ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
Samstag, 4. Dezember 1999
Herr Kardinal,
verehrte Brüder im Bischofs- und Priesteramt,
liebe Brüder und Schwestern!
1. Mit Freude empfange ich Sie alle, die Sie am Kongreß über »Familie und Integration von Behinderten im Kinder- und Jugendalter« teilnehmen; dieser Kongreß wurde organisiert vom Päpstlichen Rat für die Familie in Zusammenarbeit mit dem »Centro Educación Familiar Especial« (CEFAES) in Madrid und dem »Programma Leopoldo« in Venezuela. Ich begrüße Kardinal Alfonso Lopez Trujillo, Präsident des Päpstlichen Rates für die Familie, und danke ihm für die freundlichen Worte, die er an mich gerichtet und mit denen er die Empfindungen der Anwesenden zum Ausdruck gebracht hat. Ich grüße und danke jedem von Ihnen für Ihre Teilnahme und das Engagement, mit dem Sie sich mit einem so wichtigen Thema, das so viele Familien betrifft, auseinandersetzen. Mein Wunsch ist, daß die Ergebnisse dieses Treffens die schwierige Situation zahlreicher Kinder und Jugendlicher verbessern helfen.
In der Adventszeit, die uns auf die Feier der Geburt des Herrn vor bereitet, gewinnt Ihre Tagung eine ganz besondere Bedeutung. Im Lichte des Jesuskindes wird es in der Tat einfacher, über die Lage der Kinder nachzudenken. Wenn Schwierigkeiten, Probleme oder Krankheiten Kinder treffen, dann können die Werte des Glaubens den menschlichen Werten zu Hilfe kommen, damit die angeborene Personenwürde auch der Behinderten anerkannt und geachtet wird. Dieser Kongreß ist daher überaus angebracht. Dabei ist die Aufmerksamkeit auf die Familien gerichtet, um ihnen zu helfen, auch in behinderten Kindern ein Zeichen der Liebe Gottes zu sehen.
2. Die Geburt eines kranken Kindes ist zweifellos ein einschneidendes Ereignis für die Familie, die davon tief erschüttert wird. Auch unter diesem Gesichtspunkt erscheint es wichtig, die Eltern dazu zu ermutigen, »dem Kind ganz besondere Aufmerksamkeit [zu schenken] in tiefem Gespür für seine personale Würde, in großer Achtung und selbstlosem Dienst für seine Rechte. Das gilt für jedes Kind, gewinnt aber eine besondere Dringlichkeit, wenn das Kind noch klein und hilflos ist, krank, leidend oder behindert« (Familiaris Consortio, 26).
Die Familie ist der Ort schlechthin, an dem das Geschenk des Lebens als solches aufgenommen und wo die Würde des Kindes durch den Ausdruck besonderer Fürsorge und Zärtlichkeit anerkannt wird. Vor allem dort, wo Kinder am schutzlosesten sind und Gefahr laufen, abgelehnt zu werden, kann die Familie die Würde dieser Kinder - die der Würde gesunder Kinder gleich ist - am besten schützen. Es liegt auf der Hand, daß in solchen Situationen die Familien, die mit komplexen Problemstellungen konfrontiert werden, ein Recht auf Unterstützung haben. Daraus ergibt sich, wie wichtig die Personen an ihrer Seite sind - seien es Freunde, Ärzte oder Sozialhelfer. Die Eltern müssen ermutigt werden, sich dieser sicherlich nicht leichten Lage zu stellen, ohne sich in sich selbst zu verschließen. Es ist wichtig, daß nicht nur die engsten Familienangehörigen, sondern auch fachlich kompetente sowie befreundete Personen an diesem Problem Anteil nehmen.
Sie sind die »barmherzigen Samariter« unserer Zeit: Mit ihrer großherzigen und freundschaftlichen Gegenwart wiederholen sie die Gesten Christi, der die Kranken und Notleidenden stets seine tröstende Nähe spüren ließ. Die Kirche ist diesen Menschen dankbar, die sich jeden Tag und überall darum bemühen, Leid zu lindern durch »tägliche Gesten von Annahme, Opfer, selbstloser Sorge« (Evangelium Vitae, 27).
3. Wenn das sich in Schwierigkeiten befindende Kind in eine aufnahmebereite und aufgeschlossene Familie integriert ist, fühlt es sich nicht einsam, sondern in der Gemeinschaft und lernt auf diese Weise, daß das Leben immer lebenswert ist. Die Eltern ihrerseits erleben den menschlichen und christlichen Wert der Solidarität. Ich habe schon bei anderen Gelegenheiten daran erinnert, daß mit Tatsachen bewiesen werden muß, daß Krankheit weder unüberbrückbare Spaltungen schafft noch Beziehungen wahrer christlicher Nächstenliebe zu den Betroffenen verhindert. Im Gegenteil: Die Krankheit muß ein Gefühl besonderer Sorge für diese Menschen wecken, denn sie gehören mit vollem Recht zur Kategorie der Armen, derer das Himmelreich ist.
Ich denke in diesem Zusammenhang an Beispiele außerordentlicher Hingabe seitens zahlloser Eltern für ihre Kinder; ich denke an die zahlreichen Initiativen von Familien, die großzügig bereit sind, behinderte Kinder in Pflege zu nehmen oder zu adoptieren. Wenn die Familien reichlich vom Wort Gottes genährt werden, ereignen sich in ihnen Wunder wahrhafter christlicher Nächstenliebe. Das ist die überzeugendste Antwort für jene, die behinderte Kinder als Last oder gar für unwürdig betrachten, das Geschenk des Daseins voll und ganz zu leben. Die Schwächeren aufnehmen und ihnen auf ihrem Weg zu helfen ist ein Zeichen von Zivilisation.
4. Aufgabe der Seelsorger und Priester ist es, die Eltern zu unterstützen, damit sie verstehen und akzeptieren, daß das Leben immer ein Geschenk Gottes ist, auch wenn es von Leid und Krankheit geprägt ist. Jede Person ist Subjekt von grundlegenden Rechten, die unveräußerlich, unverletzlich und unteilbar sind. Jede Person: also auch der Behinderte, der gerade aufgrund seiner Behinderung größeren Schwierigkeiten bei der konkreten Ausübung dieser Rechte begegnen kann. Deshalb darf er nicht alleingelassen werden, sondern muß von der Gesellschaft aufgenommen und - je nach Möglichkeit - als vollwertiges Mitglied in sie integriert werden.
Gegenüber jedem Menschen, der aufgrund seiner Würde als Person immer die größte Achtung verdient, haben die bürgerliche Gesellschaft und die Kirche eine besondere Auf gabe zu erfüllen, um so zur Entwicklung einer Kultur der Solidarität innerhalb der Gemeinschaft beizutragen. Der Behinderte, wie jeder andere Benachteiligte, muß ermutigt werden, die Hauptrolle in seinem Leben zu übernehmen. Nachdem die Familie den ersten Moment überwunden hat, muß sie verstehen lernen, daß der Wert der »Existenz« den der »Effizienz« übersteigt. Wenn dies nicht eintritt, läuft sie die Gefahr der Enttäuschung und Mutlosigkeit, wenn - trotz aller Bemühungen - die erhofften Erfolge der Heilung oder Besserung nicht erreicht werden.
5. Natürlich braucht die Familie eine angemessene Unterstützung durch die Gemeinschaft. Manchmal sind Einrichtungen der Soforthilfe in kritischen Augenblicken gefragt, und manchmal - wenn das Zusammenleben mit der Familie nicht mehr möglich ist - werden Aufnahmestrukturen in Form kleiner und angemessen ausgestatteter Gemeinschaften benötigt.
In jedem Fall ist es wichtig, die Kommunikation innerhalb der Familie immer auf hohem Niveau zu halten, denn es ist allgemein bekannt, daß reden, zuhören und sich aussprechen wesentliche Faktoren zur Regulierung und Harmonisierung des Verhaltens sind. Außerdem ist es nötig, daß das kranke Kind Augenblicke der Aufmerksamkeit und Liebe erfährt. In dieser Hinsicht ist die Familie unersetzlich; aus eigenen Kräften allein wird sie aber kaum nennenswerte Resultate erreichen. Hier beginnt der Bereich für das Eingreifen spezialisierter Verbände und anderer Formen von außer-familiärer Hilfe, die die Gegenwart von Personen gewährleisten, mit denen das gestörte Kind sich unterhalten und schulische und freundschaftliche Beziehungen aufbauen kann.
Das Leben in der Gruppe sowie Freundschaft sind darüber hinaus optimale Voraussetzungen zur Befreiung von Konditionierungen und besserer persönlicher und sozialer Anpassung durch das Schaffen offener und befriedigender Beziehungen.
6. Liebe Brüder und Schwestern! Ich habe mit Ihnen einige praktische Aspekte von großer Wichtigkeit bedacht, die die Integration behinderter Kinder in Familie und Gesellschaft betreffen. Zu diesem Thema ist schon viel geschrieben worden, und die seelsorgliche Tätigkeit muß dieser Problematik ihre besondere Aufmerksamkeit widmen. Die Kinder verdienen die bestmögliche Fürsorge, und das gilt besonders dann, wenn sie sich in schwierigen Situationen befinden.
Für den Gläubigen ist allerdings - jenseits aller nützlichen wissenschaftlichen Forschung und jeder sozialen und pädagogischen Initiative - demütiges und zuversichtliches Gottvertrauen wichtig. Die Familien werden die Kraft zur Überwindung der Schwierigkeiten vor allem im Gebet finden. In ständiger Hinwendung zum Herrn werden die Familienangehörigen lernen, das vom Leid gezeichnete Kind aufzunehmen, zu lieben und zur Entfaltung zu bringen.
Maria, die Mutter der Hoffnung, helfe und unterstütze alle, die sich in solchen Lebenslagen befinden. Ihr empfehle ich Ihre verdienstvollen Bemühungen an, und ich erteile Ihnen und allen, die Ihnen nahestehen, gerne einen besonderen Apostolischen Segen
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