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ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DEN BOTSCHAFTER DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
BEIM HEILIGEN STUHL ANLÄSSLICH DER ÜBERGABE
DER BEGLAUBIGUNGSSCHREIBEN*

Freitag, 13. September 2002

 

Sehr geehrter Herr Botschafter!

1. Mit Freude nehme ich heute aus Ihren Händen das Schreiben entgegen, mit dem Sie durch den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, S.E. Herrn Johannes Rau, als außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter Ihres Landes beim Heiligen Stuhl beglaubigt werden. Gleichzeitig entbiete ich Ihnen einen sehr herzlichen Willkommensgruß im Vatikan und gratuliere Ihnen zu Ihrer neuen ehrenvollen Aufgabe. Damit verbinde ich den Wunsch und die Zuversicht, daß auch in der Zeit Ihrer Amtsführung die sehr guten Beziehungen zwischen Deutschland und dem Heiligen Stuhl weitergeführt und vertieft werden können.

2. Seit der geschichtlich gebotenen Wiedervereinigung Deutschlands vor zwölf Jahren hat das schon geflügelte Wort vom Zusammenwachsen dessen, was zusam-mengehört, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern darüber hinaus in ganz Europa an konkreter Bedeutung hinzugewonnen und ist für nicht wenige Menschen dieses Kontinents gewissermaßen zu einer programmatischen Vision geworden, von deren Verwirklichung sie sich einen gerechten Ausgleich der Interessen, dauerhaften Frieden und gesellschaftliches Wohlergehen erwarten. Der Heilige Stuhl hat den Prozeß der Einigung Europas von Anfang an mit den ihm eigenen Mitteln gefördert und niemals einen Zweifel daran gelassen, daß der Glaube an eine gemeinsame geistig-kulturelle Identität der europäischen Völker die Grundlage für ihr politisch-institutionelles Zusammenwachsen in der Europäischen Union bilden muß. Europa wäre schlichtweg nicht Europa ohne das reiche Patrimonium seiner Völker, welches, ähnlich den menschlichen Genen, das Persönlichkeitsbild dieses Kontinents geformt hat und weiterhin prägt. Dieses „Erbgut" zu vernachlässigen oder gar aufzugeben, hieße, die eigene Identität aufs Spiel zu setzen und schließlich zu verlieren. Schon früher habe ich darauf hingewiesen, daß heute vor den Europäern die große Herausforderung liegt, „eine Kultur und eine Ethik der Einheit aufzubauen. Denn wenn diese fehlen, ist jede Politik der Einheit früher oder später zum Scheitern verurteilt" (Apostolisches Schreiben Spes ædificandi, als Motu Proprio erlassen zur Ausrufung der Mitpatroninnen Europas, vom 1. Oktober 1999, Nr. 10).

3. Zur Identität dieses Kontinents gehört als formgebender Faktor die von Jesus Christus gestiftete Kirche. „In der Gesamtgeschichte Europas stellt das Christentum zweifellos ein zentrales und prägendes Element dar, das sich auf dem starken Fundament des klassischen Erbes und der vielfältigen Beiträge gefestigt hatte, die von den im Lauf der Jahrhunderte aufeinanderfolgenden unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Strömungen eingebracht wurden. Der christliche Glaube hat die Kultur des Kontinents geformt und sich mit seiner Geschichte so unlösbar verflochten, daß diese gar nicht verständlich wäre, würde man nicht auf die Ereignisse verweisen, die zunächst die große Zeit der Evangelisierung und dann die langen Jahrhunderte geprägt haben, in denen sich das Christentum, wenn auch in der schmerzlichen Spaltung zwischen Orient und Okzident, als die Religion der Europäer durchgesetzt hat" (Motu Proprio Spes ædificandi, Nr. 1). Vor diesem Hintergrund kann kein Zweifel daran bestehen, daß eine klare Bezugnahme auf Gott und den christlichen Glauben in der zu erarbeitenden Europäischen Verfassung die Anerkennung einer geschichtlich-kulturellen Realität bedeutet, die in die Gegenwart hineinwirkt und aus der die Menschen in Europa ihre Identität ableiten. Sehr geehrter Herr Botschafter, bei der notwendigen Bewußtmachung dieser Tatsachen in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit vertraut der Heilige Stuhl auch auf den gezielten Beitrag von Gelehrten und politischen Verantwortungsträgern aus Ihrem geschätzten Heimatland, dem die Gesamtkultur dieses großen Kontinents so viel verdankt.

4. Sehr geehrter Herr Botschafter! Der Heilige Stuhl nimmt mit Befriedigung zur Kenntnis, daß die Bundesrepublik sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands und den damit verbunden enormen wirtschaftlichen und sozialen Anstrengungen nicht von den Herausforderungen der Europäischen Integration hat ablenken lassen. Deutschland ist ungeachtet der großen, in den neuen Bundesländern zu erbringenden Aufbauleistungen sowohl seiner europäischen Berufung als auch seinem allgemein anerkannten Engagement zugunsten der Solidarität mit den ärmeren Völkern dieser Welt treu geblieben. Die Deutschen haben über der Bewältigung eigener Probleme die der anderen nicht vergessen. Damit unterstreicht die deutsche Politik einen nicht unwesentlichen Aspekt des kontinentalen Integrationsprozesses: Die immer fester werdende Einheit Europas versteht sich nicht als eine Abgrenzbewegung gegenüber anderen Erdteilen, sondern beinhaltet eine entschiedene Offenheit zur Welt. In der Tat, die Staaten Europas sind dazu berufen, gemeinsam an einer globalen Ordnung der Gerechtigkeit und des Friedens aktiv mitzubauen! In dieser Perspektive begrüßt der Heilige Stuhl die kontinuierlichen Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland, die Achtung der Menschenrechte in allen Regionen der Erde zu fördern, damit überall dort, wo deutsche Entwicklungshilfe ankommt, die Menschen ihr Leben in Würde und Freiheit gestalten können. Dabei eignet Deutschland auf Grund seiner großen sozialen Traditionen eine besondere Berufung zur Verbreitung und Festigung des Gemeinwohlprinzips. Mögen die beachtlichen Mittel, die das deutsche Volk jährlich zur Unterstützung der Entwicklung ärmerer Länder aufbringt, zugleich ein Beitrag zum Schutz und zur Achtung der grundlegenden Menschenrechte sein, unter denen ich die vorrangigsten hier nennen möchte: „das Recht auf Leben, zu dem wesentlich das Recht gehört, nach der Zeugung im Mutterschoß heranzuwachsen; das Recht, in einer geeinten Familie und in einem sittlichen Milieu zu leben, das für die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit geeignet ist; das Recht, seinen Verstand und seine Freiheit in der Suche und Erkenntnis der Wahrheit zur Reife zu bringen; das Recht, an der Arbeit zur Erschließung der Güter der Erde teilzunehmen und daraus den Lebensunterhalt für sich und die Seinen zu gewinnen; das Recht auf freie Gründung einer Familie und auf Empfang und Erziehung der Kinder durch verantwortungsvollen Gebrauch der eigenen Sexualität. Quelle und Synthese dieser Rechte ist in gewissem Sinne die Religionsfreiheit, verstanden als Recht, in der Wahrheit des eigenen Glaubens und in Übereinstimmung mit der transzendenten Würde der eigenen Person zu leben" (Enzyklika Centesimus annus, Nr. 47).

5. Abschließend möchte ich durch Sie, Herr Botschafter, meine respektvollen Grüße an den Herrn Bundespräsidenten und herzliche Segenswünsche an das gesamte deutsche Volk übermitteln. Das gute und kooperative Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Deutschland dient dem Wohl der Menschen und bedarf daher der steten Vertiefung und Fortschreibung auf der Grundlage der Prinzipien, der Freiheit und der je eigenen Aufgabenstellung und Ziele beider Seiten. Indem ich Ihnen, Exzellenz, für die freundlichen Worte, die Sie eingangs an mich gerichtet haben, vielmals danke, versichere ich Ihnen, daß meine Mitarbeiter im Staatssekretariat und in den übrigen Kurienbehörden Ihnen gerne zur Verfügung stehen, um jede mögliche Hilfestellung anzubieten, der Sie sich bei der Ausübung Ihres hohen Amtes bedienen möchten. Von Herzen erteile ich Ihnen, Herr Botschafter, den geschätzten Angehörigen der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl und nicht zuletzt Ihrer werten Familie den Apostolischen Segen.


*Insegnamenti di Giovanni Paolo II, vol. XXV/2 p.311-314.

L'Osservatore Romano 14.9.2002 p.4.

 

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