ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
BEI DER EINWEIHUNG DER VOLLSTÄNDIG RESTAURIERTEN SIXTINISCHEN KAPELLE
Samstag, 11. Dezember 1999
1. »Laßt euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen« (1 Petr 2,5). Dieses Bild der Bibel vom Mysterium der Kirche könnte wohl kaum eine ausdrucksvollere plastische Darstellung finden als die Sixtinische Kapelle, deren volle Schönheit wir heute dank der unlängst beendeten Restaurationsarbeiten bewundern können. Wir teilen diese Freude mit Gläubigen aus aller Welt, die diesen Ort nicht nur aufgrund seiner Meisterwerke schätzen und lieben, sondern auch in Anbetracht seiner Bedeutung im Leben der Kirche. Hier findet nämlich - und hieran erinnere ich mich voll Ergriffenheit - die Wahl des Nachfolgers Petri statt. Vor fünf Jahren, am 8. April 1994, konnte ich die in ihren endlich wiedergefundenen ursprünglichen Farben leuchtenden Werke Michelangelos vorstellen, die diesem Saal zweifellos seinen Charakter verleihen und ihn durch ihre überragende Schönheit gewissermaßen in sich aufnehmen. Sie dringen bis zum äußersten Horizont der christlichen Theologie vor, zeigen das Alpha und das Omega, Ursprung und Gericht, das Mysterium der Schöpfung und das der Geschichte, all das hingeordnet auf Christus, den Erlöser und Richter der Welt. Heute jedoch soll unsere Aufmerksamkeit dem bescheideneren, aber dennoch bedeutenden Wandzyklus gelten, den ersten Werken, mit denen die von Sixtus IV. errichtete Kapelle ausgestattet wurde.
An diesen Fresken arbeiteten bedeutende florentinische und umbrische Künstler wie Perugino, Botticelli, Pinturicchio, Ghirlandaio, Rosselli und Signorelli. Von einem präzisen Konzept ausgehend, schufen sie ein in das nach und nach entstehende architektonische und malerische Gesamtbild gut integriertes einheitliches Werk, ein Element einzigartiger Darstellungskraft. Mit Freude gebe ich es heute wieder zur Besichtigung frei. Von Herzen danke ich dem Präsidenten der Päpstlichen Kommission für den Staat der Vatikanstadt, Kardinal Edmund Casimir Szoka, Dr. Francesco Buranelli wie auch den für die Leitung der Vatikanischen Monumente, Museen und Galerien Verantwortlichen, den ausführenden Fachkräften und allen, die sich auf verschiedenen Bereichen und Ebenen um die Wiederherstellung dieser weiteren Kunstwerke verdient gemacht haben.
2. Beim Betrachten der beiden Gemäldeserien an den Längswänden ist die symmetrische Anordnung der Tafeln leicht erkennbar, zumal sie auch durch die jeweiligen Überschriften hervorgehoben wird. Auf der einen Seite dominiert die Gestalt des Mose und auf der anderen die Christi. Das ikonographische Programm ist eine Art »lectio divina«, das nicht nur die einzelnen Begebenheiten der Bibel zum Ausdruck bringen will, sondern vor allem die Einheit der Heiligen Schrift, des Alten und Neuen Testaments, jene heilsgeschichtliche Linie, die von den Ereignissen des Auszugs zur Fülle der Offenbarung in Christus führt. Der Parallelismus verdeutlicht auf wirksame Art und Weise das vom hl. Augustinus formulierte hermeneutische Prinzip: »Novum Testamentum in Vetere latest, Vetus in Novo patet« [Das Neue Testament ist im Alten verborgen, das Alte eröffnet sich im Neuen] (vgl. Quaest. in Hept. 2,73).
Tatsächlich zeigt die Anordnung der Fresken, die sowohl in der geschichtlichen Reihenfolge wie auch durch die spezielle thematische Entsprechung zum Ausdruck kommt, daß alles auf Christus hingeordnet ist. Seine in dem wundervollen Gemälde Peruginos dargestellte Taufe bringt jene Fülle zum Ausdruck, die in der Beschneidung Mose lediglich angedeutet wurde. Die Versuchungen Christi stehen bei Botticelli in symmetrischer Übereinstimmung mit den von Mose überwundenen Prüfungen. Der von Ghirlandaio in der Berufung der Jünger am See von Gennesaret zum Ausdruck gebrachte Aufruf an das neue Volk entspricht dem um Mose versammelten alten Volk vor dem dramatischen Hintergrund der Durchquerung des Roten Meeres. Der von Rosselli dargestellte Christus der Bergpredigt erscheint im Vergleich mit Mose als neuer Gesetzgeber, der nicht gekommen ist, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen (vgl. Mt 5,17). Und wiederum ist Christus Mittelpunkt in den Fresken von der Überreichung der Schlüssel und des Letzten Abendmahls, die ebenfalls in symbolischer Übereinstimmung mit dem Alten Testament stehen.
3. Von diesen Gemälden geht somit eine Lobeshymne zur Verherrlichung Christi aus. Alles ist auf ihn ausgerichtet. Er ist die Fülle aller Dinge. Dennoch sollten wir berücksichtigen, daß er in diesen Gemälden nie allein ist: Um ihn und um Mose scharen sich die Gesichter von Männern und Frauen, von Alten und Kindern. Es ist das Volk Gottes auf dem Weg zum Glauben, die Kirche, das aus lebendigen Steinen aufgebaute »geistige Haus«, versammelt um Christus, »den lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist« (vgl. 1 Petr 2,4). Das gesamte theologische und ikonographische Programm zeichnet sich jedoch aus durch die Aufmerksamkeit, die den Führern dieses Pilgervolkes gewidmet wird. Wenn sich im Alten Testament der Blick in erster Linie auf den von Aron begleiteten Mose richtet, der in der bewegten Darstellung Botticellis seine vergeblich gefährdete Autorität beweist, so ist im Neuen Testament die zentrale Stellung Christi keineswegs beeinträchtigt, sondern wird eher hervorgehoben durch jene Rolle, die er selbst den Aposteln, insbesondere Petrus, überträgt.
Dieser Aspekt zeigt sich insbesondere in dem Meisterwerk Peruginos von der Überreichung der Schlüssel. Durch das auffallende Symbol des Schlüssels betont der Künstler die Tragweite der dem ersten Apostel verliehenen Autorität. Gewissermaßen als Ausgleich zeigen die Züge Petri den Ausdruck tiefer Demut, wenn er in kniender Haltung und fast vor dem Meister zurückweichend das Symbol seines Amtes entgegennimmt. In zusammengekauerter, bescheidener Haltung, ängstlich und überrascht angesichts solch unermeßlichen Vertrauens möchte er sozusagen am liebsten verschwinden, damit allein die Person des Meisters sichtbar bleibe. Der verzückte Blick läßt auf seinen Lippen nicht nur das Bekenntnis von Cäsarea Philippi erahnen - »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!« (Mt 16,6) -, sondern auch seine Liebeserklärung an den Auferstandenen nach der bitteren Erfahrung der Verleugnung: »Du weißt, daß ich dich liebe« (Joh 21,15).
Es ist das Antlitz dessen, der sich seiner Sündhaftigkeit bewußt ist (vgl. Lk 5,8) und ständige Einsicht braucht, um seine Brüder stärken zu können (vgl. Lk 22,32). Dieses Gesicht gibt Zeugnis vollkommener Abhängigkeit von den Augen und Lippen des Erlösers und bringt somit auf wundervolle Art und Weise den Sinn des universalen Dienstes Petri zum Ausdruck, der in der Kirche berufen ist, mit den Aposteln, denen er vorsteht, Christus, »den erhabenen Hirten seiner Schafe« (Hebr 13,20), der stets in seinem Volk zugegen ist, sichtbar zu vertreten.
4. Bereits in diesem ersten Zyklus zeigt sich die künstlerische Gestaltung der Kapelle als reife Frucht biblischer Geistigkeit. Eine Kunst, die fähig ist - wie jede wirklich sakrale Kunst -, »den einen oder anderen Aspekt der Botschaft herauszugreifen und ihn in Farben, Formen, Töne umzusetzen … , ohne die Botschaft ihrer transzendenten Bedeutung zu berauben und ihr den Nimbus des Geheimnisses zu nehmen« (Brief an die Künstler, 12). Es ist somit ein Anlaß großer Freude, wenn heute solch bedeutende Kunstwerke des 15.Jahrhunderts in ihren durch sorgfältige und moderne Restaurationsarbeit wiedergewonnenen ursprünglichen Farben neu erstrahlen. Mit einer stets aktuellen Sprache, die das Universale im Menschen berührt, vermitteln sie auch weiterhin die Schwingungen des Mysteriums.
Meinem unlängst auch im Brief an die Künstler zum Ausdruck gebrachten Wunsch (vgl. Nr. 10) entsprechend, hoffe ich, daß auf der Spur des Zeugnisses dieses einzigartigen »Sanktuariums« auch in unserer heutigen Zeit das fruchtbare Bündnis zwischen Glaube und Kunst wieder hergestellt werden kann, damit das »Schöne«, Epiphanie der höchsten Schönheit Gottes, den Horizont des anbrechenden Jahrtausends erleuchten möge. Ich danke dem Herrn, der mir ermöglicht hat, heute dieser Meßfeier vorzustehen, mit der dieses nun vollkommen restaurierte Juwel der Kunst der Welt zurückgegeben wird. Gleichzeitig bitte ich ihn um seinen immerwährenden Schutz für alle Anwesenden, für diejenigen, die ihre berufliche Tätigkeit im Bereich der Vatikanischen Museen ausüben, und für die unzähligen Besucher, die ohne Unterbrechung aus allen Teilen der Welt kommen, um diese Meisterwerke zu bewundern. Allen spende ich meinen Segen.
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