9. WELTTAG DER ARMEN
HEILIG-JAHR-FEIER DER ARMEN
HOMILIE VON PAPST LEO XIV.
Petersdom
33. Sonntag im Jahreskreis, 16. November 2025
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Liebe Brüder und Schwestern,
die letzten Sonntage des Kirchenjahrs regen uns an, den Blick auf das Ende der Zeiten zu richten. In der ersten Lesung sieht der Prophet Maleachi im Kommen des „Tags des Herrn“ eine neue Zeit anbrechen. Sie wird als die Zeit Gottes beschrieben, in der die Hoffnungen der Armen und Demütigen – als ginge eine Sonne der Gerechtigkeit auf – eine letzte und endgültige Antwort vom Herrn erhalten und das Werk der Bösen und ihre Ungerechtigkeit, die vor allem zu Lasten der Wehrlosen und Armen geht, ausgerottet und wie Stroh verbrannt wird.
Diese aufgehende Sonne der Gerechtigkeit ist, wie wir wissen, Jesus selbst. Denn der Tag des Herrn ist nicht nur der letzte Tag der Geschichte, sondern das Reich, das im nahenden Sohn Gottes zu jedem Menschen kommt. Im Evangelium kündigt Jesus in der für seine Zeit typischen apokalyptischen Sprache dieses Reich an und lässt es anbrechen: Er selbst ist nämlich die Herrschaft Gottes, die in den dramatischen Ereignissen der Geschichte erscheint und sich Raum verschafft. Sie brauchen den Jünger also nicht zu erschrecken, sondern sollten ihn noch ausdauernder in seinem Zeugnis machen und ihm bewusstwerden lassen, dass die Verheißung Jesu immer lebendig und zuverlässig ist: „Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden“ (Lk 21,18).
Dies, Brüder und Schwestern, ist die Hoffnung, in der wir verankert sind, auch wenn das Leben nicht immer erfreulich ist. Auch heute noch schreitet die Kirche »zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt« (Lumen Gentium, 8). Und dort, wo alle menschlichen Hoffnungen erschöpft zu sein scheinen, wird die einzige Gewissheit noch fester, die sicherer ist als Himmel und Erde, nämlich dass es der Herr nicht zulassen wird, dass uns auch nur ein einziges Haar gekrümmt wird.
In den Verfolgungen, Leiden, Mühen und Bedrückungen unseres Lebens und der Gesellschaft lässt Gott uns nicht allein. Er erweist sich als derjenige, der sich für uns einsetzt. Die gesamte Heilige Schrift ist von diesem roten Faden durchzogen, der von einem Gott erzählt, der immer auf der Seite der Geringsten steht, auf der Seite der Waisen, der Fremden und der Witwen (vgl. Dtn 10,17-19). Und in Jesus, seinem Sohn, erreicht die Nähe und Liebe Gottes ihren Höhepunkt: Deshalb wird die Gegenwart und das Wort Christi zum Jubel und zum Jubeljahr für die Ärmsten, denn er ist gekommen, um den Armen die frohe Botschaft zu verkünden und das Gnadenjahr des Herrn auszurufen (vgl. Lk 4,18-19).
An diesem Gnadenjahr nehmen auch wir gerade heute in besonderer Weise teil, da wir an diesem Welttag die Heilig-Jahr-Feier der Armen begehen. Die ganze Kirche jubelt und freut sich, und vor allem euch, liebe Brüder und Schwestern, möchte ich mit Nachdruck die unverbrüchlichen Worte Jesu, unseres Herrn, weitergeben: »Dilexi te – ich [habe] dir meine Liebe zugewandt« (Offb 3,9). Ja, angesichts unserer Niedrigkeit und Armut sieht Gott wie kein anderer auf uns und liebt uns mit ewiger Liebe. Und seine Kirche will auch heute, vielleicht gerade in dieser unserer von alter und neuer Armut verwundeten Zeit, die »Mutter der Armen [sein, ein] Ort der Annahme und der Gerechtigkeit« (Apostolische Exhortation Dilexi te, 39).
Wie viel Armut bedrängt unsere Welt! In erster Linie ist es materielle Armut, aber es gibt auch viele moralische und geistige Nöte, von denen oft die Jüngeren betroffen sind. Und was all diese Formen der Armut gemeinsam haben, ist das Drama der Einsamkeit. Sie stellt uns vor die Herausforderung, Armut ganzheitlich zu betrachten, denn sicherlich ist es manchmal notwendig, auf dringende Bedürfnisse zu reagieren, aber insgesamt ist es eine Kultur der Aufmerksamkeit, die wir entwickeln müssen, gerade um die Mauer der Einsamkeit zu durchbrechen. Deshalb wollen wir aufmerksam sein für den anderen – für jeden, wo wir sind, wo wir leben – und diese Haltung schon in der Familie vermitteln, um sie an den Orten konkret zu leben, wo wir arbeiten und studieren, in den verschiedenen Gemeinschaften, in der digitalen Welt, überall, indem wir bis an die Ränder vordringen und Zeugen der Zärtlichkeit Gottes werden.
Heute scheinen vor allem die Kriegssituationen, die es leider in verschiedenen Regionen der Welt gibt, zu bestätigen, dass wir uns in einem Zustand der Ohnmacht befinden. Doch die Globalisierung der Ohnmacht entspringt einer Lüge, nämlich dem Glauben, dass dies schon immer so gewesen ist und sich nicht ändern kann. Das Evangelium sagt uns hingegen, dass der Herr gerade in Zeiten geschichtlicher Umwälzungen kommt, um uns zu retten. Und wir, die christliche Gemeinschaft, müssen heute, inmitten der Armen, ein lebendiges Zeichen dieses Heils sein.
Die Armut stellt für die Christen eine Herausforderung dar, aber auch für alle, die in der Gesellschaft Verantwortung tragen. Ich fordere daher die Staats- und Regierungschefs auf, auf den Schrei der Ärmsten zu hören. Es kann keinen Frieden ohne Gerechtigkeit geben. Daran erinnern uns die Armen auf vielfältige Weise: mit ihrer Migration ebenso wie mit ihrem Schrei, der so oft vom Mythos des Wohlstands und des Fortschritts erstickt wird, der nicht alle berücksichtigt, ja viele Geschöpfe vergisst und sie ihrem Schicksal überlässt.
Den Mitarbeitern der Hilfsorganisationen, den vielen freiwilligen Helfern und all jenen, die sich für die Linderung der Not der Ärmsten einsetzen, spreche ich meinen Dank aus und ermutige ich sie zugleich, mehr und mehr zu einem kritischen Gewissen in der Gesellschaft zu werden. Ihr wisst sehr gut, dass die Frage der Armen zum Wesentlichen unseres Glaubens zurückführt, dass sie für uns das Fleisch Christi sind und nicht nur eine soziologische Kategorie (vgl. Dilexi te, 110). »Wie eine Mutter begleitet die Kirche [deshalb] alle, die unterwegs sind. Wo die Welt Bedrohungen sieht, sieht sie Kinder; wo Mauern errichtet werden, baut sie Brücken« (ebd., 75).
Bringen wir uns alle ein. Wie der Apostel Paulus den Christen in Thessaloniki schreibt (vgl. 2 Thess 3,6-13), dürfen wir in der Erwartung der glorreichen Wiederkunft des Herrn nicht ein selbstbezogenes und rein innerliches Leben führen, das dazu führt, dass wir uns von anderen und von der Geschichte abwenden. Im Gegenteil, zur Suche nach dem Reich Gottes gehört der Wunsch, das menschliche Zusammenleben in einen Raum der Geschwisterlichkeit und der Würde für alle zu verwandeln, der niemanden ausschließt. Es besteht immer die Gefahr, dass wir wie unachtsame Reisende leben, die ihr endgültiges Ziel aus den Augen verlieren und sich nicht für diejenigen interessieren, die zusammen mit uns unterwegs sind.
Lassen wir uns bei dieser Heilig-Jahr-Feier der Armen vom Zeugnis der heiligen Männer und Frauen inspirieren, die Christus durch ihr Wirken für die Ärmsten gedient haben und ihm auf dem Weg der Niedrigkeit und der Entäußerung nachgefolgt sind. Insbesondere möchte ich die Gestalt des heiligen Benedikt Joseph Labre hervorheben: Sein Leben als „Vagabund Gottes“ weist die Merkmale auf, die ihn zum Patron aller obdachlosen Armen machen. Möge die Jungfrau Maria, die uns im Magnificat beständig an Gottes Entscheidungen erinnert und denen eine Stimme verleiht, die keine Stimme haben, uns helfen, in die neue Logik des Reiches Gottes hineinzufinden, damit die Liebe Gottes, die annimmt, vergibt, Wunden verbindet, tröstet und heilt, in unserem Christenleben immer präsent ist.
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