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JOHANNES PAUL II.

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 30. Mai 1984

DE  - ES  - IT  - PT

1. Wir führen unsere Analyse des Hohenliedes der Liebe fort, um zu einem besseren und erschöpfenderen Verständnis des sakramentalen Zeichens der Ehe zu gelangen, wie es die Sprache des Leibes zum Ausdruck bringt, die eine einzigartige Sprache der Liebe ist, die aus dem Herzen kommt. An einer Stelle sagt der Bräutigam, indem er eine außerordentliche Werterfahrung zum Ausdruck bringt, die alles beleuchtet, was auf die geliebte Person Bezug hat:
„Verzaubert hast du mich, meine Schwester, Braut; ja, verzaubert mit einem Blick deiner Augen, mit einer Perle deiner Halskette. Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, Braut …" (Hld 4,9-10).
Aus diesen Worten ergibt sich, daß es für die Theologie des Leibes — und in diesem Fall für die Theologie des sakramentalen Zeichens der Ehe — von entscheidender Bedeutung ist, zu wissen, wer das weibliche Du für das männliche Ich ist und umgekehrt.
Der Bräutigam des Hohenliedes ruft aus: „Alles an dir ist schön, meine Freundin!" (Hld 4,7) und nennt sie: „meine Schwester, Braut" (Hld 4,9). Er nennt sie nicht bei ihrem eigentlichen Namen, sondern gebraucht Ausdrücke, die mehr aussagen.
Unter einem gewissen Gesichtspunkt scheint im Vergleich zur Anrede „Freundin" das für die Braut gebrauchte „Schwester" vielsagender und stärker im Hohenlied als Ganzem verwurzelt zu sein, das kundtut, wie die Liebe den anderen enthüllt.

2. Das Wort „Freundin" gibt das an, was stets wesentlich ist für die Liebe, die das zweite Ich neben das eigene Ich stellt. Die Freundschaft — die Liebe der Freundschaft (amor amicitiae) — bedeutet im Hohenlied eine besondere Annäherung, die als innerlich einigende Kraft empfunden und erfahren wird. Die Tatsache, daß bei dieser Annäherung das weibliche Ich sich dem Bräutigam als Schwester enthüllt — und eben als Schwester, Braut ist —, hat eine besondere Bedeutung. Der Ausdruck „Schwester" spricht von der Einheit im Menschsein und zugleich von der Verschiedenheit und fraulichen Eigenart dieser Schwester nicht nur in bezug auf das Geschlecht, sondern auf die Weise des Personseins, und zwar in ihrem persönlichen Sein wie in ihrer Beziehung zu anderen. Das Wort „Schwester" scheint in einfacherer Form die Subjektivität des weiblichen Ich in der persönlichen Beziehung zum Mann auszudrücken, also in ihrer Öffnung gegenüber den anderen, die als Brüder verstanden und wahrgenommen werden. Die „Schwester" hilft gewissermaßen dem Mann, sich so zu verstehen und zu begreifen, indem sie für ihn so etwas wie eine Herausforderung in dieser Richtung darstellt.

3. Der Bräutigam des Hohenliedes nimmt die Herausforderung an und sucht nach der gemeinsamen Vergangenheit, als wären er und seine Braut aus dem Kreis derselben Familie hervorgegangen, als wären sie von Kindheit an durch die Erinnerungen an das gemeinsame Elternhaus verbunden. So fühlen sie sich einander nahe wie Bruder und Schwester, die ihr Leben derselben Mutter verdanken. Daraus ergibt sich ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Tatsache, daß sie sich als Bruder und Schwester fühlen, läßt sie die gegenseitige Nähe als Gewißheit leben und offenkundig machen, indem sie darin Stütze finden und nicht das ungerechte Urteil der anderen Menschen zu fürchten brauchen.
Die Worte des Bräutigams versuchen, möchte ich sagen, mit Hilfe der Anrede „Schwester" die Geschichte des Frauseins der geliebten Person wiederzugeben, sie sehen sie noch in der Zeit, als sie Kind war, und umfangen ihr ganzes Ich, Seele und Leib, mit einer selbstlosen Zärtlichkeit. Daraus erwächst jener Friede, von dem die Braut spricht. Es ist der „Friede des Leibes", der Ähnlichkeit hat mit dem Schlaf. „Stört die Liebe nicht auf, weckt sie nicht, bis es ihr selbst gefällt!" (Hld 2,7). Es ist vor allem der Friede der Begegnung im Menschsein als Ebenbild Gottes — und der Begegnung durch gegenseitige, selbstlose Hingabe: „Da habe ich in seinen Augen Gefallen gefunden" (Hld 8,10).

4. In bezug zur vorausgehenden Handlung, die man als geschwisterliches Spiel bezeichnen könnte, taucht in dem Liebesduett des Hohenliedes ein neuer Handlungsfaden auf: sagen wir, ein neuer Inhalt. Wir können ihn untersuchen, indem wir von bestimmten Wendungen ausgehen, denen im Gedicht so etwas wie eine Schlüssel½bedeutung zuzukommen scheint. Dieser Handlungsfaden tritt nie ausschließlich hervor, sondern zieht sich durch die ganze Komposition hin und wird nur an einigen Stellen ausdrücklich deutlich. So spricht der Bräutigam: „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, Braut, ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell" (Hld 4,12).
Diese Bilder — „verschlossener Garten, versiegelter Quell" — lassen das Vorhandensein einer anderen Vorstellung vom weiblichen Ich als Herrin ihres Geheimnisses erkennen. Man kann sagen, beide Bilder bringen die personale Würde der Frau zum Ausdruck, die als geistiges Wesen Herrin über sich ist und nicht nur über die metaphysische Tiefe, sondern auch über die Seinswahrheit und Authentizität der Selbsthingabe entscheiden kann, die jene Vereinigung anstrebt, von der das Buch Genesis spricht. Die Sprache der Bilder — die poetische Sprache — scheint gerade für diesen Bereich besonders geeignet und zutreffend zu sein. Die „Schwester, Braut" ist für den Mann Herrin ihres Geheimnisses wie ein „verschlossener Garten" und ein „versiegelter Quell". Die wieder in ihrer Wahrhaftigkeit verstandene Sprache des Leibes geht Hand in Hand mit der Entdeckung der inneren Unverletzlichkeit der Person. Gleichzeitig bringt gerade diese Entdeckung die wahre Tiefe der gegenseitigen Zugehörigkeit der Brautleute zum Ausdruck, die sich bewußt sind, daß sie einander gehören, daß sie füreinander bestimmt sind: „Der Geliebte ist mein, und ich bin sein" (Hld 2,16; vgl. 6,3).

5. Dieses Bewußtsein, einander zu gehören, spricht vor allem aus dem Munde der Braut. Sie antwortet mit solchen Worten gewissermaßen auf die Worte des Bräutigams, in denen er sie als Herrin ihres Geheimnisses anerkannt hat. Wenn die Braut sagt: „Der Geliebte ist mein", will sie damit zugleich sagen: Er ist es, dem ich mich anvertraue, und darum sagt sie: „und ich bin sein" (Hld 2,16). Die Possessivpronomina mein und meine bestätigen hier die ganze Tiefe jenes Vertrauens, das der inneren Wahrheit der Person entspricht.
Es entspricht darüber hinaus der bräutlichen Bedeutung des Frauseins in Beziehung zum männlichen Ich, das heißt zur Sprache des Leibes, die wieder in der Wahrheit der persönlichen Würde verstanden wird.
Diese Wahrheit wird vom Bräutigam in den Bildern vom „verschlossenen Garten" und „versiegelten Quell" ausgesprochen. Die Braut antwortet ihm mit den Worten der Hingabe, der vertrauensvollen Hingabe ihrer selbst. Als Herrin ihrer Entscheidung sagt sie: „Ich gehöre meinem Geliebten" (Hld 6,3). Das Hohelied der Liebe enthüllt sehr fein die innere Wahrheit dieser Antwort. Die Freiheit der Hingabe ist die Antwort auf das tiefe Bewußtsein der Hingabe, das sich in den Worten des Bräutigams ausdrückt. Durch solche Wahrheit und Freiheit wird die Liebe aufgebaut, von der man sagen darf, daß sie echte Liebe ist.

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Liebe Brüder und Schwestern!

Herzlich willkommen heiße ich euch alle zu dieser gemeinschaftlichen Begegnung mit dem Nachfolger Petri und mit Gläubigen aus aller Welt. Unsere wöchentlichen Überlegungen gelten zurzeit dem Geheimnis der bräutlichen Liebe zwischen Mann und Frau, wie sie im Hohenlied der Liebe dichterisch besungen und gepriesen wird. Der Bräutigam des Hohenliedes nennt seine Braut nicht bei ihrem Namen, sondern „meine Freundin“ und „meine Schwester“. Er deutet damit auf die tiefe Weise hin, wie sie sich in ihrer Liebe gegenseitig erkennen. Freundschaft besagt eine tiefempfundene Nähe, die mich mit dem Anderen innerlich verbindet. Die Bezeichnung „Schwester“ unterstreicht dazu noch die naturgegebene Einheit im selben Menschsein und zugleich ihre körperlich-personale Verschiedenheit als Mann und Frau.

Braut und Bräutigam fühlen sich gegenseitig verbunden wie Bruder und Schwester, die ihr Leben derselben Mutter verdanken. In dieser engen Zuordnung zueinander gründen ihre gegenseitige Zuneigung und der tiefe Friede in ihrer liebenden Begegnung. Im Weiteren nennt der Bräutigam des Hohenliedes seine Braut einen „verschlossenen Garten“, einen „versiegelten Quell“. Beide Bilder betonen die personale Würde der Frau, ihre innere Unantastbarkeit als Person, die über ihr Geheimnis selbst verfügt. Auf diese Anerkennung vonseiten des Bräutigams antwortet die Braut mit vertrauensvoller Hingabe, mit dem freien Geschenk ihrer selbst: „Der Geliebte ist mein, und ich bin sein.“ Vertiefen wir uns anhand dieses Bibeltextes in das Geheimnis der bräutlichen Liebe, das uns helfen kann, die Liebe Gottes zu uns Menschen tiefer zu verstehen; denn Gott ist Liebe.

Herzlich grüße ich mit dieser kurzen Betrachtung alle anwesenden Gruppen und Pilger aus Deutschland, Osterreich und der Schweiz; darunter namentlich die Pilgergruppe vom Auslandsekretariat in Bonn. Einen besonderen Willkommensgruß richte ich an die Mitglieder des Internationalen Paneuropa-Union und der Ludwig-Frank-Stiftung. Gern ermutige ich Sie in Ihren gemeinsamen Bemühungen mit all denen, die sich für eine geistige Erneuerung Europas aus den christlichen Wurzeln der adendländischen Kultur einsetzen. Möge die Besinnung auf das gemeinsame christliche Erbe die Völker des gesamten europäischen Kontinents zu ihrer ursprünglichen Einheit zurückführen, damit sie ihre spezifische Aufgabe in der Welt von heute wirksam zu erfüllen vermögen. Von Herzen erteile ich Ihnen und allen anwesenden deutschsprachigen Pilgern meinen besonderen Apostolischen Segen.