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JOHANNES PAUL II. 

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 20. November 2002

 

Lesung: Jesaja 40, 10-11. 13. 17 
10 Seht, Gott der Herr, kommt mit Macht, er herrscht mit starkem Arm. Seht, er bringt seinen Siegespreis mit: Alle, die er gewonnen hat, gehen vor ihm her. 
11 Wie ein Hirt führt er seine Herde zur Weide, er sammelt sie mit starker Hand. Die Lämmer trägt er auf dem Arm, die Mutterschafe führt er behutsam. 
13 Wer bestimmt den Geist des Herrn? Wer kann sein Berater sein und ihn unterrichten? 
17 Alle Völker sind vor Gott wie ein Nichts, für ihn sind sie wertlos und nichtig. 

 

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Im Buch des großen Propheten Jesaja, der im 8. Jahrhundert v.Chr. gelebt hat, sind auch die Stimmen anderer Propheten enthalten, die seine Jünger waren und sein Werk fortgesetzt haben. Das ist der Fall bei dem zweiten Jesaja - wie er von den Bibelwissenschaftlern genannt wird -, dem Propheten der Heimkehr Israels aus dem babylonischen Exil im 6. Jahrhundert v.Chr. Sein Werk umfaßt die Kapitel 40-55 des Buches Jesaja, und dem ersten Kapitel ist das soeben erklungene Canticum entnommen, das in die Liturgie der Laudes eingefügt wurde. 

Das Canticum besteht aus zwei Teilen: Die ersten beiden Verse stammen vom Ende eines schönen Trostspruches, der die Heimkehr der Verbannten unter der Führung Gottes nach Jerusalem ankündigt (vgl. Jes 40, 1-11). Die nachfolgenden Verse sind der Anfang einer apologetischen Rede, die Gottes Allwissenheit und Allmacht preist und andererseits die Hersteller von Götzenbildern scharf kritisiert. 

2. Am Anfang des liturgischen Textes erscheint also die mächtige Gestalt Gottes - ihm voraus die Trophäen -, der nach Jerusalem heimkehrt, so wie Jakob mit den ihm vorausziehenden Herden ins Heilige Land zurückgekehrt ist (vgl. Gen 31, 17; 32, 17). Gottes Trophäen sind die verbannten Juden, die er der Hand ihrer Eroberer entrissen hat. Gott wird also »wie ein Hirt« dargestellt (Jes 40, 11). Dieses in der Bibel und in anderen alten Traditionen enthaltene Bild erinnert an den Gedanken der Führung und Herrschaft, aber hier sind die Züge voll Zärtlichkeit und Liebe, denn der Hirt ist auch Wegbegleiter seiner Schafe (vgl. Ps 22). Er sorgt für die Herde, das heißt, er ernährt sie und sammelt sie, damit sie nicht zerstreut wird, er achtet besonders auf die Lämmer und die Mutterschafe (vgl. Jes 40, 11). 

3. Nach der Beschreibung des Einzugs des Herrn als König und Hirt folgt die Reflexion über sein Handeln als Schöpfer des Universums. Niemand ist ihm gleich in diesem großartigen und kolossalen Werk: der Mensch nicht und noch weniger die Götzen, die tote und machtlose Wesen sind. Der Prophet stellt dann eine Reihe rhetorischer Fragen, in denen schon die Antwort enthalten ist. Sie werden in der Art einer Gerichtsverhandlung gestellt:

Niemand ist imstande, das ganze Ausmaß des von Gott geschaffenen Universums zu ermessen. Der Prophet gibt zu verstehen, daß die menschlichen Mittel für diese Aufgabe unzureichend, ja geradezu lächerlich sind. Anderseits ist Gott ein einsamer Baumeister; niemand kann ihm helfen oder ihn beraten bei einem so umfassenden Plan wie dem der kosmischen Schöpfung (vgl. V. 13-14). Niemand kann mit Gott rivalisieren und sich seiner gewaltigen Macht oder seiner unbegrenzten Weisheit rühmen. 

Cyrill von Jerusalem stützt sich in seiner 18. Taufkatechese auf unser Canticum und lädt dazu ein, Gott nicht mit dem Metermaß unserer menschlichen Begrenztheit zu messen: »Für dich, der du ein winzig kleiner und schwacher Mensch bist, ist Indien weit von Gothien und Spanien weit von Persien entfernt. Für Gott aber, der die ganze Erde in seiner Hand hält, ist alles nahe« (in: Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 41, München/Kempten, 1922, S. 338) 

4. Nach dem Lobpreis auf die Allmacht Gottes in der Schöpfung beschreibt der Prophet dessen Herrschaft über die Geschichte, das heißt über die Nationen, über die Menschheit, die die Erde bevölkert. Die Bewohner bekannter Gebiete, aber auch die aus fernen Regionen, die die Bibel weit entfernte »Inseln« nennt, sind in Wirklichkeit winzig klein gegenüber der unendlichen Größe des Herrn. Die Bilder haben eine starke Leuchtkraft und Ausstrahlung. Die Völker sind »wie ein Tropfen am Eimer«, wie »ein Stäubchen auf der Waage«, wie »ein Sandkorn« (Jes 40, 15). 

Niemand wäre in der Lage, ein Dankopfer herzurichten, das dieses großartigen Herrn und Königs würdig ist. Die Tiere der Erde und die Zedernwälder des Libanon reichten nicht aus, um das Feuer für dieses Opfer zu entfachen. Der Prophet weist den Menschen in seine Schranken zurück angesichts der unendlichen Größe und der souveränen Allmacht Gottes. Das Schlußwort ist lapidar: »Alle Völker sind vor Gott wie ein Nichts, für ihn sind sie wertlos und nichtig« (V. 17). 

5. Der Gläubige wird deshalb von Tagesbeginn an zur Anbetung des allmächtigen Herrn eingeladen. Gregor von Nyssa, Kirchenvater von Kapadozien (4. Jahrhundert), dachte über die Worte des Canticum von Jesaja nach: »Wenn wir das Wort ›allmächtig‹ hören, denken wir an die Tatsache, daß Gott alles im Dasein erhält, sowohl die intelligiblen Lebewesen als auch diejenigen, die zur materiellen Schöpfung gehören. In der Tat, darum hält er den Erdkreis, darum hält er die Enden der Erde, darum umfaßt er den Himmel mit seiner Faust, darum mißt er das Wasser mit der Hand, darum ist die ganze geisterfüllte Schöpfung in ihm enthalten: Denn alles bleibt im Dasein, alles wird mit Macht von der Macht gehalten, die es umfängt« (Teologia trinitaria, Milano 1994, S. 625). 

Hieronymus seinerseits verweilt staunend vor einer anderen überraschenden Wahrheit:die Wahrheit, daß Christus, »obwohl er Gott gleich war, … sich entäußerte und wie ein Sklave und den Menschen gleich wurde« (vgl. Phil 2, 6-7). Dieser unendliche und allmächtige Gott - so schreibt Hieronymus - hat sich klein und hilflos gemacht. Hieronymus betrachtet ihn im Stall von Betlehem und ruft aus: »Er, der die ganze Welt in seiner Hand trägt, läßt sich in die enge Krippe legen« (Brief 22, 39; in: Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 16, München/Kempten 1936, S. 113). 


Gott ist allwissend, allmächtig und allgegenwärtig. Er ist der alleinige Schöpfer des Kosmos und sein Erhalter. Seine Weisheit ist unvergleichlich. Daher stellt das Canticum im 40. Kapitel des Prophetenbuches Jesaja die rhetorische Frage: „Wer kann ihn beraten oder unterrichten?" (vgl. Jes. 40, 13). Tatsächlich müssen vor der Größe dessen, der Herr über Himmel und Erde ist, „alle Völker wie ein Nichts" erscheinen (Jes 40, 17). 

Die Bibel zeigt uns, daß der erhabene Gott zugleich der nahe und treue Begleiter seines Volkes ist: Als der gute Hirt (vgl. Ps. 23) fügt er Menschen aus allen Nationen zu seiner heiligen Kirche zusammen; er trägt und führt uns behutsam dem Ziel unseres Lebens entgegen (vgl. Jes. 40, 11). 

***

Sehr herzlich grüße ich die Pilger und Besucher aus den deutschsprachigen Ländern. Insbesondere heiße ich heute die Teilnehmer an der Studienreise der Katholischen Akademie Hamburg willkommen. Der gute Hirte ist zugleich der Herr des Kosmos. Macht seine Größe und Weisheit unter den Menschen bekannt! Dient Gott mit Freude und betet ihn an!

         



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