da ihre Mütter sie zum Arbeitsplatz mitbringen oder unbeaufsichtigt zu Hause lassen müssen (3). Daher muss vor allem sichergestellt werden, dass die Sozialhilfe die informelle Wirtschaft erreicht und den besonderen Bedürfnissen von Frauen und Mädchen Rechnung trägt.

Die Pandemie zeigt uns, dass viele Frauen auf der ganzen Welt weiterhin nach Freiheit, Gerechtigkeit und der Gleichheit aller Menschen dürsten: Obwohl »es zwar bemerkenswerte Verbesserungen in der Anerkennung der Rechte der Frau und ihrer Beteiligung im öffentlichen Bereich gegeben hat, [ist] in einigen Ländern aber noch vieles voranzubringen [...]. Die Ausrottung unannehmbarer Bräuche ist noch nicht geschafft. Ich hebe die beschämende Gewalt hervor, die manchmal gegen Frauen verübt wird, die Miss- handlung in der Familie und verschiedene Formen der Sklaverei [...]. Ich denke an [...] die Ungleichheit im Zugang zu würdigen Arbeitsplätzen und zu Entscheidungspositionen« (Amoris laetitia, 54).

Das zweite Element für ein korrektes Verständnis der Arbeit ist: Insoweit die Arbeit eine Beziehung ist, muss sie die Dimension der Fürsorge einschließen, denn keine Beziehung kann überleben, wenn man nicht dafür sorgt. Dabei beziehen wir uns nicht nur auf die Tätigkeit der Fürsorge: Die Pandemie erinnert uns an ihre grundlegende Bedeutung, die wir möglicherweise vernachlässigt haben. Die Fürsorge geht darüber hinaus, sie muss eine Dimension jeglicher Arbeit sein. Eine Arbeit, die keine Sorge trägt, die die Schöpfung zerstört, die das Überleben der künftigen Generationen gefährdet, missachtet die Würde der Arbeitnehmer und kann nicht als würdige Arbeit betrachtet werden. Im Gegensatz dazu ist eine Arbeit, die Sorge trägt, ein Beitrag zur Wiederherstellung der vollen Menschenwürde und wird zur Sicherung einer nachhaltigen Zukunft für künftige Generationen (4).  Und unter diesen Aspekt der Sorge fallen in erster Linie die Arbeitnehmer. Mit anderen Worten, eine Frage, die wir uns täglich stellen können, lautet: Wie kümmert sich ein Unternehmen, stellen wir es uns vor, um seine Mitarbeiter?

Neben einem richtigen Verständnis von Arbeit ist die Entwicklung einer Kultur der Solidarität erforderlich, um besser aus der aktuellen Krise herauszukommen und die Wegwerfkultur zu bekämpfen, die die Wurzel der Ungleichheit ist und der Welt zu schaffen macht. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, den Beitrag all jener Kulturen zu schätzen und zu nutzen, die wie die indigene Kultur und die Volkskultur häufig als Randerscheinungen betrachtet werden, die aber die Praxis der Solidarität aufrecht erhalten, die »sehr viel mehr bedeutet als einige sporadische Gesten der Großzügigkeit«. Jedes Volk hat  seine eigene Kultur, und ich glaube, der Augenblick ist gekommen, wo wir uns endgültig vom Erbe der Aufklärung befreien müssen, die das Wort »Kultur« mit einer bestimmten Form von intellektueller Bildung oder sozialer Zugehörigkeit in Verbindung gebracht hat. Jedes Volk hat seine Kultur und wir müssen sie so annehmen, wie sie ist. »Es bedeutet, dass man im Sinne der Gemeinschaft denkt und handelt, dass man dem Leben aller Vorrang einräumt – und nicht der Aneignung der Güter durch einige wenige. Es bedeutet auch, dass man gegen die strukturellen Ursachen der Armut kämpft: Ungleichheit, das Fehlen von Arbeit, Boden und Wohnung, die Verweigerung der sozialen Rechte und der Arbeitsrechte. Es bedeutet, dass man gegen die zerstörerischen Auswirkungen der Herrschaft des Geldes kämpft [...]. Die Solidarität, verstanden in ihrem tiefsten Sinne, ist eine Art und Weise, Geschichte zu machen, und genau das ist es, was die Volksbewegungen tun« (Fratelli tutti, 116).

Mit diesen Worten wende ich mich an Sie, die Teilnehmer der 109. Internationalen Konferenz über die Arbeit, denn als institutionalisierte Akteure der Welt der Arbeit haben Sie eine großartige Möglichkeit, auf Prozesse des Wandels einzuwirken, die bereits im Gang sind. Sie haben eine große Verantwortung, aber noch größer ist das Gute, das Sie erreichen können. Daher lade ich Sie ein, auf die vor uns liegende Herausforderung zu antworten. Die etablierten Akteure können sich auf das Erbe ihrer Geschichte stützen, das weiterhin eine Ressource von grundlegender Bedeutung ist, aber in dieser historischen Phase sind sie aufgerufen, für die Dynamik der Gesellschaft offen zu bleiben und das Auftreten und die Einbeziehung weniger traditioneller und marginaler Akteure zu fördern, die alternative, innovative Impulse einbringen können.

Ich bitte die politischen Verantwortungsträger und alle, die in den Regierungen arbeiten, sich stets an jener Form der Liebe zu inspirieren, die in der »politischen Nächstenliebe« zum Ausdruck kommt: »Ein ebenso unverzichtbarer Akt der Liebe ist das Engagement, das darauf ausgerichtet ist, die Gesellschaft so zu organisieren und  zu strukturieren, dass der Nächste nicht im Elend leben muss. Es ist Liebe, einer leidenden Person nahe zu sein; aber auch all das ist Liebe, was man ohne direk- ten Kontakt mit dieser Person zur Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen, die ihr Leiden verursachen, tut. Während jemand einem älteren Menschen hilft, einen Fluss zu überqueren – und das ist wahre Liebe –, so erbaut der Politiker ihm eine Brücke, und auch dies ist Liebe. Während jemand einem anderen hilft, indem er ihm zu essen gibt, so schafft der Politiker für ihn einen Arbeitsplatz und übt eine sehr hochstehende Form der Liebe, die sein politisches Handeln veredelt« (Fratelli tutti, 186).

Die Unternehmer erinnere ich an ihre wahre Berufung: Wohlstand zu erzeugen, der allen dient. Die Unternehmertätigkeit ist wesentlich »eine edle Berufung, die darauf ausgerichtet ist, Wohlstand zu erzeugen und die Welt für alle zu verbessern. Gott fördert uns, er erwartet von uns, dass wir die Fähigkeiten entfalten, die er uns gegeben hat, und er hat der Welt sehr viele Möglichkeiten geschenkt. Sein Plan für uns ist es, dass jeder Mensch sich entwickelt und dazu gehört auch die Förderung wirtschaftlicher und technologischer Fähigkeiten, um Güter und den Wohlstand zu mehren. In jedem Fall aber sollten diese Fähigkeiten der Unternehmer, die ein Geschenk Gottes sind, klar auf die Entwicklung anderer Menschen und auf die Überwindung der Armut ausgerichtet sein, insbesondere durch die Schaffung vielfältiger Beschäftigungsmöglichkeiten. Immer gibt es neben dem Recht auf Privatbesitz das vorrangige und vorgängige Recht der Unterordnung allen Privatbesitzes unter die allgemeine Bestimmung der Güter der Erde und daher das allgemeine Anrecht auf ihren Gebrauch« (Fratelli tutti, 123). Wenn vom Privatbesitz die Rede ist, vergisst man zuweilen, dass dies ein zweitrangiges Recht ist, das von diesem ersten Recht abhängt, der allgemeinen Bestimmung der Güter.

Ich lade die Gewerkschafter und Führungs- kräfte von Arbeitnehmervereinigungen ein, sich keine »Zwangsjacke« anlegen zu lassen, sondern sich auf die konkreten Situationen in den Stadtvierteln und Gemeinschaften zu konzentrieren, in denen sie wirken, wobei sie gleichzeitig Probleme in Angriff nehmen sollen, die mit der Wirtschaftspolitik im weiteren Sinn und mit den »Makro-Beziehungen« in Zusammenhang stehen. (5)

Auch in der gegenwärtigen historischen Phase steht die Gewerkschaftsbewegung vor zwei äußerst wichtigen Herausforderungen. Die Erste ist die Prophetie, verbunden mit dem Wesen der Gewerkschaften, mit ihrer ursprünglichsten Berufung. Die Gewerkschaften sind Ausdruck des prophetischen Profils der Gesellschaft. Gewerkschaften entstehen und werden wiederbelebt immer dann, wenn sie wie die biblischen Propheten denen eine Stimme geben, die keine haben, und jene anprangern, die »den Armen wegen eines Paars Sandalen« verkaufen, wie der Prophet sagt (vgl. Amos 2,6); wenn sie die Mächtigen bloßstellen, die die Rechte der schutzlosesten Arbeiter mit Füßen treten; wenn sie das Wohl der Fremden, der Letzten und der Zurückgewiesenen verteidigen. Es ist klar: Wenn eine Gewerkschaft korrupt wird, dann kann sie dies nicht mehr tun. Sie verwandelt sich, so dass sie den Status eines Pseudo-Arbeitgebers erhält und ebenfalls große Distanz zum Volk hat.

Die zweite Herausforderung: Innovation. Propheten sind Wächter, die an ihrem Wachposten Ausschau halten. Auch die Gewerkschaften müssen die Mauern der Stadt der Arbeit bewachen, wie ein Wachposten, der all jene, die sich in der Stadt der Arbeit befinden, bewacht und schützt, der aber auch jene bewacht und beschützt, die sich außerhalb der Mauern befinden. Die Gewerkschaften erfüllen ihre grundlegende Funktion sozialer Innovation nicht, wenn sich nur die Rentner schützen. Dass muss getan werden, aber es ist nur die Hälfte Ihrer Arbeit. Sie sind berufen, auch diejenigen zu schützen, die noch keine Rechte haben, die von der Arbeit ausgeschlossen sind und die auch von den Rechten und von der Demokratie ausgeschlossen sind. (6)

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den trilateralen Prozessen der Internationalen Arbeitsorganisation und dieser Internationalen Arbeitskonferenz! Die Kirche unterstützt Sie, sie geht an Ihrer Seite. Die Kirche stellt ihre Ressourcen zur Verfügung, beginnend mit ihren spirituellen Ressourcen und ihrer Soziallehre. Die Pandemie hat uns gelehrt, dass wir alle im selben Boot sitzen und dass wir nur gemeinsam aus der Krise herauskommen können. Danke.

 

FUSSNOTEN

1 Vgl. »Preparedness, prevention, and control of coronavirus disease (Covid-19) for refugees and migrants in non-camp settings«, Interim Gui- dance, World Health Organization, 17. April 2020, https://www.who.int/publications- detail/preparedness-prevention-and-control-of- coronavirus disease-(covid-19)-for-refugees-and- migrants-in-non-camp-settings.

2 Vgl. den Brief Noi rendiamo grazie von Papst Leo XIII. an Seine Majestät Wilhelm II., 14. März 1890.

3 Vgl. https://www.wiego.org/sites/de- fault/files/resources/file/Impact_on_live- lihoods_Covid-19_final_EN_1. pdf

4 Vgl. Care is work, work is care, Report of »The future of work, labour after Laudato si’ project«, https://futureofwork-labourafterlauda- tosi.net/

5 Vgl. Papst Franziskus, Ansprache an die Teilnehmer des Welttreffens der Volksbewegungen, 5. November 2016.

6 Vgl. Ansprache an die Italienische Föderation der Arbeitergewerkschaften (CISL), 28. Juni 2017.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



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