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APOSTOLISCHE REISE NACH POLEN (5. -17. JUNI 1999)

ÖKUMENISCHE LITURGIE

PREDIGT VON JOHANNES PAUL II.

Drohiczyn - Donnerstag , 10. Juni 1999

    

1. »Ein neues Gebot gebe ich euch: liebt einander, wie ich euch geliebt habe« (vgl. Joh 13, 34).

Eben haben wir die Worte Christi gehört, die uns der hl. Johannes in seinem Evangelium überliefert hat. Der Herr richtete sie an die Jünger in seiner Abschiedsrede bei der Fußwaschung, vor seinem Leidensweg und Kreuzestod. Es ist gewissermaßen sein letzter Aufruf an die Menschheit, mit dem er einen brennenden Wunsch zum Ausdruck bringt: »Liebt einander«!

Mit diesen Worten Christi grüße ich alle Anwesenden bei der heutigen liturgischen Feier, die gleichzeitig ein ökumenisches Gebet für die Einheit der Christen ist. Herzlichst grüße ich Bischof Antoni, den Hirten der Diözese Drohiczyn, Bischof Jan Szarek, den Präsidenten des polnischen ökumenischen Rates, und die Vertreter der Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die diesem Rat angehören. Ferner heiße ich die Brüder und Schwestern der polnischen und ausländischen orthodoxen Kirche willkommen; einen ganz besonderen Gruß richte ich an den Metropoliten für Warschau und ganz Polen, Erzbischof Sawa, wie auch an die anderen Bischöfe dieser Kirche. Herzlichst grüße ich auch alle polnischen und ausländischen Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe. Von ganzem Herzen wende ich mich an das gesamte Gottesvolk der geliebten Diözese Drohiczyn. Einen speziellen Gruß richte ich ferner an die Mitbrüder im Priesteramt, die Ordensleute und die Studenten des örtlichen Diözesanseminars. In tiefer Zuneigung wende ich mich an die hier anwesenden alten, kranken und behinderten Menschen, an die Jugendlichen und Kinder. Schließlich grüße ich auch die Pilger aus Weißrußland, aus Litauen und der Ukraine, deren Gegenwart mir ganz besondere Freude bereitet.

Ich grüße diese von der Schönheit der Natur reich gesegnete Region Podlachien, geheiligt vor allem durch der Treue ihres Volkes, das im Laufe seiner Geschichte mehrmals schwere Prüfungen bestehen mußte und mit enormen Schwierigkeiten jeder Art zu kämpfen hatte. Dennoch ist es der Kirche bis auf den heutigen Tag stets treu geblieben. Es freut mich, hier in der Ausübung meines pastoralen Dienstamtes unter euch sein zu können. Tiefbewegt denke ich an meine zahlreichen Besuche in Drohiczyn zurück, insbesondere anläßlich der Jahrtausendfeierlichkeiten, als die Bischöfe aus ganz Polen gemeinsam mit dem Primas der Jahrtausendfeier Gott für das Geschenk der heiligen Taufe, für die Gnade des Glaubens, der Hoffnung und der Barmherzigkeit danksagten. Hier begleitete ich den Apostolischen Administrator der Diözese Pinsk, Msgr. Krzywicki, auf seiner letzten Reise. Einige Jahre darauf kam ich erneut nach Drohiczyn zur Beendigung der Pilgerschaft des Nachbildes der Madonna von Tschenstochau. Das sind die Erinnerungen, die heute wieder in mir lebendig werden, während ich als Papst hier in eurer Mitte weile.

2. »Ein neues Gebot gebe ich euch: liebt einander, wie ich euch geliebt habe

Diese Worte Christi strahlen eine enorme Kraft aus. Als er, erniedrigt und verlassen, unter grausamen Qualen am Kreuz starb, zeigte er der Welt die Bedeutung und Tiefgründigkeit dieser Prüfungen. Der Todeskampf Christi machte den Jüngern bewußt, zu welcher Aufgabe er sie berufen hatte, als er sie aufforderte: »Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.« In Erinnerung an dieses Ereignis schrieb der hl. Johannes in seinem Evangelium: »Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung« (Joh 13,1). Christus hat uns zuerst geliebt, trotz unserer Sündhaftigkeit und Schwäche. Durch sein Opfer machte er uns zu würdigen Empfängern seiner grenzenlosen und immerwährenden Liebe, die endgültig und vollkommen ist. Christus hat uns mit seinem kostbaren Blut erlöst.

Diese Liebe hat er auch uns gelehrt und anvertraut: »Ein neues Gebot gebe ich euch« (Joh 13, 34). Das bedeutet, daß dieses Gebot stets aktuell ist. Wenn wir der Liebe Christi entsprechen wollen, müssen wir stets – zu jeder Zeit und überall – nach ihr handeln: sie muß ein neuer Weg, ein neues Samenkorn für die Menschen sein, die ihre Beziehungen zueinander erneuern. Diese Liebe macht uns zu Jüngern Christi, zu neuen Menschen, zu den Erben der göttlichen Verheißung. Durch sie werden wir alle zu Brüdern und Schwestern im Herrn. Sie macht uns zu dem neuen Volk Gottes, zur Kirche, in der alle Christus lieben und in ihm einander lieben sollten.

Das ist die wahre Liebe, die im Kreuz Christi offenbart worden ist. Dieses Kreuz sollte uns allen als Beispiel dienen, nach ihm sollten wir unsere Wünsche und Bemühungen ausrichten, in ihm haben wir jenes größte Vorbild, dem wir nacheifern sollten.

3. »Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen« (vgl. Jes 2,3).

Die Vision des Propheten Jesaja in der ersten Lesung der heutigen Liturgie spricht von der Vielzahl der am Berg Zion versammelten Völker und Nationen, Zeugnis der Gegenwart Gottes. Die Prophezeiung verkündet ein universales Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, das auf die Kirche bezogen werden kann, wie Christus sie gewollt hat, eine auf dem unverzichtbaren Prinzip der Einheit gegründete Kirche.

Auch wir sollten als Christen, die heute zu diesem gemeinsamen Gebet hier versammelt sind, wie Jesaja sagen: »Zeige uns deine Wege, auf deinen Pfaden wollen wir gehen«, damit wir gemeinsam, wie diejenigen, die sich zu Christus bekennen, auf diesen Wegen der Zukunft entgegengehen. Das nun unmittelbar bevorstehende Große Jubeljahr sollte uns auf ganz besondere Art und Weise anregen, in mühevoller Arbeit nach neuen Wegen im Leben der Kirche, der gemeinsamen Mutter aller Christen, zu suchen. In meinem Apostolischen Schreiben Tertio Millennio adveniente habe ich jenen dringenden Wunsch zum Ausdruck gebracht, den ich heute erneut bekräftigen möchte: »Möge das Jubiläum die geeignete Gelegenheit für ein fruchtbares Zusammenwirken im gemeinsamen Tun all der vielen Dinge sein, die uns einen und die sehr viel mehr sind als diejenigen, die uns trennen« (vgl. Nr. 16). Der Glaube sagt uns, daß die Einheit der Kirche nicht nur eine Hoffnung für die Zukunft ist: in einem gewissen Maß existiert diese Einheit bereits! Sie hat unter den Christen noch keine voll sichtbare Ausdrucksform erlangt. Ihre Förderung ist somit »ein Imperativ des vom Glauben erleuchteten und von der Liebe geleiteten christlichen Gewissens«, denn »an Christus glauben heißt, die Einheit wollen; die Einheit wollen heißt, die Kirche wollen; die Kirche wollen heißt, die Gnadengemeinschaft wollen, die dem Plan des Vaters von Ewigkeit her entspricht« (Ut unum sint, 8.9).

Wir sind somit zum Aufbau der Einheit berufen. Die zu Beginn des kirchlichen Lebens vorhandene Einheit darf nie ihren wesentlichen Wert verlieren. Dennoch müssen wir mit Bedauern feststellen, daß diese ursprüngliche Einheit im Lauf der Jahrhunderte, und vor allem im letzten Jahrtausend, ernsthaft geschwächt worden ist.

4. Der Weg der Kirche ist nicht unbeschwerlich. »Wir können ihn mit dem Leidensweg Christi vergleichen; aber er dauert nicht wenige Stunden, sondern Jahrhunderte« – schrieb der orthodoxe Theologe Pavel Evdokimov. Dort, wo sich die Spaltungen zwischen den Jüngern Christi vertiefen, wird sein mystischer Leib verletzt. Es erscheinen nach und nach die »Schmerzensstationen« auf dem Weg der Kirchengeschichte. Christus aber hat eine einzige Kirche gegründet, und nach seinem Willen soll sie das auch für immer bleiben. Auf der Schwelle eines neuen Geschichtsabschnitts müssen wir uns demnach alle ernsthaft nach der Verantwortung für die existierenden Spaltungen fragen, die begangenen Fehler eingestehen und sie uns gegenseitig vergeben, denn wir haben das neue Gebot der Liebe zueinander erhalten, dessen Quelle die Liebe Christi ist. Der hl. Paulus bestärkt uns in dieser Liebe mit den Worten: »Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder, und liebt einander, weil auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und als Opfer« (Eph 5,1–2).

Die Liebe sollte uns zu einer gemeinsamen Reflexion über die Vergangenheit anregen, um mit Ausdauer und Mut dem Weg der Einheit zu folgen.

Die Liebe ist die einzige Kraft, die die Herzen dem Wort Jesu und der Gnade der Erlösung öffnet. Sie ist die einzige Kraft, die uns veranlaßt, brüderlich all das zu teilen, was wir nach dem Willen Christi sind und haben. Sie drängt uns zu jenem Dialog, der uns Gelegenheit gibt, uns gegenseitig zuzuhören und kennenzulernen.

Die Liebe öffnet uns für den Nächsten und wird so zur Grundlage jeder menschlichen Beziehung. Sie erlaubt uns, die Schranken unserer Schwächen und Vorurteile zu überwinden. Sie läutert die Erinnerung, zeigt uns neue Wege, öffnet die Aussicht auf wirkliche Versöhnung, jene grundlegende Voraussetzung für die gemeinsame Verkündigung des Evangeliums, die die Welt von heute dringend braucht.

Auf der Schwelle des dritten Jahrtausends müssen wir uns um die weitere Intensivierung der vollkommenen und brüderlichen Versöhnung bemühen, um im kommenden Jahrtausend Hand in Hand vor einer Welt das Heil zu bezeugen, die dieses Zeichen der Einheit so sehr erwartet.

Es ist durchaus angebracht, daß wir gerade in Drohiczyn, im Herzen von Podlachien, wo sich seit Jahrhunderten die christlichen Religionen des Ostens und des Westens begegnen, von Ökumenismus sprechen. Stets war diese Stadt offen für Anhänger der katholischen, der orthodoxen und der protestantischen Kirche. Dennoch heben viele Begebenheiten in der Geschichte dieser Stadt deutlicher als anderswo die Notwendigkeit des Dialogs hervor, der die Hoffnung der Christen auf Einheit zum Ausdruck bringt. In der Enzyklika Ut unum sint schrieb ich: » Der Dialog ist […] ein natürliches Instrument, um die verschiedenen Standpunkte miteinander zu vergleichen und vor allem jene Gegensätze zu untersuchen, die für die volle Gemeinschaft der Christen untereinander ein Hindernis darstellen« (vgl. Nr. 36). Kennzeichen dieses Dialogs sollte die Liebe zur Wahrheit sein, denn »die Wahrheitsliebe ist die tiefste Dimension einer glaubwürdigen Suche nach der vollen Gemeinschaft der Christen. Ohne diese Liebe wäre es unmöglich, sich den objektiven theologischen, kulturellen, psychologischen und sozialen Schwierigkeiten zu stellen, denen man bei der Untersuchung der Gegensätze begegnet. Zu dieser inneren, persönlichen Dimension muß untrennbar der Geist der Liebe und Demut hinzukommen. Liebe gegenüber dem Gesprächspartner, Demut gegenüber der Wahrheit, die man entdeckt und die Revisionen von Aussagen und Haltungen erforderlich machen könnte« (ebd.).

Möge die Liebe zur Überbrückung unserer Gegensätze dienen und uns ermutigen, nichts unversucht zu lassen. Möge die Liebe zueinander und für die Wahrheit die Antwort auf die vorhandenen Schwierigkeiten und die gelegentlich entstehenden Spannungen sein.

Heute wende ich mich an die Brüder und Schwestern aller Kirchen: öffnen wir uns der versöhnenden Liebe Gottes. Öffnen wir unseren Geist, unsere Herzen, unsere Kirchen und Gemeinschaften. Der Gott unseres Glaubens, derjenige, den wir als Vater anrufen, ist »der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs« (Mk 12,26), der Gott Mose. Vor allem ist er der Gott und Vater unseres gemeinsamen Herrn Jesus Christus; in ihm wurde er »Gott, der mit uns ist« (vgl. Mt 1,23; Röm 15,6).

Laßt uns dem Vater im Himmel, dem Vater aller Christen, unsere aufrichtige Bereitschaft zur Versöhnung schenken und sie auf konkrete Art und Weise zum Ausdruck bringen. Gott, »der Liebe ist«, wollen wir mit unserer menschlichen Liebe antworten, die anderen mit Wohlwollen begegnet und sich aufrichtig um Zusammenarbeit bemüht, wo es möglich ist, und uns erlaubt, das zu schätzen, was gut ist und Zustimmung und Nacheiferung verdient.

5. »Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs« (Jes 2,3).

Das ist die Aufforderung, die der Prophet Jesaja den nach Einheit und Frieden dürstenden Völkern und Nationen in den Mund legt.

Brüder und Schwestern, nichts kann besser und mit größerer Wirksamkeit diese Aufforderung wiedergeben als ein inständiges Gebet für Einheit und Brüderlichkeit, für die familiäre Gemeinschaft aller Christen. Die Liebe Christi drängt uns zu diesem Gebet. Christus selbst lehrte uns, zum Vater zu beten: »dein Reich komme« (vgl. Mt 6,10). Das Reich Gottes, das er in sich trug, als er in die Welt kam und Mensch wurde, bleibt in der Kirche als eine bereits existierende Realität, aber auch als eine noch zu erfüllende Aufgabe.

Nur durch das Gebet ist wahre »Metanoia« möglich, die die Macht hat, alle Getauften in der Brüderlichkeit der Kinder Gottes zu vereinen. Das Gebet befreit uns von allem, was uns von Gott und den Menschen trennt. Es schützt uns gegen Kleinmut und öffnet das Herz des Menschen der göttlichen Gnade.

Alle hier Anwesenden bestärke ich somit zu einem innigen Gebet für die Verwirklichung der vollen Gemeinschaft unserer Kirchen. Fortschritte auf dem Weg zur Einheit erfordern unseren Einsatz, unser gegenseitiges Wohlwollen, Offenheit und ein wirklich brüderliches Leben in Christus.

Wir bitten den Herrn, uns diese Gnade zu schenken, jene Hindernisse zu beseitigen, die die Verwirklichung der vollen Einheit verzögern. Wir bitten ihn, uns alle zu guten Ausführern seines Planes zu machen, damit beim Anbruch des neuen Jahrtausends die Jünger Christi eine größere Einheit untereinander bilden.

»Ein neues Gebot gebe ich euch« (Joh 13,34).

Das neue Gebot.

»Alle sollen eins sein, damit die Welt glaubt« (vgl. Joh 17,21).

  



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