ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DIE BISCHÖFE DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
ANLÄSSLICH IHRES «AD-LIMINA»-BESUCHES
Samstag, 14. November 1992
Herr Kardinal,
liebe Mitbrüder im Bischofsamt!
1. Mit besonderer Herzlichkeit darf ich Euch zum diesjährigen Ad-Limina-Besuch begrüßen. Zum ersten Mal kommt Ihr aus einem freien Land an die Gräber der Apostel. Über mehr als 50 Jahre hinweg hat die Kirche in den neuen Bundesländern in einer doppelten Diaspora gelebt: Während sie bereits über Jahrhunderte eine Minderheit unter anderen Konfessionen dargestellt hatte, galt es die letzten Jahrzehnte, den Glauben an Gott in einem atheistischen Umfeld zu bekennen, das alle Lebensbereiche des Menschen umfasste: zuerst unter dem nationalsozialistischen Regime, dann unter kommunistischer Herrschaft. Die Christen, besonders die Katholiken, wurden immer mehr in eine Minderheiten- und Außenseitersituation in der Gesellschaft gedrängt. Nach dem Fall der Mauer wurden die Folgen des Machtmissbrauches in vielfacher Hinsicht deutlich. Es sind nicht in erster Linie die materiellen Schäden und Beeinträchtigungen, unter denen die Bürger Eurer Länder zu leiden haben, sondern es ist vor allem die geistig-seelische Verwilderung und Verelendung, die die Ideologie der kommunistischen Machthaber vor allem bei der Jugend als Erbe hinterlassen hat.
Die Kirche war in jener schweren Zeit darum bemüht, ihre vielfältigen Aufgaben treu zu erfüllen. Dies ist vor allem Eurem mutigen Einsatz zu verdanken, liebe Mitbrüder, aber auch dem Eurer Priester und verantwortlichen Laien. Allen äußeren Widerständen zum Trotz hat die Kirche die Frohe Botschaft vom Gottesreich verkündet, die Menschen durch Wort und Sakrament getröstet, sich der Bedrückten und Verfolgten angenommen und sich so als Zufluchtsort in allen Notlagen erwiesen. Es wäre sicher verfehlt, wollte man die Tätigkeit der Kirche in der damaligen Zeit an ihrem politischen Einfluss messen. Sie ist ihrer gesellschaftlichen Aufgabe gerade deshalb gerecht geworden, weil sie sich mit dem diktatorischen Unrechtssystem nicht arrangiert hat.
Nach der totalen Abschottung des Systems nach dem Westen hin, die durch den Mauerbau äußerlich sichtbar wurde, habt Ihr und Eure Vorgänger unter der weisen Führung der verehrten Kardinäle Alfred Bengsch und Joachim Meisner - wie zuvor schon unter dem unvergessenen Kardinal Julius Döpfner - in konsequenter Weise zu kirchlichen und gesellschaftlichen Fragen Stellung genommen. Die eine Stimme, mit der ihr gesprochen habt, Eure Übereinstimmung in der Beurteilung der Situation und Euer gemeinsames Vorgehen verdienen Anerkennung und Dank. Priester wie Laien haben dem Wort ihrer Hirten Vertrauen schenken können. Wenn Gläubige sogar persönliche und berufliche Nachteile in Kauf nahmen, um konsequent in der Nachfolge Christi zu bleiben, so konnten sie das in dem Bewusstsein tun, dass die Bischöfe ihre Entscheidung mittrugen und sich schützend vor sie stellten.
2. Die Erfahrung einer gelebten ”Communio“ wird der Kirche auch in den schwierigen Zeiten nach der ”Wende“ helfen, ihrer Sendung gerecht zu werden. Der Heilige Stuhl hat Euch in Eurer beispielhaften Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit der Berliner Ordinarienkonferenz immer bestärkt und wird auch nach der Vereinigung der beiden Bischofskonferenzen dem pastoralen Anliegen in den Euch anvertrauten Jurisdiktionsbezirken mit Wohlwollen begegnen. Die Wiedervereinigung Deutschlands war für die Menschen ein großes Geschenk. Die gewonnene Freiheit sollte die Klage über noch unerfüllte Wünsche in den Hintergrund treten lassen. Zunächst haben wir alle Gott zu danken, der den Menschen als freies Wesen erschaffen hat und will, dass wir diese Freiheit in der rechten Weise gebrauchen. ”Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, sagt der Apostel Paulus. ”Bleibt daher fest und labt euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auferlegen“. Wir erleben gegenwärtig, dass der Missbrauch der Freiheit die Menschen entzweit. Wir machen die schmerzliche Erfahrung, dass ein Leben in Freiheit den Menschen nicht vor extremen Ideen bewahren kann. Der Boden des Vertrauten, des Gewohnten ist ihm entzogen; so wird er anfällig für simplifizierende Parolen, teilweise sogar aggressiv und gewaltbereit.
3. Die Menschen Eurer Heimat - die Christen waren dabei in vorderster Linie - haben 1989 der Weltöffentlichkeit das andere und freiheitliche Deutschland vor Augen gestellt. Liebe Mitbrüder, Ihr müsst Euch dafür einsetzen, dass alles getan wird, um zu verhindern, dass rassistische und nationalistische Tendenzen vor allem bei der Jugend sich ausbreiten und dieses Deutschlandbild gefährden. Auf keinen Fall darf es dazu kommen, dass Christen der Indifferenz und Lethargie verfallen. Dies wäre nicht weniger gefährlich als die Gewalt selbst. Wir würden gefahrvollen Entwicklungen Vorschub leisten, wenn wir nur vor den Methoden, nicht aber ebenso vor den Motiven dieser Art von Menschenrechtsverletzung warnten und sie verurteilten.
4. Damit verbinde ich die eindringliche Bitte, Euch besonders für den Schutz Eurer jüdischen Mitbürger einzusetzen. Entweihungen von Synagogen und Angriffe auf Mahnmale, die den Juden in ihrer leidvollen Geschichte viel bedeuten, können niemals geduldet werden. Die Väter des II. Vatikanischen Konzils waren sich der besonderen Beziehung der Christen zu den Juden bewusst, als sie in der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen feststellten: ”Da das Christen und Juden gemeinsame Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches ist“. Ihr solltet deshalb dazu beitragen, dass Eure jüdischen Mitbürger nicht mutlos werden und in Eurem Land, das auch ihre Heimat ist, bleiben und am religiösen, kulturellen und wissenschaftlichen Leben weiterhin Anteil nehmen.
5. Gerade in Zeiten wie der heutigen ist eine feste Orientierung notwendig, die den Blick auf die Mitte menschlichen Lebens nicht verliert, damit nicht extreme Strömungen die Überhand gewinnen. Gott muss deshalb der Mittelpunkt der Gemeinschaft eines Volkes bleiben, wenn es nicht in Unmenschlichkeit hinabsinken will. Das Erbe eines unmenschlichen und unchristlichen Systems kann nicht von heute auf morgen beseitigt werden. Die Gesellschaft wird deshalb noch auf lange Zeit von vielerlei Altlasten bedrückt werden, die erst allmählich abgetragen werden können. Es ist deshalb verständlich, dass in besonderer Weise die Arbeitslosigkeit als einschneidendes soziales Übel erfahren wird, da über Jahrzehnte hinweg die Arbeit als Sinn und Zweck menschlicher Existenz proklamiert wurde. Wo gesellschaftliche Akzeptanz nur durch Arbeit möglich wird, erfährt jedoch das Leben eine wesentliche Einschränkung. Die Folge ist heute eine existentielle Verunsicherung des Menschen sowie eine Verzerrung des Menschenbildes. Ist die Arbeit auch wichtiger Bestandteil der Selbstverwirklichung des Menschen, so wird es entscheidend Eure Aufgabe sein - auch im Hinblick auf eine Neuevangelisierung - deutlich zu machen, dass der Sinn menschlichen Lebens in erster Linie im Ja zu Gott besteht und dass wir nur in Gott die Fülle des Lebens erlangen.
6. Für die Kirche ist nun die Stunde da, nach allen Seiten die Hand auszustrecken, um allen, die in ihren vielfältigen Nöten und Problemen der Hilfe bedürfen, Rat und Beistand anzubieten. Dies gilt auch gegenüber denen, die schuldig geworden sind und einen neuen Anfang setzen wollen.
Seid gewiss, dass Euer Wirken vom Heiligen Geist begleitet wird, wenn Ihr Euch die Worte zu Herzen nehmt, die die Pastoralkonstitution ”Gaudium et spes“ des II. Vatikanischen Konzils einleiten: ”Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände“.
Ihr wisst, liebe Mitbrüder, dass der Einigungsprozess Eures Vaterlandes auch von der Kirche einen entscheidenden Beitrag fordert. Beide Teile, die Kirche sowohl in den alten wie in den neuen Bundesländern, können und sollen voneinander lernen, wie die Kirche in Deutschland überhaupt auch von anderen Teilkirchen lernen kann. Was von der Kirche in den alten Bundesländern in über 40 Jahren an Hilfe geleistet wurde, können Statistiken und Bilanzen nur annähernd wiedergeben. Daran wird immer mit tiefer Dankbarkeit gedacht werden. Nun ist es aber möglich, dass auch die Kirche in den neuen Bundesländern zur Schenkenden wird. Die Erfahrungen einer atheistisch geprägten Umwelt können nämlich auch in der Seelsorge der alten Bundesländer im Blick auf die voranschreitende Säkularisierung fruchtbar werden. Dabei sind Offenheit und die Bereitschaft, voneinander zu lernen, aufeinander zu hören und sich gegenseitig zu verstehen, wichtige Voraussetzungen.
7. Euer pastoraler Dienst wird sich besonders mit Ehe und Familie befassen müssen. Es muss ihre Bedeutung für das Reich Gottes und für die Kirche hervorgehoben werden, wie es das II. Vatikanische Konzil getan hat: ”Die christlichen Gatten endlich bezeichnen das Geheimnis der Einheit und der fruchtbaren Liebe zwischen Christus und der Kirche und bekommen daran Anteil. Sie fördern sich kraft des Sakramentes der Ehe gegenseitig zur Heiligung durch das eheliche Leben sowie in der Annahme und Erziehung der Kinder und haben so in ihrem Lebensstand und ihrer Ordnung ihre eigene Gabe im Gottesvolk“. Das Ehesakrament heiligt die Ehe und die Ehepartner: ”So werden die christlichen Gatten in den Pflichten und der Würde ihres Standes durch ein eigenes Sakrament gestärkt und gleichsam geweiht (consecrantur)“. Eure Tätigkeit möge dazu beitragen, die Sorge um diesen zentralen Aspekt der Pastoral neu bewusst zu machen. Die Förderung der Familienseelsorge muss immer unser Anliegen sein. Dazu gehört auch eine solide Vorbereitung der Jugendlichen auf Ehe und Familie. Für junge Menschen ist es dabei von entscheidender Wichtigkeit, dass sie von kundigen Erwachsenen zur Zeit ihrer Ausbildung begleitet werden, die ihnen auf Fragen klare und überzeugende Antworten geben können. Ich bin sicher, dass Ihr es nicht daran fehlen lasst, Priester und qualifizierte Laienmitarbeiter für diesen Dienst zu interessieren und vorzubereiten. Erinnert vor allem die Eltern daran, dass es eine von Gott ihnen auferlegte Verpflichtung ist, die christliche Wertordnung durch ihr Wort und ihr Leben ihren Kindern zu vermitteln. Die Familie ist und bleibt der Ort der ersten religiös-sittlichen Erziehung. Unbeschadet der Ergebnisse der Humanwissenschaften muss aufgezeigt werden, dass der Sinn des Ehesakramentes auf der Heiligen Schrift basiert, die das Lehramt authentisch auslegt. Materialismus, Konsumdenken und egoistisches Streben nach Vergnügen können der Ehe keinen Bestand geben, da sie der in der Ehe geforderten gegenseitigen Hingabe diametral entgegengesetzt sind. Ein von Verantwortung getragenes christliches Ehe- und Familienleben gründet im letzten durch seine sakramentale Weihe im Geheimnis des dreifaltigen Gottes und der mystischen Verbindung von Christus und Kirche. Bei dieser Gelegenheit sei allen, die in den diözesanen Einrichtungen für die Ehe- und Familienpastoral tätig sind, ein herzliches Wort des Dankes und der Ermunterung gesagt. Eure Sorge muss auch den Mitchristen gelten, die in einer ungeregelten Beziehung leben. Sie bedürfen ebenso der Hilfe und liebevollen Zuwendung der Kirche. Dazu gehören auch die Geschiedenen, die sich zivil wiederverheiratet haben, wie ich dies bereits im Apostolischen Schreiben ”Familiaris consortio“, betont habe. Sie sind getaufte Christen; es ist unsere Pflicht, ihnen unsere pastorale Sorge angedeihen zu lassen innerhalb des vom kirchlichen Lehramt und vom kanonischen Recht festgelegten Rahmens.
8. Während sich die Liebe zwischen den Partnern auf Ehe und Familie bezieht, kennzeichnet die Ehelosigkeit die liebende Verfügbarkeit des Menschen, der sich ganz in den Dienst des Reiches Gottes und seiner Mitmenschen stellt. Von daher ist auch die priesterliche Ehelosigkeit zu verstehen. Die Väter des II. Vatikanischen Konzils legen im Dekret über Dienst und Leben der Priester ausdrücklich dar: ”Die Kirche hat die vollkommene und ständige Enthaltsamkeit um des Himmelreiches willen, die von Christus dem Herrn empfohlen, in allen Jahrhunderten bis heute von nicht wenigen Gläubigen gern angenommen und lobenswert geübt worden ist, besonders im Hinblick auf das priesterliche Leben immer hoch eingeschätzt. Ist sie doch ein Zeichen und zugleich ein Antrieb der Hirtenliebe und ein besonderer Quell geistlicher Fruchtbarkeit in der Welt“.
Die Tatsache, dass eine Gesellschaft, die weithin nicht mehr von christlichen Wertvorstellungen geprägt ist, der Sexualität und folglich auch der Keuschheit einen veränderten Stellenwert zuordnet, der der christlichen Ehe und der priesterlichen Ehelosigkeit kaum noch Rechnung trägt, darf uns keineswegs entmutigen, noch unseren eingegangenen Verpflichtungen untreu werden lassen. Ehe- und Zölibatskrise hat als Letztursache den allgemeinen Glaubensschwund, der sich bei jungen Menschen als Orientierungsschwäche und Bindungsmüdigkeit auswirkt. Der Verständniszugang zur Ehelosigkeit des Priesters lässt sich nur durch das Leben aller drei evangelischen Räte als Wesenszug priesterlicher Existenz erreichen: Armut und Gehorsam gehören unabdingbar zur Ehelosigkeit. Sie müssen stellvertretend für die ganze Kirche gelebt werden. In der Tat erinnert auch das nachsynodale Apostolische Schreiben ”Pastores Dabo Vobis“ daran, dass ”bevorzugter Ausdruck“ der Radikalität des Evangeliums ”die verschiedenen "evangelischen Räte“ sind, die Jesus in der Bergpredigt vorschlägt; unter diesen Räten sind die Lebenshaltungen von Gehorsam, Keuschheit und Armut eng miteinander verbunden: ”Der Priester ist berufen, sie entsprechend jenen Bedingungen und Zielsetzungen und gemäß jenen ursprünglichen Sinngehalten zu leben, die Quelle und Ausdruck der ihm eigenen Identität sind“. Aus der tiefen Einsicht in diese vom Herrn selbst so deutlich herausgehobene Lebensgrundlage für den Dienst in seiner Nachfolge haben die Synodenväter, wie ich in demselben Dokument ausgeführt habe, klar festgelegt: ”Die Synode will bei niemandem den geringsten Zweifel an der festen Entschlossenheit der Kirche aufkommen lassen, an dem Gesetz festzuhalten, das den zur Priesterweihe nach dem lateinischen Ritus ausersehenen Kandidaten den frei gewählten, ständigen Zölibat auferlegt... Die Synode drängt darauf, dass der Zölibat in seinem vollen biblischen, theologischen und spirituellen Reichtum dargestellt und erläutert wird, nämlich als kostbares Geschenk Gottes an seine Kirche und als Zeichen des Reiches, das nicht von dieser Welt ist, Zeichen der Liebe Gottes zu dieser Welt sowie der ungeteilten Liebe des Priesters zu Gott und zum Volk Gottes, so dass der Zölibat als positive Bereicherung des Priestertums angesehen werden kann“. Es geht also um die persönliche Gottesbegegnung im Glauben, um die verbindliche Annahme der Botschaft Gottes. Bei Priesteramtskandidaten bedarf es daher einer soliden theologischen und spirituellen Vorbereitung. Lasst Euch durch nichts in Eurem Bemühen entmutigen, bei der Zulassung zu den heiligen Weihen eine strenge Auswahl zu treffen. Nicht die Zahl, sondern die Qualität ist entscheidend. Gott ruft durch seine Kirche. Andererseits bedarf es jedoch des inständigen Gebetes der Gläubigen: ”Bittet den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden“. Gott hat die Macht, das Erbetene zu geben und die, die er berufen hat, im Alltag ihres priesterlichen Dienstes zu tragen. In diesem Zusammenhang möchte ich für den Brief danken, den die deutschen Bischöfe an ihre Priester gerichtet haben, um sie in ihrem Dienst und in ihren Verpflichtungen zu bestärken und zu ermutigen.
Der Zölibat ist eine Gabe des liebenden Gottes an seine Kirche, und das Festhalten daran ist eine Frage der Liebe und Treue. Auch wenn im bürgerlichen Leben die Relativierung von Werten weit fortgeschritten sein mag, bedeutet dies noch nicht, dass diese Werte selbst sinnlos geworden sind. Wie die Ehepartner sich ständig neu um die Erhaltung der ersten Liebe und ihrer Treue mühen müssen, muss auch der Priester stets seine Treue erneuern. Ein Rückbezug auf die Berufung durch Gott ist dabei unverzichtbar.
9. Es ist gerade für Euch, liebe Mitbrüder, in den neuen Bundesländern von Wichtigkeit, den Priestern in einem weitgehend atheistisch gewordenen Umfeld tröstend und bestärkend zur Seite zu stehen. Darf ich Euch auch in diesem Zusammenhang bitten, Euren Priestern, die über Jahrzehnte unter schwierigen Bedingungen in Treue zum Nachfolger Petri und zu ihrem Bischof gestanden sind und ihren Dienst verrichtet haben, meinen aufrichtigen Dank und meine Anerkennung auszusprechen.
In einem politischen System, das die Unwahrheit zu einem Prinzip des Handelns erhoben hatte, war es entscheidend, dass die Bischöfe und Priester der Versuchung zur Gruppenkonformität und damit gegen die Wahrheit widerstanden haben. Die Erziehung zur Wahrheit muss auch unter veränderten politischen Vorzeichen ein wesentliches Element der Priesterausbildung bleiben. Die Wahrheit kann zwar unangenehm und unbequem sein; sie ist es aber, die frei macht. Zur Priesterausbildung gehört auch die Bildung in jenen Tugenden, ohne die ein Presbyterium auf Dauer nicht lebens- und wirkungsfähig ist. Es ist deshalb vor allem wichtig, die Priesteramtskandidaten in den Tugenden des Versöhnens, des Vergebens und Vergessens, der Großherzigkeit und des Ertragens zu bilden. Die Möglichkeit einer theologischen Fakultät sollte auch dahingehend genutzt werden, den interdisziplinären Dialog mit Human- und Naturwissenschaften neu und unbelastet von der Vergangenheit führen zu können.
10. Eine besondere Würdigung verdienen die karitativen Einrichtungen in Euren Diözesen und Jurisdiktionsbezirken. Bereits in den vergangenen Jahrzehnten war, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, die Errichtung von katholischen Krankenhäusern, Alten- und Behindertenheimen sowie Kindergärten und Kinderheimen möglich. Die Aufrechterhaltung dieser Einrichtungen wurde durch den Idealismus treuer Mitarbeiter und die unauffällige Unterstützung aus dem Westen gewährleistet. Gott möge allen ihre große Opferbereitschaft vergelten. Mit dem raschen Aufbau von Sozialstationen und anderen karitativen Einrichtungen hat die Kirche nach der Wende ein hervorragendes Beispiel unbürokratischer und rascher Hilfe gegeben.
11. Euer Engagement im sozialen Bereich wie auch in der Militärseelsorge und auf dem schulischen Sektor sollte immer im Rahmen einer wünschenswerten Zusammenarbeit mit den evangelischen Kirchen gesehen werden. Im Bewusstsein, dass sich die katholische Kirche ebenso wie die evangelischen kirchlichen Gemeinschaften in einer Minderheitensituation befindet, müsst Ihr gemeinsam die Bereitschaft zeigen, christliche Wertvorstellungen einzubringen. Die Gründung von katholischen Schulen darf nicht als ein Versuch der Konfessionalisierung betrachtet werden; das Ziel ist vielmehr, das Christentum in einer weitgehend atheistischen Umwelt erneut präsent zu machen. Im übrigen sind katholische Schulen keineswegs anti-ökumenisch, sondern auch für sie gelten die im Dekret des II. Vatikanischen Konzils über den Ökumenismus aufgestellten Grundsätze.
Haltet fest an der ökumenischen Zusammenarbeit! Die gemeinsamen Anliegen sind es wert, über momentane und lokal begrenzte Schwierigkeiten hinwegzusehen und die großen gemeinsamen Aufgaben im Auge zu behalten.
12. Liebe Mitbrüder im Bischofsamt, am Ende unserer Gespräche ist es mir ein Anliegen, Euch meiner Unterstützung für all Eure Bemühungen zu versichern. Im Wissen um Eure nicht leichte Aufgabe bitte ich den Herrn, Euch mit seiner Freude und seinem Geist zu erfüllen, damit Ihr den Menschen jene Nahrung geben könnt, derer sie dringend bedürfen: die Wahrheit Christi, die Ihr verkündet. So werdet Ihr die Menschen erfahren lassen, dass Christus sie zur Freiheit befreit hat.
Ich bitte Euch, alle Priester, Diakone, Ordensleute und Laien in Euren Diözesen und Jurisdiktionsbezirken sehr herzlich zu grüßen und sie in meinem Namen für die Aufgabe zu ermutigen, Heil und Hoffnung in die Welt zu bringen, in der wir leben. Ich vertraue Euch dem Schutz der Mutter Gottes und der Heiligen Eurer Diözesen an und erteile Euch von Herzen meinen besonderen Apostolischen Segen.
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