APOSTOLISCHE REISE NACH RIO DE JANEIRO
AUS ANLASS DES XXVIII. WELTJUGENDTAGS
BEGEGNUNG MIT DEN BISCHÖFEN DES KOORDINATIONS-KOMITEES DES CELAM ANLÄSSLICH IHRER GENERALVERSAMMLUNG
ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
Studienzentrum von Sumaré, Rio de Janeiro
Sonntag, 28. Juli 2013
1. Einleitung
Ich danke dem Herrn für diese Gelegenheit, mit euch, liebe Mitbrüder im bischöflichen Dienst und Verantwortliche des CELAM im Quadriennium 2011-2015, sprechen zu können. Seit 57 Jahren dient der CELAM den 22 Bischofskonferenzen Lateinamerikas und der Karibik, indem er eine Zusammenarbeit nach dem Prinzip der Solidarität und der Subsidiarität anbietet, um die bischöfliche Kollegialität sowie das Miteinander unter den Kirchen dieser Region und ihren Hirten zu fördern, anzuregen und ihr Dynamik zu verleihen.
Wie ihr, so bin auch ich Augenzeuge des starken Impulses des Geistes während der V. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik in Aparecida im Mai 2007 – ein Impuls, der immer noch die Arbeiten des CELAM für die so sehr ersehnte Erneuerung der Teilkirchen belebt. Diese Erneuerung ist in einem Großteil von ihnen bereits im Gang. Ich möchte dieses Gespräch auf das reiche Erbe konzentrieren, das aus jener brüderlichen Begegnung hervorgegangen ist und dem wir alle den Namen Kontinentalmission verliehen haben.
2. Besondere Merkmale von Aparecida
Es gibt vier ganz eigene Merkmale der V. Generalversammlung. Sie sind wie vier Säulen der Entwicklung von Aparecida und verleihen ihr ihre besondere Originalität.
1.) Anfang ohne Dokument
Medellin, Puebla und Santo Domingo begannen ihre Arbeiten mit einem Weg der Vorbereitung, der in einer Art Instrumentum laboris gipfelte, auf dessen Basis sich die Diskussion, die Reflexion und die Approbierung des Schlussdokuments entwickelte. Aparecida hingegen förderte die Teilnahme der Teilkirchen als Weg der Vorbereitung, der in einem zusammenfassenden Dokument gipfelte. Obwohl während der V. Generalversammlung auf dieses Dokument Bezug genommen wurde, wurde es nicht als Ausgangspunkt übernommen. Die anfängliche Arbeit bestand darin, die Sorgen der Hirten zusammenzutragen angesichts des Wandels der Zeiten und der Notwendigkeit, das Leben als Jünger und Missionar zu erneuern, mit dem Christus die Kirche gründete.
2.) Umfeld des Gebetes mit dem Volk Gottes
Es ist wichtig, an das Umfeld des Gebetes zu erinnern, das von der täglichen Gemeinsamkeit in der Eucharistie und den anderen liturgischen Momenten ausging, wo wir immer vom Volk Gottes begleitet wurden. Andererseits bestand dadurch, dass die Arbeiten im Tiefparterre des Heiligtums stattfanden, die „Hintergrundmusik“, die sie begleitete, aus den Gesängen und den Gebeten der Gläubigen.
3.) Ein Dokument, das mit dem Engagement der Kontinentalmission in der Zeit weiterwirkt
Aus diesem Kontext von Gebet und Glaubensleben erwuchs der Wunsch nach einem neuen Pfingsten für die Kirche und das Engagement der Kontinentalmission. Aparecida schließt nicht mit einem Dokument, sondern setzt sich in der Kontinentalmission fort.
4.) Die Gegenwart von Maria, der Mutter Amerikas
Es ist die erste Versammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik, die in einem marianischen Heiligtum abgehalten wird.
3. Dimensionen der Kontinentalmission
Die Kontinentalmission erfolgt in zwei Dimensionen: der programmatischen und der paradigmatischen. Die programmatische Mission besteht, wie der Name sagt, in der Verwirklichung von Unternehmungen missionarischer Art. Die paradigmatische Dimension schließt hingegen ein, die gewöhnlichen Aktivitäten der Teilkirchen unter missionarischem Aspekt anzugehen. Offensichtlich leitet das konsequenterweise eine ganze Dynamik der Reform der kirchlichen Strukturen ein. Die „Änderung der Strukturen“ (von zeitgebundenen zu neuen) ist nicht das Ergebnis einer Untersuchung über die Organisation des kirchlichen Amtsapparats, aus der sich eine statische Umorganisierung ergäbe, sondern die Folge der Dynamik der Mission. Was veraltete Strukturen fallen lässt, was dazu führt, die Herzen der Christen zu verändern, ist eben gerade der missionarische Charakter. Daher die Wichtigkeit der paradigmatischen Mission.
Die Kontinentalmission – sowohl die programmatische als auch die paradigmatische – erfordert, das Bewusstsein einer Kirche zu erzeugen, die sich darauf einrichtet, allen Getauften und den Menschen guten Willens zu dienen. Der Jünger Christi ist nicht ein Mensch, der sich in einer Spiritualität der Innerlichkeit isoliert, sondern ein Mensch in der Gemeinschaft, um sich an die anderen zu verschenken. Kontinentalmission schließt also kirchliche Zugehörigkeit ein.
Ein Ansatz wie dieser, der mit dem Jünger- und Missionar-Sein beginnt und einschließt, die Identität des Christen als kirchliche Zugehörigkeit zu verstehen, erfordert, dass wir uns deutlich machen, welches die augenblicklichen Herausforderungen an den missionarischen Charakter des Jüngerseins sind. Ich werde nur zwei von ihnen hervorheben: die innere Erneuerung der Kirche und der Dialog mit der Welt von heute.
Innere Erneuerung der Kirche
Aparecida hat die Notwendigkeit einer Umkehr in der Pastoral vor Augen gestellt. Diese Umkehr schließt ein, an die Frohe Botschaft zu glauben, an Jesus Christus als den Bringer des Gottesreiches, an sein Hereinkommen in die Welt, an seine Gegenwart, die das Böse besiegt, an die Hilfe und die Führung des Heiligen Geistes und an die Kirche als Leib Christi und Fortführerin der Dynamik der Inkarnation.
In diesem Sinn ist es nötig, dass wir als Hirten uns Fragen stellen, die sich auf die Kirchen beziehen, denen wir vorstehen. Diese Fragen dienen als Anleitung, um den Stand der Diözesen in der Rezeption des Geistes von Aparecida zu überprüfen, und es sind Fragen, die wir uns als Gewissenserforschung häufig stellen sollten.
1. Sorgen wir dafür, dass unsere Arbeit und die unserer Priester mehr pastoral als administrativ ist? Wer ist der hauptsächliche Nutznießer der kirchlichen Arbeit: die Kirche als Organisation oder das Volk Gottes in seiner Ganzheit?
2. Überwinden wir die Versuchung, den komplexen Problemen, die auftauchen, in reaktiver (abwartender) Weise Beachtung zu schenken? Nehmen wir eine pro-aktive (voraushandelnde) Grundhaltung ein? Begünstigen wir Räume und Gelegenheiten, um die Barmherzigkeit Gottes zum Ausdruck zu bringen? Sind wir uns der Verantwortung bewusst, die pastoralen Aktivitäten und das Funktionieren der kirchlichen Strukturen zu überdenken und dabei das Wohl der Gläubigen und der Gesellschaft im Auge zu haben?
3. Lassen wir in der Praxis die Laien an der Mission teilnehmen? Verkünden wir das Wort Gottes und spenden wir die Sakramente im klaren Bewusstsein und in der deutlichen Überzeugung, dass sich in ihnen der Heilige Geist ausdrückt?
4. Ist es für uns ein übliches Kriterium, unser Urteil in der Pastoral auf den Ratschlag der Diözesanräte zu stützen? Sind diese Räte und jene auf Pfarreiebene für die Pastoral und die wirtschaftlichen Angelegenheiten wirkliche Räume für die Teilnahme der Laien an der Beratung, der Organisation und der pastoralen Planung? Das gute Funktionieren der Räte ist entscheidend. Ich glaube, dass wir darin noch sehr im Rückstand sind.
5. Sind wir Hirten – Bischöfe und Priester – uns der Sendung der Laien bewusst und von ihr überzeugt; geben wir ihnen die Freiheit, die Sendung, die der Herr ihnen anvertraut, im Einklang mit ihrem Weg als Jünger zu unterscheiden? Unterstützen und begleiten wir sie, indem wir jegliche Versuchung zu Manipulation und unrechtmäßiger Unterwerfung überwinden? Sind wir immer offen, uns auf der Suche nach dem Wohl der Kirche und ihrer Sendung in der Welt hinterfragen zu lasse?
6. Fühlen sich die Pastoralassistenten und die Gläubigen allgemein als Teil der Kirche, identifizieren sie sich mit ihr und bringen sie sie den Getauften, die sich von ihr distanziert und entfernt haben, nahe?
Wie man einsehen kann, geht es hier um die Grundeinstellungen. Die Umkehr in der Pastoral betrifft hauptsächlich die Grundeinstellungen und eine Reform des Lebens. Eine Änderung der Einstellungen ist notwendigerweise dynamisch: Sie „kommt in Gang“, und man kann sie nur lenken, wenn man sie mit Unterscheidungsvermögen begleitet. Wichtig ist, sich immer vor Augen zu halten, dass der Kompass, um sich auf diesem Weg nicht zu verlieren, der der katholischen Identität im Sinne einer kirchlichen Zugehörigkeit ist.
Dialog mit der Welt von heute
Es ist gut, sich an die Worte des Zweiten Vatikanischen Konzils zu erinnern: Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi (Past. Konst. Gaudium et spes, 1). Hier liegt das Fundament des Dialogs mit der Welt von heute.
Die Antwort auf die Lebensfragen des Menschen von heute, besonders der jungen Generationen, bringt, wenn man auf ihre Ausdrucksweise achtet, eine fruchtbare Änderung mit sich, die mit Hilfe des Evangeliums, des Lehramtes und der Soziallehre der Kirche durchzuführen ist. Die Szenerien und die Areopage sind verschiedenster Art. So gibt es zum Beispiel in ein und derselben Stadt verschiedene imaginäre Kollektive, die „unterschiedliche Städte“ bilden. Wenn wir nur in den Maßstäben der „Kultur von immer“ verharren, im Grunde einer Kultur auf ländlicher Basis, wird das Ergebnis schließlich eine Vereitelung der Kraft des Heiligen Geistes sein. Gott ist in allen Teilen: Man muss ihn zu entdecken wissen, um ihn in der Sprache jeder Kultur verkünden zu können; und jede Wirklichkeit, jede Sprache hat einen anderen Rhythmus.
4. Einige Versuchungen gegen den Auftrag als Jünger und Missionar
Die Option für den missionarischen Charakter des Jüngers wird Versuchungen unterworfen sein. Es ist wichtig, die Strategie des bösen Geistes zu begreifen, um einander in der Unterscheidung zu helfen. Es geht nicht darum, hinauszugehen und Dämonen zu vertreiben, sondern schlicht um eine dem Evangelium gemäße Nüchternheit und Schlauheit. Ich erwähne nur einige Haltungen, die eine „versuchte“ Kirche darstellen. Es geht darum, gewisse augenblickliche Vorschläge zu kennen, die sich als Dynamik des Auftrags als Jünger und Missionar tarnen und den Prozess der Umkehr in der Pastoral aufhalten können, bis sie ihn zum Scheitern bringen.
1. Die Ideologisierung der Botschaft des Evangeliums. Es ist eine Versuchung, die es in der Kirche von Anfang an gab: eine Hermeneutik zur Interpretation des Evangeliums außerhalb seiner Botschaft und außerhalb der Kirche zu suchen. Ein Beispiel: Aparecida erlitt in einem bestimmten Moment diese Versuchung in Form der „Asepsis“. Man bediente sich – und das ist gut so – der Methode des „sehen, urteilen, handeln“ (vgl. Nr. 19). Die Versuchung lag darin, für ein völlig aseptisches „Sehen“, ein neutrales „Sehen“ zu optieren, was unrealisierbar ist. Das Sehen ist immer vom Blick beeinflusst. Es gibt keine aseptische Hermeneutik. So war dann die Frage: Mit welchem Blick schicken wir uns an, die Wirklichkeit zu sehen? Aparecida antwortete: mit dem Blick des Jüngers. So sind die Nummern 20 bis 32 zu verstehen. Es gibt noch andere Arten der Ideologisierung der Botschaft, und augenblicklich erscheinen in Lateinamerika und der Karibik Vorschläge dieser Art. Ich erwähne nur einige von ihnen:
a) Der sozialisierende Reduktionismus. Es ist die Ideologisierung, die am leichtesten zu entdecken ist. In einigen Momenten war sie sehr stark. Es handelt sich um einen Interpretationsanspruch auf der Basis einer von den Sozialwissenschaften geprägten Hermeneutik. Sie umfasst die verschiedensten Bereiche: von der Marktfreiheit bis zu marxistischen Kategorisierungen.
b) Die psychologische Ideologisierung. Es handelt sich um eine elitäre Hermeneutik, welche die „Begegnung mit Jesus Christus“ und ihre weitere Entwicklung letztlich auf eine Dynamik der Selbsterkenntnis reduziert. Gewöhnlich wird sie hauptsächlich in Kursen für Spiritualität, Einkehrtagen usw. geboten. Sie erweist sich schließlich als eine immanente, selbstbezogene Haltung. Sie versteht nichts von Transzendenz und folglich von Missionscharakter.
c) Der gnostische Entwurf. Er ist ziemlich mit der vorigen Versuchung verbunden. Gewöhnlich tritt er in Elitegruppen mit dem Angebot einer erhabeneren, ziemlich leibfeindlichen Spiritualität auf, die schließlich in pastorale Haltungen in Form von „quaestiones disputatae“ führt. Es war die erste Abweichung der Urgemeinde, und sie erscheint im Laufe der Geschichte der Kirche immer wieder in revidierten und korrigierten Ausgaben. Gemeinhin nennt man sie „aufgeklärte Katholiken“ (da sie die jetzigen Erben der Kultur der Aufklärung sind).
d) Der pelagianische Entwurf. Er erscheint grundsätzlich unter der Form der Restauration. Angesichts der Übel der Kirche sucht man eine nur disziplinäre Lösung in der Wiederherstellung von überholten Verhaltensweisen und Formen, die nicht einmal kulturell bedeutend zu sein vermögen. In Lateinamerika gibt es ihn in kleinen Gruppen, in einigen neuen Ordenskongregationen, und er zeigt sich in überzogene Neigungen zu doktrineller und disziplinärer „Sicherheit“. Grundsätzlich ist er statisch, auch wenn er sich eine Dynamik ad intra vornehmen kann, die eine Rückentwicklung betreibt. Sie sucht, die verlorene Vergangenheit „zurückzugewinnen“.
2. Der Funktionalismus. Seine Wirkung in der Kirche ist lähmend. Mehr als für die Wirklichkeit des Weges begeistert er sich für den „Zeitplan des Weges“. Die funktionalistische Auffassung duldet nicht das Mysterium, sie strebt die Wirksamkeit an. Sie reduziert die Wirklichkeit der Kirche auf die Struktur einer NGO [Nichtregierungsorganisation]. Was zählt, sind das feststellbare Ergebnis und die Statistiken. Von hier aus führt der Weg zu allen unternehmerischen Aktivitäten der Kirche. Der Funktionalismus stellt eine Art „Theologie des Wohlstands“ im organisatorischen Aspekt der Pastoral dar.
3. Der Klerikalismus ist ebenfalls eine sehr aktuelle Versuchung in Lateinamerika. Seltsamerweise handelt es sich in der Mehrheit der Fälle um eine sündige Komplizenschaft: Der Pfarrer klerikalisiert, und der Laie bittet ihn höflich, ihn zu klerikalisieren, weil es sich im Grunde für ihn als bequemer erweist. Das Phänomen des Klerikalismus erklärt weithin den Mangel an Reife und christlicher Freiheit in einem Teil des lateinamerikanischen Laientums. Entweder wächst es nicht (in der Mehrheit der Fälle) oder es kauert sich unter den Schutz von Ideologisierungen, wie wir sie schon gesehen haben, bzw. richtet sich in begrenzten Teilzugehörigkeiten ein. Es gibt in unseren Ländern eine Form von Freiheit der Laien durch Erfahrungen auf der Ebene des Volkes: der Katholik als Volk. Hier ist eine größere, im allgemeinen gesunde Autonomie zu beobachten, die grundsätzlich in der Volksfrömmigkeit ihren Ausdruck findet. Das Kapitel des Dokuments von Aparecida über die Volksfrömmigkeit beschreibt diese Dimension gründlich. Der Entwurf der Bibelgruppen, der kirchlichen Basisgemeinden und der Pastoralräte geht in die Richtung der Überwindung des Klerikalismus und eines Anwachsens der Verantwortung der Laien.
Wir könnten fortfahren und weitere Versuchungen gegen den Auftrag als Jünger und Missionar beschreiben, aber ich glaube, dass diese zum augenblicklichen Zeitpunkt die wichtigsten und stärksten in Lateinamerika und in der Karibik sind.
5. Einige ekklesiologische Kriterien
1.Der Auftrag als Jünger und Missionar, den Aparecida den Kirchen von Lateinamerika und der Karibik nahe legte, ist der Weg, den Gott für dieses „heute“ will. Alle utopische (auf die Zukunft gerichtete) oder restaurative (auf die Vergangenheit gerichtete) Projektion kommt nicht aus einem guten Geist. Gott ist real und zeigt sich im „Heute“. Im Hinblick auf die Vergangenheit schenkt seine Gegenwart sich uns als „Gedächtnis“ des großen Heilswerkes sowohl in seinem Volk als auch in jedem von uns; im Hinblick auf die Zukunft schenkt sie sich uns als „Verheißung“ und Hoffnung. In der Vergangenheit war Gott zugegen und hat seine Spuren hinterlassen: Das Gedächtnis hilft uns, ihm zu begegnen. Für die Zukunft ist er nur Verheißung… und nicht in den tausendundeinen „möglichen Zukünften“. Das „Heute“ ist der Ewigkeit am ähnlichsten; mehr noch: Das „Heute“ ist ein Funke der Ewigkeit. Im „Heute“ steht das ewige Leben auf dem Spiel.
Der Auftrag als Jünger und Missionar ist eine Berufung: Ruf und Einladung. Er geschieht in einem „Heute“, jedoch „in Spannung“. Es gibt keine statische missionarische Jüngerschaft. Der Jünger und Missionar kann sich selbst nicht besitzen; seine Immanenz ist ausgespannt auf die Transzendenz des Jüngerseins und auf die Transzendenz der Mission hin. Sie lässt keine Selbstbezogenheit zu: Entweder ist sie auf Jesus Christus bezogen oder auf das Volk, dem die Verkündigung gilt. Ein Subjekt, das über sich selbst hinausgeht. Ein Subjekt, das auf die Begegnung hin ausgerichtet ist: auf die Begegnung mit dem Meister (der uns zu Jüngern salbt) und auf die Begegnung mit den Menschen, die auf die Verkündigung warten.
Darum sage ich gerne, dass die Position des Jüngers und Missionars nicht eine Zentrums-Position ist, sondern eine der Peripherien: Er lebt in der Spannung auf die Randzonen hin… einschließlich derer der Ewigkeit in der Begegnung mit Jesus Christus. In der Verkündigung des Evangeliums von „existentiellen Peripherien“ zu sprechen dezentralisiert, rückt aus dem Zentrum heraus, und gewöhnlich haben wir Angst, das Zentrum zu verlassen. Der missionarische Jünger ist ein „Dezentralisierter“: das Zentrum ist Jesus Christus, der einberuft und aussendet. Der Jünger ist an die Randgebiete der Existenz gesandt.
2. Die Kirche ist eine Stiftung, doch wenn sie sich zum „Mittelpunkt“ erhebt, „funktionalisiert“ sie sich selbst und verwandelt sich allmählich in eine NGO. Dann maßt die Kirche sich an, eigenes Licht zu besitzen und hört auf, jenes “mysterium lunae“ zu sein, von dem uns die heiligen Väter sprechen. Sie wird immer selbstbezogener, und ihr Bedürfnis, missionarisch zu sein, schwächt sich ab. Aus einer „Stiftung“ wird sie zu einem „Werk“. Sie hört auf, Braut zu sein, um schließlich das Wesen einer „Verwalterin“ anzunehmen; von einer Dienerin verwandelt sie sich in eine „Kontrolleurin“. Aparecida will eine Kirche, die Braut, Mutter, Dienerin ist, eine, die mehr den Glauben erleichtert, als ihn kontrolliert.
3. In Aparecida werden mit besonderer Relevanz zwei pastorale Kategorien angegeben, die aus der Ursprünglichkeit des Evangeliums selbst hervorgehen und uns auch als Maßstab dienen können, um die Art zu beurteilen, wie wir kirchlich den Auftrag als Jünger und Missionar leben: die Nähe und die Begegnung. Keine der beiden ist neu, sondern sie stellen die Weise dar, in der Gott sich in der Geschichte offenbart hat. Er ist der „nahe Gott“ für sein Volk – eine Nähe, die ihren Höhepunkt in der Inkarnation erreicht. Er ist der Gott, der hinausgeht, seinem Volk entgegengeht. Es gibt in Lateinamerika und in der Karibik „ferne“ Pastoralkonzepte, Formen einer Disziplinarpastoral, welche die Grundsätze, das Verhalten, die organisatorischen Vorgehensweisen bevorzugen… natürlich ohne Nähe, ohne einfühlsame Zuneigung, ohne Liebkosung. Man ignoriert die „Revolution der einfühlsamen Zuneigung“, die die Inkarnation des Wortes auslöste. Es gibt Pastoralkonzepte, die derart auf Distanz angelegt sind, dass sie unfähig sind, eine Begegnung herbeizuführen: die Begegnung mit Jesus Christus, die Begegnung mit den Brüdern und Schwestern. Von dieser Art der Pastoralkonzepte kann man sich höchstens eine Dimension des Proselytismus erwarten, doch nie werden sie dazu führen, eine kirchliche Eingliederung oder eine kirchliche Zugehörigkeit zu erreichen. Die Nähe schafft Gemeinschaft und Zugehörigkeit, macht die Begegnung möglich. Die Nähe nimmt die Form eines Dialogs an und schafft eine Kultur der Begegnung. Ein Prüfstein, um die Nähe und die Fähigkeit zur Begegnung einer Pastoral zu messen, ist die Predigt. Wie sind unsere Predigten? Nähern sie uns dem Beispiel unseres Herrn an, der „sprach wie einer, der Vollmacht hat“, oder verkünden sie nur Vorschriften, sind fern und abstrakt?
4. Derjenige, der die Pastoral, die Kontinentalmission (sowohl die programmatische als auch die paradigmatische) leitet, ist der Bischof. Der Bischof muss leiten, was nicht dasselbe ist wie sich als Herr aufzuspielen. Ich möchte hier nicht nur die großen Gestalten des lateinamerikanischen Episkopats hervorheben, die wir alle kennen, sondern außerdem einige Züge des Profils des Bischofs skizzieren, die ich bereits bei den Nuntien in der Versammlung, die wir in Rom hatten, erwähnt habe. Die Bischöfe müssen Hirten sein, nahe am Volk, Väter und Brüder, mit viel Milde; geduldig und barmherzig. Menschen, die die Armut lieben, sowohl die innere Armut als Freiheit vor dem Herrn, als auch die äußere Armut als Einfachheit und Strenge in der persönlichen Lebensführung. Männer, die nicht eine „Prinzen-Psychologie“ besitzen. Männer, die nicht ehrgeizig sind und die Bräutigam einer Kirche sind, ohne nach einer anderen Ausschau zu halten. Männer, die fähig sind, über die ihnen anvertraute Herde zu wachen und sich um alles zu kümmern, was sie zusammenhält: über ihr Volk zu wachen und Acht zu geben auf eventuelle Gefahren, die es bedrohen, doch vor allem, um die Hoffnung zu mehren: dass die Menschen Sonne und Licht im Herzen haben. Männer, die fähig sind, mit Liebe und Geduld die Schritte Gottes in seinem Volk zu unterstützen. Und der Platz, an dem der Bischof bei seinem Volk stehen muss, ist dreifach: entweder vorne, um den Weg anzuzeigen, oder in mitten unter ihnen, um sie geeint zu halten und Auflösungserscheinungen zu neutralisieren, oder auch dahinter, um dafür zu sorgen, dass niemand zurückbleibt, aber auch und grundsätzlich, weil die Herde selbst ihren eigenen Spürsinn hat, um neue Wege zu finden.
Ich möchte nicht ausufern in weiteren Einzelheiten über die Person des Bischofs, sondern schlicht hinzufügen – und dabei mich selber einschließen –, dass wir in Bezug auf die Umkehr in der Pastoral ein wenig in Verzug sind. Es ist angebracht, dass wir einander ein bisschen mehr helfen, die Schritte zu tun, die der Herr von uns in diesem „Heute“ Lateinamerikas und der Karibik verlangt. Und es wäre gut, von hier aus damit zu beginnen.
Ich danke euch für die Geduld, mir zugehört zu haben. Verzeiht die Unordnung der Rede und, bitte, nehmen wir unsere Berufung als Diener des heiligen Volkes der Gottgläubigen ernst, denn gerade darin übt man die Autorität aus und lässt sie erkennen: in der Fähigkeit zum Dienst. Vielen Dank.
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