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ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DEN NEUEN BOTSCHAFTER GEORGIENS
BEIM HL. STUHL

Donnerstag, 15. Mai 2003

 

Exzellenz!

Mit großer Freude heiße ich Sie im Vatikan willkommen anläßlich Ihres Amtsantritts als außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Republik Georgien beim Heiligen Stuhl. Mein Besuch im Jahr 1999 in Ihrem Land war für mich eine besondere Freude. Voller Dankbarkeit erinnere ich mich an den herzlichen Empfang und den tiefen ökumenischen Geist, den ich miterleben konnte. Ich bitte Sie, Herrn Präsident Shewardnadze, der Regierung sowie der Bevölkerung Ihres edlen Landes meinen Dank zu übermitteln für die guten Wünsche, die ich gern erwidere, und sie alle meines Gebets für den Frieden und das Wohl der Nation zu versichern.

Die Ideale des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit, auf die Sie mit Recht hinweisen, sind wesentliche und voneinander abhängige Bestandteile des wahren Fortschritts jeder Nation. Die wahre Entwicklung darf jedoch nicht von ihrer inneren Verbindung mit der Achtung der Menschenrechte getrennt werden (vgl. Sollicitudo Rei Socialis, 33). Die Menschen Georgiens sind sich dessen bewußt, daß, wenn diese in der Natur der menschlichen Person verwurzelten Rechte geleugnet werden, nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung der Nation behindert, sondern die Kultur selbst untergraben und der Geist der Menschen erstickt wird. Trotz der verschiedenen Formen von Unterdrückung, die Georgien erdulden mußte, konnten die Identität und die Einheit der Nation bewahrt werden und heute neu erblühen.

Georgien widmet sich weiterhin der schwierigen Aufgabe, seinen nationalen Geist auszuformen. Dabei sollte stets beachtet werden, daß die menschliche Entwicklung nicht nur auf die wirtschaftliche Dimension beschränkt sein darf. Das reine Anhäufen von Gütern und Dienstleistungen, auch wenn es zum Nutzen der Mehrheit erfolgt, genügt nicht, um das menschliche Glück zu verwirklichen (vgl. Sollicitudo rei socialis, 28). Unabhängig von der jeweils dominierenden politischen Ideologie zeigen die Erfahrungen der Geschichte, daß, wenn die Gesetze und die Institutionen des gesellschaftlichen Lebens nicht auf das wahre Wohl der menschlichen Person ausgerichtet sind, einige Phänomene der wirtschaftlichen Liberalisierung in Wirklichkeit Ungerechtigkeiten wie zunehmende Armut und soziale Zersplitterung verdecken können. Solche Ungleichheiten, die zumeist durch den Ausschluß der schwächeren Glieder der Gesellschaft von Ressourcen und Dienstleistungen hervorgerufen werden, die für alle bestimmt sind, rufen uns in Erinnerung, daß wir das fruchtbar machen müssen, was wir von Gott erhalten haben (vgl. Mt 25,26–28). Nach dem Willen des Schöpfergottes sollen wir uns darum bemühen, gemeinsam für die ganzheitliche Entwicklung der anderen zu arbeiten: die Entwicklung des ganzen Menschen und aller Menschen (vgl. Sollicitudo rei socialis, 30).

Das Christentum hat in der Vergangenheit in hohem Maße zur Entwicklung Georgiens beigetragen. Gleiches muß in der gegenwärtigen Zeit und auch in Zukunft geschehen. Seit der Verkündigung des hl. Nino im frühen 4. Jahrhundert hat das Christentum in der Kultur Georgiens Spuren hinterlassen und die so oft bedrohte Identität der Nation bewahrt. Aus diesem Grund sagte ich während meines Besuchs in Ihrem Land, daß der Glaube an Jesus Christus Georgiens wahrer Rettungsanker ist (vgl. Ansprache bei der Ankunft in Tiflis, 8. November 1999). An diesen Glauben, der die entschlossenen Einheitsbestrebungen der Nation am Leben gehalten hat, ist auf vielerlei Weise durch das große spirituelle Erbe Georgiens feierlich erinnert worden. Wesentlich ist vor allem, daß dieses Erbe den großen Reichtum einer einheitlichen und umfassenden Sichtweise von der menschlichen Person und ihrer Bestimmung treu bewahrt hat. Mit solchen Ressourcen kann Georgien einen bedeutenden Beitrag zur Stabilität der Region leisten. Durch seine einzigartige Lage am Kreuzungspunkt zwischen Europa und Asien kann es eine neue Kultur des Geistes hervorrufen und Zeugnis geben für eine auf der Botschaft des Evangeliums gründende Zivilisation der Liebe.

Die Zusammenarbeit und das Vorbild der christlichen Kirchen ist von großer Bedeutung für die Verwirklichung jener nationalen Einheit, die Georgien braucht, um den ihm gebührenden Platz im neuen Europa einnehmen zu können. Gemäß dem Willen des Herrn, daß all seine Jünger eins sein sollen (vgl. Joh 17,21), müssen die Christen Georgiens unermüdlich ein gemeinsames Zeugnis für ihn und sein Evangelium ablegen. Das setzt voraus, daß der ökumenische Dialog zwischen den Kirchen, dessen theologische Fortschritte nicht unterschätzt werden dürfen, durch praktische Gesten der Hochherzigkeit und Gerechtigkeit weiter vertieft werden muß, insbesondere im Hinblick auf das Recht auf Gewissensfreiheit, das vor allem in der Religionsfreiheit Ausdruck findet. Es ist das Festhalten an der Wahrheit und der Nächstenliebe, das jedes Hindernis auf dem Weg zu wahrer Religionsfreiheit und zur Erhaltung des mit ihr verbundenen kulturellen Reichtums anomal, ja sogar widersprüchlich erscheinen läßt. Gewiß entspricht in diesem Zusammenhang die jüngste Erklärung von Präsident Shewardnadze über religiöse Intoleranz den Überzeugungen aller Männer und Frauen guten Willens.

Herr Botschafter, ich danke Ihnen für die freundlichen und anerkennenden Worte für das, was die katholische Kirche durch ihre humanitären Organisationen zur Betreuung schutzloser Personengruppen für die Bevölkerung Georgiens leistet. Der karitative Dienst der Kirche an allen Menschen, insbesondere den armen und notleidenden, steht im Mittelpunkt ihres Zeugnisses für die allumfassende Liebe Christi. Es ist ihr inniger Wunsch, ihren Einsatz einer tätigen, konkreten Liebe, wo immer möglich, auf alle Menschen auszuweiten (vgl. Novo Millennio Ineunte, 49). Die christliche Nächstenliebe ist jedoch mehr als eine bloße humanitäre Hilfe. Für die katholische Kirche sind ihre karitativen Initiativen untrennbar mit der Feier der Eucharistie verbunden, aus der sie die notwendige geistliche Kraft schöpft, um die Menschen zu unterstützen und ihre Sendung zu erfüllen (vgl. Ecclesia de Eucharistia, 22). Und da sich die kleine katholische Gemeinschaft in Georgien weiterhin zur Anbetung des Herrn versammelt, wird auch ihr Dienst bedingungsloser Liebe für alle Georgier Früchte tragen und den Bedürftigsten Ihrer Nation Zeichen des Friedens und der Hoffnung bringen.

Exzellenz, gewiß wird die diplomatische Mission, die Sie heute beginnen, die zwischen der Republik Georgien und dem Heiligen Stuhl bestehenden Bande der Verständigung und Zusammenarbeit weiter festigen. Ich versichere Ihnen, daß die verschiedenen Ämter der Römischen Kurie Ihnen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben bereitwillig zur Seite stehen werden. Von Herzen wünsche ich Ihnen alles Gute und erbitte für Sie, Ihre Familie und die gesamte Bevölkerung Georgiens den Segen des allmächtigen Gottes.

 

OR n. 35 p. 12

 



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