JOHANNES PAUL II.
APOSTOLISCHES SCHREIBEN ZUM 50. JAHRESTAG
DES BEGINNS DES ZWEITEN WELTKRIEGS
An meine Brüder im Bischofsamt,
an die Priester und die Ordensfamilien,
an die Söhne und Töchter der Kirche, an die Regierungen,
an alle Menschen guten Willens
Die Stunde der Dunkelheit
1. »Du hast mich ins tiefe Grab gebracht, tief hinab in finstere Nacht« (Ps 88,7). Wieviele Male hat dieser Aufschrei des Leids sich nicht aus den Herzen von Millionen von Frauen und Männern erheben müssen, die vom 1. September 1939 bis zum Ende des Sommers 1945 von einer der zerstörerischsten und unmenschlichsten Tragödien unserer Geschichte heimgesucht worden sind!
Während Europa noch unter dem Schock der Gewaltakte stand, die durch das Reich verübt worden waren und zum Anschluß von Österreich, zur Zerstückelung der Tschechoslowakei und zur Eroberung von Albanien geführt hatten, sah Polen sich am ersten Tag des Monats September 1939 vom Westen durch den Einmarsch der deutschen Truppen überfallen und am 17. desselben Monats vom Osten durch den der Roten Armee. Die Vernichtung des polnischen Heeres und das Martyrium eines ganzen Volkes sollten leider nur das Vorspiel für das Schicksal werden, das bald zahlreichen europäischen Völkern und in der Folge vielen anderen im größten Teil der fünf Kontinente zuteil werden würde.
Seit 1940 besetzten die Deutschen nämlich Norwegen, Dänemark, Holland, Belgien und die Hälfte von Frankreich. Während dieser Zeit annektierte die Sowjetunion, nachdem sie sich schon durch einen Teil von Polen vergrößert hatte, Estland, Lettland und Litauen und nahm von Rumänien Bessarabien und gewisse Territorien von Finnland in Besitz.
Dann begannen der Krieg und die menschlichen Dramen, die ihn unerbittlich begleiten, wie ein um sich greifendes zerstörerisches Feuer schnell die Grenzen des »alten Kontinents« zu überschreiten, um »weltweit« zu werden. Einerseits trugen Deutschland und Italien die Kämpfe über den Balkan hinaus und in das an das Mittelmeer angrenzende Afrika, andererseits marschierten die deutschen Truppen in Rußland ein. Schließlich stürzten die Japaner durch die Zerstörung von Pearl Harbour die Vereinigten Staaten in den Krieg an der Seite von England. Das Jahr 1941 ging zu Ende.
Man mußte bis 1943 warten, bis mit dem Erfolg der russischen Gegenoffensive, die die Stadt Stalingrad aus der deutschen Umklammerung befreite, eine Wende in der Geschichte des Krieges eintrat. Den alliierten Mächten einerseits und den sowjetischen Truppen andererseits gelang es schließlich um den Preis erbitterter Kämpfe, die von Ägypten bis Moskau Millionen von schutzlosen Menschen unter der Zivilbevölkerung unsagbares Leid zufügten, Deutschland zu besiegen. Am 8. Mai 1945 bot dieses seine bedingungslose Kapitulation an.
Aber der Kampf ging weiter im Pazifik. Um seine Beendigung zu beschleunigen, wurden am Beginn des Monats August desselben Jahres zwei Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Am folgenden Tag nach diesem entsetzlichen Geschehen präsentierte auch Japan seinerseits sein Kapitulationsgesuch. Es war der 10. August 1945.
Kein anderer Krieg hat so sehr den Namen »Weltkrieg« verdient. Er war auch ein totaler Krieg. Denn man darf nicht vergessen, daß sich zu den Kriegshandlungen zu Lande auch Luftkämpfe und Seeschlachten auf allen Weltmeeren hinzugesellten. Ganze Städte wurden das Opfer schonungsloser Zerstörung, die die verstörte Bevölkerung in Furcht und Elend stürzte. Rom selbst wurde bedroht. Die Intervention von Papst Pius XII. verhinderte es, daß die Stadt zum Kampfplatz wurde.
Dies ist das düstere Bild der Ereignisse, deren wir heute gedenken. Sie sind verantwortlich für den Tod von fünfundfünfzig Millionen Menschen, hinterließen die Sieger gespalten und ein Europa, das wieder neu aufgebaut werden mußte.
Sich erinnern
2. Fünfzig Jahre danach haben wir die Pflicht, uns vor Gott dieser dramatischen Tatsachen zu erinnern, um die Toten zu ehren und all denen unsere Anteilnahme zu bekunden, die diese Flut der Grausamkeit in ihren Herzen und Körpern verwundet hat, indem wir zugleich die Beleidigungen verzeihen.
In meiner pastoralen Sorge für die ganze Kirche und besorgt um das Wohl der ganzen Menschheit, konnte ich diesen Jahrestag nicht verstreichen lassen, ohne die Brüder im Bischofsamt, die Priester und die Gläubigen sowie alle Menschen guten Willens dazu einzuladen, über den Prozeß nachzudenken, der diesen Konflikt bis an den Abgrund der Unmenschlichkeit und der Trostlosigkeit geführt hat.
Wir haben nämlich die Pflicht, aus dieser Vergangenheit eine Lehre zu ziehen, auf daß sich das Bündel der Ursachen nie wiederholen kann, die imstande wären, einen ähnlichen Weltbrand neu zu entfachen.
Wir wissen es inzwischen aus Erfahrung, daß die willkürliche Teilung von Nationen, die zwangsweise Umsiedlung von Volksgruppen, die unbegrenzte Wiederaufrüstung, der unkontrollierte Gebrauch hochtechnisierter Waffen, die Verletzung der Grundrechte der Personen und Völker, die Nichtbeachtung der internationalen Verhaltensregeln sowie die Auferlegung von totalitären Ideologien nur zum Ruin der Menschheit führen können.
Initiativen des Heiligen Stuhles
3. Vom Beginn seines Pontifikates an, am 2. März 1939, hat es Papst Pius XII. nicht unterlassen, zum Frieden aufzurufen, den alle übereinstimmend als ernsthaft gefährdet betrachteten. Einige Tage vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten, am 24. August 1939, hat er warnende Worte gesprochen, deren Echo noch widerhallt: »Wiederum schlägt eine schwere Stunde für die große Menschheitsfamilie… Die Gefahr ist imminent, aber es ist noch Zeit. Nichts ist verloren mit dem Frieden. Alles kann verloren sein mit dem Krieg« (Radiobotschaft vom 24. August 1939: AAS, 31 (1939), S. 334).
Leider ist die Warnung dieses großen Papstes nicht gehört worden, und das Unglück ist eingetreten. Nachdem der Heilige Stuhl nicht dazu beitragen konnte, den Krieg zu verhindern, hat er sich – im Rahmen seiner Möglichkeiten – darum bemüht, seine Ausdehnung einzuschränken. Der Papst und seine Mitarbeiter haben sich sowohl auf diplomatischer Ebene wie auch im humanitären Bereich unermüdlich dafür eingesetzt, ohne sich dazu verleiten zu lassen, im Konflikt Partei zu ergreifen, der Völker verschiedener Ideologien und Religionen entzweite. Bei diesen Bemühungen trugen sie auch dafür Sorge, daß die Lage der Völker, die außergewöhnlichen Prüfungen ausgesetzt waren, nicht erschwert und ihre Sicherheit nicht beeinträchtigt wurden. Hören wir noch einmal Papst Pius XII., als er zu dem, was sich in Polen ereignete, sagte: »Wir müßten feurige Worte gegen solche Geschehnisse sagen; der einzige Grund, der uns davon abrät, ist das Wissen darum, daß, wenn wir reden, wir die Lage jener Unglücklichen noch schwerer machen würden« (Actes et Documents du Saint-Siège relatifs à la seconde guerre mondiale, Libreria Editrice Vaticana, 1970, Vol. 1, S. 455.).
Einige Monate nach der Konferenz von Jalta (1.–11. Februar 1945), als der Krieg in Europa gerade beendet war, hat derselbe Papst in seiner Ansprache an das Kardinalskollegium am 2. Juni 1945 es nicht unterlassen, seine Aufmerksamkeit auf die Zukunft der Welt zu richten und den Sieg des Rechtes zu fordern: »Die Nationen, besonders die kleinen und die von mittlerer Größe, verlangen, daß es ihnen gestattet wird, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Sie können dazu bewogen werden, nach ihrem freien Ermessen und im Interesse des gemeinsamen Fortschritts Verpflichtungen zu übernehmen, die ihre souveränen Rechte beeinträchtigen. Nachdem sie aber zur Vernichtung des Systems brutaler Gewalt ihren Teil, ihren großen Teil an Opfern beigetragen haben, haben sie das Recht, es nicht zu dulden, daß ihnen ein neues politisches oder kulturelles System aufgezwungen wird, das die große Mehrheit ihrer Bevölkerung entschieden ablehnt… Im Grunde ihres Gewissens fühlen die Völker, daß ihre politischen Führer sich in Mißkredit bringen, wenn sie dem Wahnsinn einer Vorherrschaft der Gewalt nicht den Sieg des Rechtes folgen lassen« (AAS, 37 (1945), S. 166.)
Der verachtete Mensch
4. Dieser »Sieg des Rechtes« bleibt die beste Garantie für die Achtung der Personen. Wenn man auf die Geschichte dieser sechs furchtbaren Jahre zurückschaut, kann man nur zu Recht bestürzt sein über die Verachtung, der der Mensch ausgesetzt war.
Zu den materiellen Ruinen, zur Vernichtung der wirtschaftlichen und industriellen Grundlagen der durch die Kämpfe und Zerstörungen verwüsteten Länder – eine Zerstörung, die bis zum nuklearen Holocaust von zwei japanischen Städten gegangen ist – haben sich Massaker und Elend hinzugesellt.
Ich denke besonders an das grausame Schicksal, das den Völkern im weiten Raum des Ostens zugefügt worden ist. Ich selbst bin erschütterter Zeuge dessen gewesen an der Seite des Erzbischofs von Krakau, Msgr. Adam Stefan Sapieha. Die inhumanen Zwangsmaßnahmen der jeweiligen Besatzungsmacht haben auf brutale Weise die Gegner und die verdächtigen Personen getroffen, während die Frauen, Kinder und die alten Leute ständigen Demütigungen unterworfen waren.
Auch kann man das Drama nicht vergessen, das durch die gewaltsame Umsiedlung von Volksgruppen verursacht worden ist, die auf die Straßen Europas geworfen wurden, allen Gefahren ausgesetzt und auf der Suche nach einer Unterkunft und nach Lebensmitteln.
Eine besondere Erwähnung gebührt sodann noch den Kriegsgefangenen, die in der Isolierung, in Entbehrung und Demütigung ebenfalls nach der Härte der Kämpfe einen weiteren schweren Tribut gezahlt haben.
Schließlich muß noch daran erinnert werden, daß die Bildung von Regierungen, die durch die Besatzungsmacht in den Staaten Zentral- und Osteuropas aufgezwungen worden sind, von repressiven Maßnahmen und sogar von einer Vielzahl von Hinrichtungen begleitet worden ist, um die sich auflehnende Bevölkerung zu unterwerfen.
Die Verfolgung der Juden
5. Unter all diesen unmenschlichen Maßnahmen gibt es aber eine, die für immer eine Schande für die Menschheit bleiben wird: die organisierte Barbarei, die gegen das jüdische Volk gewütet hat.
Für die »Endlösung« bestimmt, die von einer irrsinnigen Ideologie ausgedacht worden war, sind die Juden kaum zu beschreibenden Entbehrungen und Grausamkeiten unterworfen worden. Zuerst verfolgt durch unterdrückende oder diskriminierende Maßnahmen, endeten sie schließlich zu Millionen in den Vernichtungslagern.
Die Juden in Polen haben mehr als andere diese Kalvarienstunde erlebt: Die Bilder von der Belagerung des Ghettos in Warschau wie auch das, was man über die Lager von Auschwitz, Majdanek oder Treblinka gehört hat, übersteigen an Entsetzen das menschliche Fassungsvermögen.
Es muß ferner daran erinnert werden, daß dieser mörderische Wahnsinn sich auch gegen viele andere Gruppen gerichtet hat, die nur den Fehler hatten, »verschieden« zu sein, oder die sich gegen die Tyrannei der Besatzungsmacht zur Wehr gesetzt haben.
Aus Anlaß dieses schmerzvollen Jahrestages richte ich mich noch einmal an alle Menschen. Ich lade sie ein, ihre Vorurteile zu überwinden und gegen alle Formen des Rassismus anzukämpfen, indem man bereit ist, in jedem Menschen die fundamentale Würde und das Gute in ihm anzuerkennen sowie sich immer mehr dessen bewußt zu werden, daß alle zu einer einzigen Menschheitsfamilie gehören, die von Gott gewollt und zusammengeführt worden ist.
Ich möchte hier mit Nachdruck wiederholen, daß die Feindschaft oder der Haß gegen das Judentum im vollkommenen Gegensatz zu der christlichen Sicht von der Würde des Menschen stehen.
Die Prüfungen der katholischen Kirche
6. Das Neuheidentum und die Systeme, die mit ihm verbunden waren, wüteten gewiß gegen die Juden, sie richteten sich aber gleichermaßen gegen das Christentum, dessen Lehre die Seele Europas geformt hat. Durch die Verfolgung des Volkes, »dem Christus dem Fleisch nach entstammte« (Röm 9,5), ist die evangelische Botschaft von der gleichen Würde aller Kinder Gottes verhöhnt worden.
Mein Vorgänger Papst Pius XI. hat klar gesehen, als er in seiner Enzyklika Mit brennender Sorge erklärte: »Wer immer die Rasse oder das Volk, den Staat oder eine seiner bestimmenden Formen, die Machthaber oder andere grundlegende Elemente der menschlichen Gesellschaft zum höchsten Maßstab von allem macht, auch der religiösen Werte, und sie durch einen Götzenkult vergöttlicht, der pervertiert und verfälscht die Ordnung der Dinge, die von Gott geschaffen und gewollt ist.« (14. März 1937: AAS, 29 (1937), S. 149 und S. 171.)
Diese Anmaßung der Ideologie des nationalsozialistischen Systems hat auch die Kirchen nicht verschont, die katholische Kirche im besonderen, die vor und während des Konfliktes ebenfalls das Leiden kennengelernt hat. Ihr Schicksal ist gewiß auch nicht besser gewesen in den Gegenden, wo die marxistische Ideologie des dialektischen Materialismus sich gewaltsam durchgesetzt hat.
Dennoch müssen wir Gott danken für die zahlreichen Zeugen, bekannte und unbekannte, die in jenen Stunden der Prüfung den Mut gehabt haben, unerschrocken ihren Glauben zu bekennen, die es verstanden haben, sich gegen die atheistische Willkür zu erheben, und die sich vor der Gewalt nicht gebeugt haben.
Totalitarismus und Religion
7. Denn im Grunde haben das nationalsozialistische Heidentum wie das marxistische Dogma dies gemeinsam, daß sie totalitäre Ideologien sind und dazu neigen, Ersatzreligionen zu werden.
Schon lange vor dem Jahre 1939 zeigte sich in gewissen Bereichen der europäischen Kultur der Wille, Gott und sein Bild aus dem Horizont des Menschen zu entfernen. Man begann, die Kinder vom jüngsten Alter an in diesem Sinne zu indoktrinieren.
Die Erfahrung hat den traurigen Beweis erbracht, daß der Mensch, welcher allein der Macht des Menschen ausgeliefert und in seiner religiösen Sehnsucht verstümmelt ist, sehr schnell zu einer Nummer oder einem bloßen Objekt wird. Im übrigen hat noch kein Zeitalter die Gefahr vermeiden können, daß sich der Mensch in einer Haltung stolzer Selbstgenügsamkeit in sich selbst verschloß. Diese Gefahr aber hat sich in diesem Jahrhundert in dem Maße verschärft, wie Waffengewalt, Wissenschaft und Technik dem heutigen Menschen die Illusion haben geben können, der alleinige Herr und Meister von Natur und Geschichte zu werden. Ein solcher Anspruch liegt den Auswüchsen zugrunde, die wir heute beklagen.
Der moralische Abgrund, in den die Verachtung Gottes und damit auch des Menschen die Welt vor fünfzig Jahren hinabgestürzt hat, läßt uns die Macht des »Herrschers dieser Welt« (Joh 14,30) mit Händen greifen: Er vermag die Gewissen zu verführen durch die Lüge, durch die Verachtung des Menschen und des Rechtes, durch den Kult von Herrschaft und Macht.
An all das erinnern wir uns heute und bedenken dabei, zu welch extremen Folgen die Aufgabe jeglicher Achtung vor Gott und jeglichen transzendenten Moralgesetzes führen kann.
Achtung des Völkerrechts
8. Was aber für den Menschen gilt, das gilt ebenso für die Völker. Sich an die Ereignisse von 1939 zu erinnern, bedeutet auch, sich deutlich zu machen, daß der letzte Weltkrieg als Ursache die Zerstörung der Rechte der Völker wie der Personen hatte. Darauf habe ich noch gestern hingewiesen, als ich mich an die Polnische Bischofskonferenz wandte.
Es gibt keinen Frieden, wenn nicht die Rechte aller Völker – und insbesondere der verwundbarsten – respektiert werden! Das gesamte Gebäude des internationalen Rechtes ruht auf dem Grundsatz der gleichen Achtung für die Staaten, des Rechtes auf Selbstbestimmung eines jeden Volkes und der freiwilligen Zusammenarbeit der Völker für das höhere Gemeinwohl der Menschheit.
Es ist wesentlich, daß sich heute solche Situationen nicht mehr wiederholen, wie sie in Polen von 1939 bestanden, als es nach dem Belieben skrupelloser Eindringlinge verwüstet und zerstückelt wurde. Man kommt nicht umhin, an dieser Stelle auch an die Länder zu denken, die noch nicht ihre volle Unabhängigkeit erlangt haben, sowie an jene, die davon bedroht sind, sie zu verlieren. In diesem Zusammenhang und gerade in diesen Tagen muß man den Fall des Libanon hervorheben, wo miteinander verbündete Mächte, die dabei ihre eigenen Interessen verfolgen, nicht zögern, sogar die Existenz einer Nation in Gefahr zu bringen.
Wir wollen nicht vergessen, daß die Organisation der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist als ein Instrument des Dialoges und des Friedens, gegründet auf der Achtung vor den gleichen Rechten der Völker.
Abrüstung
9. Eine der wesentlichen Bedingungen für dieses »Zusammenleben« ist jedoch die Abrüstung.
Die fürchterlichen Prüfungen, welche Soldaten und Zivilbevölkerung zur Zeit des Zweiten Weltkrieges erduldeten, müssen die Verantwortlichen der Nationen dazu antreiben, alles zu tun, daß man unverzüglich zur Erarbeitung von Prozessen der Kooperation, der Kontrolle und der Abrüstung gelangt, die den Krieg undenkbar machen. Wer wollte es noch wagen, den Gebrauch von grausamsten Waffen, welche die Menschen töten und ihre Werke zerstören, zu rechtfertigen, um Streitfälle zwischen den Staaten zu lösen? Wie ich bei anderer Gelegenheit gesagt habe, »ist der Krieg in sich selbst irrational, und … der ethische Grundsatz, Konflikte friedlich zu regeln, ist der einzige Weg, der des Menschen würdig ist« (Botschaft zum Weltfriedenstag, 8. Dezember 1983, Nr. 4: AAS, 76 (1984), S. 295.).
Deshalb müssen wir unbedingt die Verhandlungen ermutigen, die zur Zeit für die Abrüstung nuklearer und konventioneller Waffen sowie für die völlige Ächtung chemischer und anderer Waffen stattfinden. Der Heilige Stuhl hat schon mehrmals erklärt, daß er es für notwendig hält, daß sich die Verhandlungsparteien wenigstens auf ein möglichst niedriges Waffenniveau verständigen, das mit ihren Bedürfnissen an Sicherheit und Verteidigung vereinbar ist.
Diese hoffnungsvollen Initiativen haben allerdings nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie getragen und begleitet sind von der Bereitschaft, die Zusammenarbeit ebenso auf anderen Gebieten, vor allem im Bereich von Wirtschaft und Kultur, zu verstärken. Die jüngste Versammlung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die kürzlich in Paris zum Thema der »menschlichen Dimension« stattgefunden hat, hat das Verlangen der Länder in beiden Teilen Europas offenkundig gemacht, überall die Ordnung des Rechtsstaates errichtet zu sehen. Diese Staatsform erscheint ja in der Tat als der beste Garant für die Rechte der Person – darunter das Recht auf Religionsfreiheit –, deren Achtung ein unersetzlicher Faktor für den sozialen und internationalen Frieden ist.
Erziehung der jungen Generationen
10. Durch die Irrtümer und Fehler der Vergangenheit klug geworden, haben die Europäer von heute schließlich die Pflicht, an die jungen Generationen einen Lebensstil und eine Kultur weiterzugeben, die von Solidarität und Achtung vor dem Nächsten getragen sind. In dieser Hinsicht müßte das Christentum, das die geistigen Werte dieses Kontinents so tief geprägt hat, eine Quelle ständiger Inspiration sein: Seine Lehre von der Person, die nach dem Bilde Gottes erschaffen ist, kann gewiß zum Erstarken eines erneuerten Humanismus beitragen.
In der unvermeidlichen sozialen Auseinandersetzung, bei der unterschiedliche Auffassungen von der Gesellschaft aufeinandertreffen, sind es sich die Erwachsenen schuldig, ein Beispiel für die Achtung des Nächsten zu geben, indem sie jeweils den Teil der Wahrheit anerkennen, der sich beim andern findet.
In einem Kontinent mit vielen Kontrasten muß man beständig lernen, sich unter den Personen, Volksgruppen und Ländern mit unterschiedlicher Kultur, Religion oder Sozialordnung gegenseitig anzunehmen.
Die Erzieher und die Medien spielen in dieser Hinsicht eine grundlegende Rolle. Leider muß man feststellen, daß die Erziehung zur Achtung vor der Würde der Person, die nach Gottes Bild erschaffen ist, ganz sicher nicht gefördert wird durch Darbietungen von Gewalt und Unmoral, wie sie die sozialen Kommunikationsmittel allzuoft verbreiten: Das sich heranbildende Gewissen junger Menschen wird dabei verunsichert und der moralische Sinn der Erwachsenen abgestumpft.
Förderung ethischer Werte im öffentlichen Leben
11. Das öffentliche Leben kann nicht auf ethische Kriterien verzichten. Der Friede wird zuallererst auf dem Feld menschlicher Werte gewonnen, die von den Bürgern und Völkern gelebt und weitergegeben werden. Wenn das moralische Gewebe einer Nation brüchig wird, ist alles zu befürchten.
Die wache Erinnerung an die Vergangenheit müßte uns heutige Zeitgenossen aufmerksam machen für die stets möglichen Mißbräuche im Umgang mit der Freiheit, welche die Generation dieser Epoche zum Preis so vieler Opfer errungen hat. Das empfindliche Gleichgewicht des Friedens könnte in Gefahr geraten, wenn in den Herzen erneut solche Übel erwachten wie Rassenhaß, Fremdenverachtung, Ausgrenzung der Kranken und Alten, Ausschluß der Armen, Anwendung von privater und kollektiver Gewalt.
Aufgabe der Bürger ist es, unter den politischen Entwürfen diejenigen herausfinden zu können, die sich an Vernunft und moralischen Werten ausrichten; den Staaten kommt es zu, darauf zu achten, daß die Ursachen für Verbitterung oder Ungeduld dieser oder jener benachteiligten Gruppe der Gesellschaft eingegrenzt werden.
Appell an Europa
12. Euch, den Staatsmännern und Verantwortlichen der Nationen, bekunde ich noch einmal meine tiefe Überzeugung, daß die Achtung vor Gott und die Achtung vor den Menschen zusammengehören. Sie stellen das absolut notwendige Prinzip dar, das es den Staaten und politischen Blöcken ermöglichen wird, ihre Gegensätze zu überwinden.
Insbesondere können wir nicht Europa vergessen, wo jener schreckliche Krieg entstanden ist und das sechs Jahre lang eine wahre »Passion« durchlebt hat, bei der es zerstört wurde und ausgeblutet ist. Nach 1945 sind wir Zeugen und Teilnehmer an lobenswerten und erfolgreichen Anstrengungen geworden, um Europa in materieller wie geistiger Hinsicht wieder aufzubauen.
Gestern hat dieser Kontinent den Krieg exportiert; heute kommt es ihm zu, »Baumeister des Friedens« zu sein. Ich habe das Vertrauen, daß die Botschaft von Humanismus und Befreiung, ein Erbe seiner christlichen Geschichte, die Völker noch immer zu befruchten vermag und auch weiterhin in der Welt aufleuchten wird.
Ja, Europa, alle schauen auf dich, weil sie sich bewußt sind, daß du immer noch eine Botschaft zu verkünden hast, nach dem Schiffbruch jener Jahre des Feuers: daß wahre Zivilisation nicht in der Gewalt liegt; daß sie vielmehr die Frucht des Sieges über sich selbst darstellt, über die Mächte von Ungerechtigkeit, Egoismus und Haß, die den Menschen sogar ganz und gar entstellen können.
Botschaft an die Katholiken
13. Zum Schluß möchte ich mich in ganz besonderer Weise an die Hirten und Gläubigen der katholischen Kirche wenden.
Wir haben uns soeben an einen der mörderischsten Kriege der Geschichte erinnert, der auf einem Kontinent mit christlicher Tradition entstanden ist.
Eine solche Feststellung muß uns zu einer Gewissensprüfung über die Qualität der Evangelisierung Europas anspornen. Der Verfall der christlichen Werte, der die Irrtümer von gestern begünstigt hat, muß uns dafür wachsam machen, wie das Evangelium heute verkündet und gelebt wird.
Wir müssen leider beobachten, daß der moderne Mensch in vielen Bereichen seiner Existenz denkt, lebt und wirkt, als ob es Gott nicht gebe. Dort liegt dieselbe Gefahr wie gestern: der Mensch, der Macht des Menschen ausgeliefert.
Während Europa zur Zeit dabei ist, eine neue Gestalt anzunehmen, während in gewissen Ländern seines mittleren und östlichen Teils positive Entwicklungen stattfinden und die Verantwortlichen der Nationen zur Lösung der großen Probleme der Menschheit immer mehr zusammenarbeiten, ruft Gott seine Kirche dazu auf, ihren eigenen Beitrag zum Kommen einer brüderlicheren Welt zu leisten.
Zusammen mit den anderen christlichen Kirchen wollen wir, trotz unserer noch unvollkommenen Einheit, der Menschheit von heute erneut verkünden, daß der Mensch nur dann »wahr« ist, wenn er sich als Kreatur von Gott her empfängt; daß der Mensch nur dann seiner Würde bewußt ist, wenn er in sich selbst und in den anderen das Siegel Gottes erkennt, der ihn nach seinem Bild erschaffen hat; daß er nur in dem Maße »groß« ist, wie er aus seinem Leben eine Antwort auf die Liebe Gottes macht und sich dem Dienst an seinen Brüdern widmet.
Gott verzweifelt nicht am Menschen. Christen, auch wir dürfen nicht am Menschen verzweifeln; denn wir wissen, daß er stets größer ist als seine Irrtümer und Fehler.
In Erinnerung an die vom Herrn einst ausgerufene Seligpreisung: »Selig, die Frieden stiften!« (Mt 5,9), möchten wir alle Menschen einladen, um Dessentwillen, der mit seinem Leib ein für allemal »die Feindschaft getötet hat« (Eph 2,16), einander zu vergeben und zu dienen.
Maria, der Königin des Friedens, vertraue ich diese Menschheit an und empfehle ihrer mütterlichen Fürsprache die Geschichte, an der wir mitwirken.
Damit die Welt niemals mehr die Unmenschlichkeit und Barbarei erfahren muß, die sie vor fünfzig Jahren verwüstet haben, wollen wir ohne Unterlaß unseren Herrn Jesus Christus verkünden, »durch den wir jetzt schon die Versöhnung empfangen haben« (Röm 5,11), das Unterpfand der Versöhnung aller Menschen miteinander!
Sein Friede und sein Segen seien mit euch allen!
Aus dem Vatikan, am 27. August 1989, im elften Jahre meines Pontifikates.
JOHANNES PAUL II.
© Copyright 1989 - Libreria Editrice Vaticana
Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana