JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 22. August 2001
Lesung: Ps 36, 2 – 3. 6 – 7a. 8 – 11 Bosheit des Sünders – Güte des Herrn
1. Jedesmal, wenn ein Arbeitstag und ein Tag menschlichen Miteinanders beginnt, kann der Mensch zwei grundsätzliche Haltungen einnehmen: Er kann sich für das Gute entscheiden oder dem Bösen nachgeben. Der Psalm 36, den wir vor kurzem gehört haben, stellt uns eben diese beiden gegensätzlichen Möglichkeiten vor Augen. Einerseits gibt es Menschen, die schon auf dem »Lager«, von dem sie sich erheben werden, unlautere Vorhaben hegen; andererseits solche, die das Licht Gottes, die »Quelle des Lebens« (vgl. V. 10), suchen. Dem Abgrund der Bosheit des Frevlers steht der Abgrund der Güte Gottes gegenüber, als lebendige Quelle, die den Durst stillt, und als Licht, das den Gläubigen erleuchtet.
Zwei Menschentypen beschreibt also das soeben verkündete Gebet des Psalms, den uns das Stundengebet für die Laudes am Mittwoch der ersten Woche vorschlägt.
2. Die erste Charakterskizze, die der Psalmist uns aufzeigt, ist die des Sünders (vgl. V. 2 –5). In seinem Innern befindet sich die »Weissagung der Sünde«, wie es im hebräischen Original heißt (vgl. V. 2). Dies ist ein bedeutungsstarker Ausdruck. Es läßt an ein satanisches Wort denken, das im Gegensatz zum Wort Gottes im Herzen und im Sprechen des Frevlers erklingt.
In ihm scheint das Böse eines Wesens zu sein mit seiner innersten Wirklichkeit, so daß es in Worten und Taten zum Vorschein kommt (vgl. V. 3 –4). Er verbringt seine Tage, indem er »schlimme Wege« wählt, und zwar vom frühen Morgen an, wenn er noch auf seinem Lager liegt (vgl. V. 5), bis zum Abend, wenn er sich schlafen legt. Diese beständige Wahl des Sünders entstammt einer Entscheidung, die sein gesamtes Dasein berührt und zum Tod führt.
3. Der Psalmist ist aber ganz auf die andere Darstellung hinorientiert, in der er sich selbst widerspiegeln möchte: die eines Mannes, der das Antlitz Gottes sucht (vgl. V. 6 –13). Er erhebt eine regelrechte Hymne auf die göttliche Liebe (vgl. V. 6 –11), der er am Ende die flehentliche Anrufung folgen läßt, der Herr möge ihn von der dunklen Faszination des Bösen befreien, damit er für immer vom Licht der Gnade umgeben sei.
Durch diesen Gesang zieht sich eine wahre Litanei von Begriffen, die die Charakterzüge des Gottes der Liebe preisen: Güte, Treue, Gerechtigkeit, Urteil, Huld, bergender Schatten, Reichtum, Wonne, Leben, Licht. In besonderer Weise sind vier dieser göttlichen Züge hervorzuheben; sie werden durch hebräische Vokabeln wiedergegeben, die eine tiefere Bedeutung besitzen als aus den Übersetzungen in die modernen Sprachen hervorgeht.
4. Zunächst der Begriff »hesed«, »Gnade«, der zugleich Treue, Liebe, Loyalität, Zärtlichkeit bedeutet. Dies ist eine der grundlegenden Bezeichnungen zum Lobpreis des Bundes zwischen dem Herrn und seinem Volk. Es ist von Bedeutung, daß dieses Wort ganze 127 Mal im Psalter vorkommt, das ist mehr als die Hälfte der Verwendung dieses Wortes im gesamten Alten Testament. Dann finden wir das Wort »’emunáh«: Es entstammt derselben Wurzel wie das »Amen«, das Wort des Glaubens, und bedeutet Stabilität, Sicherheit, unerschütterliche Treue. Es folgt das Wort »sedaqah«, die »Gerechtigkeit«, das einen vor allem heilsbringenden Sinn besitzt: Es handelt sich um die heilige und weise Einstellung Gottes, der durch sein Eingreifen in die Geschichte seinen Gläubigen vom Bösen und von der Ungerechtigkeit befreit. Schließlich ist das Wort »mishpat«, das »Urteil«, zu nennen, durch das Gott über seine Geschöpfe herrscht, indem er sich zu den Armen und Unterdrückten herabbeugt und die überheblichen und anmaßenden Menschen ihrerseits beugt.
Vier theologische Worte, die der Betende in seinem Glaubensbekenntnis wiederholt, während er sich in die Straßen der Welt aufmacht in der Gewißheit, den liebenden, treuen, gerechten und rettenden Gott an seiner Seite zu haben.
5. Den verschiedenen Titeln, mit denen er Gott verherrlicht, fügt der Psalmist zwei einprägsame Bilder hinzu. Einerseits die Überfülle an Nahrung: Sie läßt vor allem an das heilige Mahl denken, das im Tempel Zions mit dem Fleisch der Opfertiere gefeiert wurde. Dann gibt es die Quelle und den Strom, deren Wasser den Durst nicht nur des ausgetrockneten Halses, sondern auch der Seele stillen (vgl. V. 9 – 10; Ps 42, 2 – 3; 63, 2 – 6). Der Herr stillt den Hunger und Durst des Betenden, er gibt ihm Anteil an seinem vollkommenen und unsterblichen Leben.
Das zweite Bild wird durch das Symbol des Lichts vermittelt: »In deinem Licht schauen wir das Licht« (V. 10). Diese Leuchtkraft strahlt gewissermaßen »wasserfallartig« und ist ein Zeichen der Selbstoffenbarung Gottes gegenüber seinen Gläubigen. So war es mit Mose am Sinai geschehen (vgl. Ex 34,29 – 30), und so geschieht es mit dem Christen in dem Maße, wie er »mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn widerspiegelt und so in sein eigenes Bild verwandelt wird« (vgl. 2 Kor 3,18).
Im Sprachgebrauch der Psalmen bedeutet »das Licht des Gottesantlitzes sehen« konkret, dem Herrn im Tempel zu begegnen, wo das liturgische Gebet gefeiert und das Wort Gottes gehört wird. Auch der Christ macht diese Erfahrung, wenn er zu Tagesbeginn den Lobpreis des Herrn betet, bevor er sich auf die nicht immer geraden Wege des täglichen Lebens aufmacht.
Liebe Schwestern und Brüder!
Auch wenn unser tägliches Leben das Grau des Alltags kennt, wissen wir, daß wir wählen müssen: zwischen Weiß und Schwarz, zwischen Hell und Dunkel, zwischen Gut und Böse.
Diese Alternative stellt uns der Psalm vor Augen, den wir vorher gehört haben. Zunächst zeichnet er das Bild des Sünders, der entschlossen ist zum Bösen und keine Furcht vor Gott kennt (vgl. v. 2).
Dann wird ihm eine andere Gestalt gegenübergestellt: der Mensch, der das Angesicht Gottes sucht. Es folgt eine ganze Litanei von Begriffen, die von der Liebe Gottes zum Menschen singen: Güte und Treue, Gerechtigkeit und Huld, Schatten der Flügel und Reichtum des Hauses, Strom der Wonnen und Quelle des Lebens.
Alles gipfelt in der dankbaren Feststellung: "In deinem Licht schauen wir das Licht" (v. 10). So wollen wir den Herrn bitten, daß er unsere Wege erleuchte, damit wir die Schritte klarer sehen, die er von uns erwartet.
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In diese Bitte schließe ich euch alle ein, liebe Pilger und Besucher aus den deutschsprachigen Ländern. Besonders grüße ich die Jugendlichen, unter ihnen die Ministranten aus Kirchberg am Walde. Möge der Herr eure Lebenswege hell machen! Mit diesem Wunsch erteile ich euch, euren Lieben daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, den Apostolischen Segen.
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