JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 3. Januar 1996
1. Der dogmatischen Konstitution Lumen Gentium folgend, die im VIII. Kapitel „mit Bedacht … sowohl die Aufgabe Marias im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes und seines mystischen Leibes wie auch die Pflichten der erlösten Menschen gegenüber der Gottesgebärerin“ beleuchten wollte, möchte ich in diesen Katechesen eine wesentliche Zusammenfassung des Glaubens der Kirche an Maria anbieten, jedoch, wie das Konzil bekräftigt, dass ich nicht im Sinn habe, „eine vollständige Lehre über Maria vorzulegen oder Fragen zu entscheiden, die durch die Arbeit der Theologen noch nicht völlig geklärt sind“ (Lumen Gentium, Nr. 54). Meine Absicht ist vor allem, „die Aufgabe Marias im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes und seines mystischen Leibes“ (ebd.) darzustellen, auf die Angaben der Schrift und der apostolischen Tradition zurückzugreifen und die lehramtliche Entwicklung zu berücksichtigen, die in der Kirche bis in unsere Zeit hervorgebracht wurde.
Weil außerdem Marias Rolle in der Heilsgeschichte eng mit dem Geheimnis Christi und der Kirche verbunden ist, werde ich diese wesentlichen Beziehungen nicht außer Acht lassen, die ihren großen, unerschöpflichen Reichtum enthüllen, indem sie der marianischen Lehre den rechten Stellenwert beimessen. Die Erforschung des Geheimnisses der Mutter des Herrn ist wirklich sehr ausgedehnt und hat im Laufe der Jahrhunderte viele Hirten und Theologen beschäftigt.
Einige haben sie, in dem Versuch, die Hauptaspekte der Mariologie hervorzuheben, manchmal zusammen mit der Christologie oder Ekklesiologie behandelt.
Aber wenn man ihre Beziehung zu allen Glaubensgeheimnissen in Betracht zieht, verdient Maria doch eine besondere Behandlung, die ihre Person und ihre Aufgabe in der Heilsgeschichte im Licht der Bibel und der kirchlichen Tradition herausstellt.
2. Es scheint außerdem notwendig, den Aussagen des Konzils folgend, „die Pflichten der erlösten Menschen gegenüber der Gottesgebärerin, der Mutter Christi und der Mutter der Menschen, vor allem der Gläubigen“, genau darzulegen (ebd.).
Denn die ihr vom göttlichen Heilsplan zugewiesene Rolle fordert von den Christen nicht nur Annahme und Beachtung, sondern auch konkretes Tun, das die dem Evangelium gemäßen Haltungen Marias, die der Kirche im Glauben und in der Heiligkeit vorangeht, ins Leben umsetzt. Die Mutter des Herrn ist also dazu bestimmt, auf die Gebetsweise der Gläubigen einen besonderen Einfluss auszuüben. Selbst die Liturgie der Kirche weist ihr einen herausragenden Platz in der Verehrung und im Leben jedes Gläubigen zu.
Zu betonen ist, dass die marianische Lehre und der Kult keine Früchte der Sentimentalität sind. Das Geheimnis Marias ist eine offenbarte Wahrheit, die sich dem Verstand der Gläubigen aufdrängt und von denen, die in der Kirche die Aufgabe des Forschens und Lehrens haben, eine nicht weniger strenge, methodische, lehrmäßige Reflexion als die in der ganzen Theologie übliche verlangt.
Im Übrigen hatte Jesus selbst seine Zeitgenossen aufgefordert, sich bei der Betrachtung der Mutter nicht vom Enthusiasmus hinreißen zu lassen, denn er würdigte in Maria vor allem diejenige, die selig ist, weil sie das Wort Gottes hört und es befolgt (vgl. Lk 11,28).
Nicht nur die Zuneigung, sondern vor allem das Licht des Geistes soll uns dazu anleiten, die Mutter Jesu und ihren Beitrag zum Heilswerk zu verstehen.
3. Im Blick auf das Maß und die Ausgewogenheit, die in der Lehre von Maria und in ihrer Verehrung zu wahren sind, ermahnt das Konzil die Theologen und die Verkünder des Gotteswortes ausdrücklich, sich „jeder falschen Übertreibung … sorgfältig zu enthalten“ (Lumen Gentium, Nr. 67).
Letztere kommt von denen, die eine radikale Haltung einnehmen, indem sie den Anspruch erheben, die Vorrechte Christi und alle Charismen der Kirche systematisch auf Maria auszudehnen.
Dagegen ist es notwendig, in der marianischen Lehre immer den unendlichen Unterschied zu wahren, der zwischen der menschlichen Person Marias und der göttlichen Person Jesu besteht. Maria das „Maximum“ zuzugestehen, darf keine Norm der Mariologie werden. Diese muss ständig Bezug nehmen auf das, was die Offenbarung hinsichtlich der Gaben bezeugt, die Gott der Jungfrau aufgrund ihrer außerordentlichen Sendung geschenkt hat.
Analog dazu ermahnt das Konzil die Theologen und Verkünder, sich einer „zu großen Geistesenge … zu enthalten“ (ebd.), das heißt der Gefahr der Verkürzung, die sich in lehramtlichen Stellungnahmen, in exegetischen Auslegungen und in Verehrungsformen zeigen mag, die darauf abzielen, die Bedeutung Marias in der Heilsgeschichte, ihre immerwährende Jungfräulichkeit und ihre Heiligkeit zu vermindern und beinahe auszulöschen.
Solche extremen Positionen sind immer zu vermeiden, mit Hilfe einer glaubwürdigen und echten Treue zur offenbarten Wahrheit, wie sie in der Schrift und in der apostolischen Tradition zum Ausdruck kommt.
4. Das Konzil selbst bietet uns ein Kriterium an, das die wahre Lehre über Maria deutlich deutlich zu sehen erlaubt, „die in der heiligen Kirche nach Christus den höchsten Platz einnimmt und doch uns besonders nahe ist“ (Lumen Gentium, Nr. 54). Den höchsten Platz: Wir müssen diese Hoheit entdecken, die Maria im Heilsgeheimnis zukommt. Aber es handelt sich um eine ganz auf Christus bezogene Berufung.
Der Platz, der uns besonders nahe ist: Unser Leben wird durch das Vorbild und die Fürsprache Marias tief beeinflusst. Aber wir müssen uns fragen, inwieweit wir uns anstrengen, ihr nahe zu sein. Die ganze Pädagogik der Heilsgeschichte lädt uns ein, auf die Jungfrau zu schauen. Die christliche Askese aller Zeiten fordert uns auf, sie als das vollkommene Vorbild der Zustimmung zum Willen des Herrn zu betrachten. Als erwähltes Vorbild der Heiligkeit geht Maria den Gläubigen auf dem Weg zum Himmelreich voran.
Durch ihre Nähe zu den Dingen unseres Alltagslebens stützt Maria uns in den Prüfungen, sie ermutigt uns, wenn wir in Schwierigkeiten sind, und sie weist uns immer auf das Ziel des ewigen Heils hin. So wird ihre Rolle als Mutter immer deutlicher: als Mutter ihres Sohnes Jesus, als liebevolle und wachsame Mutter eines jeden von uns, denen der Erlöser am Kreuz sie anvertraut hat, damit wir sie als Kinder im Glauben annehmen.
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Liebe Schwestern und Brüder! Mi diesen kurzen Ausführungen grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher sehr herzlich. Euch allen, Euren lieben Angehörigen zu Hause sowie den mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbundenen Gläubigen wünsche ich ein glückliches und friedvolles Neues Jahr und erteile gern den Apostolischen Segen.
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