zoomText
  • A
  • A
  • A

APOSTOLISCHE EXHORTATION
DILEXI TE
DES HEILIGEN VATERS LEO XIV.
ÜBER DIE LIEBE ZU DEN ARMEN

[Multimedia]

_____________________

AR  - DE  - EN  - ES  - FR  - IT  - PL  - PT

1. »Ich [habe] dir meine Liebe zugewandt« (Offb 3,9), sagt der Herr zu einer christlichen Gemeinde, die im Gegensatz zu anderen keine Bedeutung oder Ressourcen hatte und Gewalt und Verachtung ausgesetzt war: Auch wenn »du nur geringe Kraft hast, werde ich sie kommen lassen, damit sie sich vor dir niederwerfen« (vgl. Offb 3,8-9). Dieser Text erinnert an die Worte des Lobgesangs Marias: »Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen« (Lk 1,52-53).

2. Die Liebeserklärung im Buch der Offenbarung des Johannes verweist auf das unerschöpfliche Geheimnis, das Papst Franziskus in seiner Enzyklika Dilexit nos über die göttliche und menschliche Liebe des Herzens Christi vertieft hat. Darin haben wir bewundert, wie Jesus sich »mit den Geringsten der Gesellschaft« identifizierte und wie er durch seine vollendete liebende Hingabe die Würde jedes Menschen sichtbar gemacht hat, umso mehr, »je schwächer, elender und leidender er ist«. [1] Die Liebe Christi zu betrachten »hilft uns, den Leiden und Nöten der anderen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, und macht uns stark, an seinem Werk der Befreiung mitzuwirken, als Werkzeuge für die Verbreitung seiner Liebe«. [2]

3. Aus diesem Grund bereitete Papst Franziskus, in Fortsetzung der Enzyklika Dilexit nos, in den letzten Monaten seines Lebens eine Apostolische Exhortation über die Sorge der Kirche für die Armen und mit den Armen vor, die den Titel Dilexi te tragen sollte, mit dem Gedanken, dass Christus sich an jeden Einzelnen von ihnen wendet und sagt: Du hast wenig Kraft, wenig Macht, aber »ich [habe] dir meine Liebe zugewandt« ( Offb 3,9). Da ich dieses Projekt gewissermaßen als Erbe erhalten habe, freue ich mich, es mir – unter Hinzufügung einiger Überlegungen – zu eigen zu machen und es noch in der Anfangsphase meines Pontifikats vorzulegen. Ich teile den Wunsch meines verehrten Vorgängers, dass alle Christen den tiefen Zusammenhang zwischen der Liebe Christi und seinem Ruf, den Armen nahe zu sein, erkennen mögen. Auch ich halte es nämlich für nötig, auf diesen Weg der Heiligung zu dringen, denn in dem »Aufruf, ihn in den Armen und Leidenden zu erkennen, offenbart sich das Herz Christi selbst, seine Gesinnung und seine innersten Entscheidungen, die jeder Heilige nachzuahmen sucht«. [3]

KAPITEL I
EINIGE WESENTLICHE PUNKTE

4. Die Jünger Jesu kritisierten die Frau, die ihm ein sehr kostbares wohlriechendes Öl über das Haupt gegossen hatte: »Wozu diese Verschwendung?«, sagten sie, »Man hätte das Öl teuer verkaufen und das Geld den Armen geben können!«. Aber der Herr sagte zu ihnen: »Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer« (Mt 26,8-9.11). Diese Frau hatte verstanden, dass Jesus der demütige und leidende Messias war, über den sie ihre Liebe ausgießen konnte: Was für ein Trost war dieses Salböl auf dem Haupt, das wenige Tage später unter Dornen leiden sollte! Es war zwar nur eine kleine Tat, aber wer leidet, weiß, wie groß auch eine kleine Geste der Zuneigung ist und wie viel Trost sie bringen kann. Jesus versteht das und bestätigt ihre zeitlose Gültigkeit: »Auf der ganzen Welt, wo dieses Evangelium verkündet wird, wird man auch erzählen, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis« (Mt 26,13). Die Einfachheit dieser Tat offenbart etwas Großes. Keine Geste der Zuneigung, auch nicht die kleinste, wird vergessen werden, besonders wenn sie denen gilt, die in Schmerz, Einsamkeit und Not sind, wie es der Herr in dieser Stunde war.

5. Und eben in dieser Perspektive verbindet sich die Liebe zum Herrn mit der Liebe zu den Armen. Jener Jesus, der sagt: »Die Armen habt ihr immer bei euch« (Mt 26,11), drückt dasselbe aus, wenn er seinen Jüngern verspricht: »Ich bin bei euch alle Tage« (Mt 28,20). Gleichzeitig kommen uns wieder die Worte des Herrn in den Sinn: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). Hier geht es nicht um Wohltätigkeit, sondern um Offenbarung: Der Kontakt mit denen, die keine Macht und kein Ansehen haben, ist eine grundlegende Form der Begegnung mit dem Herrn der Geschichte. In den Armen hat er uns auch weiterhin noch etwas zu sagen.

Der heilige Franziskus

6. Papst Franziskus erinnerte an die Wahl seines Namens und erzählte, dass ihn nach seiner Wahl ein befreundeter Kardinal umarmte, küsste und ihm sagte: »Vergiss die Armen nicht!« [4] Es handelt sich um dieselbe Empfehlung, die die kirchlichen Autoritäten dem heiligen Paulus gaben, als er nach Jerusalem hinaufging, um seine Sendung prüfen zu lassen (vgl. Gal 2,1-10). Jahre später konnte der Apostel sagen: »Das zu tun, habe ich mich eifrig bemüht« ( Gal 2,10). Und das war auch die Entscheidung des heiligen Franz von Assisi: Christus selbst war es, der ihn in dem Aussätzigen umarmte und sein Leben veränderte. Die leuchtende Gestalt des Poverello wird uns stets weiter inspirieren.

7. Er war es, der vor acht Jahrhunderten eine dem Evangelium entsprechende Erneuerung unter den Christen und in der Gesellschaft seiner Zeit bewirkte. Der junge Franziskus, der zunächst reich und übermütig war, wurde durch die Begegnung mit denen, die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen waren, neu geboren. Der von ihm ausgehende Impuls bewegt bis heute die Herzen der Gläubigen und vieler Nichtgläubiger und »hat die Geschichte verändert«. [5] Das Zweite Vatikanische Konzil hat nach den Worten des heiligen Paul VI. diesen Weg beschritten: »Die alte Geschichte vom barmherzigen Samariter war das Paradigma der Spiritualität des Konzils.« [6] Ich bin überzeugt, dass die vorrangige Option für die Armen eine außerordentliche Erneuerung sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft bewirkt, wenn wir dazu fähig sind, uns von unserer Selbstbezogenheit zu befreien und auf ihren Schrei zu hören.

Der Schrei der Armen

8. Hierzu gibt es einen Text aus der Heiligen Schrift, von dem wir immer ausgehen müssen. Es handelt sich um die Offenbarung Gottes an Mose am brennenden Dornbusch: »Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne sein Leid. Ich bin herabgestiegen, um es der Hand der Ägypter zu entreißen […]. Und jetzt geh! Ich sende dich« ( Ex 3,7-8.10). [7] Gott zeigt sich in Sorge angesichts der Not der Armen: „Als sie zum Herrn schrien, setzte ihnen der Herr einen Retter ein“ (vgl. Ri 3,15). Wenn wir also den Schrei der Armen hören, sind wir aufgerufen, mit dem Herzen Gottes zu fühlen, der sich um die Nöte seiner Kinder und besonders der Bedürftigsten kümmert. Bleiben wir hingegen diesem Schrei gegenüber gleichgültig, würde der Arme gegen uns zum Herrn schreien, und eine Sünde läge auf uns (vgl. Dtn 15,9), und wir würden uns vom Herzen Gottes selbst entfernen.

9. Die Lebenssituation der Armen ist ein Schrei, der in der Geschichte der Menschheit unser eigenes Leben, unsere Gesellschaften, die politischen und wirtschaftlichen Systeme und nicht zuletzt auch die Kirche beständig hinterfragt. Im verwundeten Gesicht der Armen sehen wir das Leiden der Unschuldigen und damit das Leiden Christi selbst. Zugleich sollten wir vielleicht besser von den vielen Gesichtern der Armen und der Armut sprechen, weil es sich um eine facettenreiche Problematik handelt. Es gibt nämlich viele Formen der Armut: die derjenigen, denen es materiell am Lebensnotwendigen fehlt, die Armut derer, die sozial ausgegrenzt sind und keine Mittel haben, um ihrer Würde und ihren Fähigkeiten Ausdruck zu verleihen, die moralische und geistliche Armut, die kulturelle Armut, die Armut derjenigen, die sich in einer Situation persönlicher oder sozialer Schwäche oder Fragilität befinden, die Armut derer, die keine Rechte, keinen Raum und keine Freiheit haben.

10. In diesem Sinne kann man sagen, dass das Engagement für die Armen und für die Beseitigung der sozialen und strukturellen Ursachen der Armut in den vergangenen Jahrzehnten zwar an Bedeutung gewonnen hat, aber nach wie vor unzureichend bleibt: Auch weil die Gesellschaften, in denen wir leben, oft Lebens- und Politikorientierungen bevorzugen, die von zahlreichen Ungleichheiten geprägt sind, und daher zu den alten Formen der Armut, deren wir uns bewusst geworden sind und die wir zu bekämpfen versuchen, neue, manchmal subtilere und gefährlichere Formen hinzukommen. Aus dieser Perspektive ist es sehr zu begrüßen, dass die Vereinten Nationen die Beseitigung der Armut zu einem der Millenniumsziele erklärt haben.

11. Mit dem konkreten Engagement für die Armen muss auch ein Mentalitätswandel einhergehen, der sich auf kultureller Ebene bemerkbar macht. Die Illusion, dass ein Leben in Wohlstand glücklich macht, führt viele Menschen nämlich zu einer Lebenseinstellung, die auf Ansammlung von Reichtum und sozialen Erfolg um jeden Preis ausgerichtet ist, auch wenn dies auf Kosten anderer geschieht und man dabei von ungerechten gesellschaftlichen Idealen bzw. politisch-wirtschaftlichen Verhältnissen profitiert, die die Stärkeren begünstigen. So sehen wir in einer Welt, in der es immer mehr arme Menschen gibt, paradoxerweise auch die Zunahme einiger reicher Eliten, die in einer Blase sehr komfortabler und luxuriöser Bedingungen leben, beinahe in einer anderen Welt im Vergleich zu den einfachen Menschen. Das bedeutet, dass es nach wie vor – manchmal gut getarnt – eine Kultur gibt, die andere ausgrenzt, ohne dies überhapt zu bemerken, und die es gleichgültig hinnimmt, dass Millionen von Menschen verhungern oder unter menschenunwürdigen Bedingungen überleben. Vor ein paar Jahren sorgte das Foto eines leblosen Kindes an einem Mittelmeerstrand für erhebliches Aufsehen; leider werden derartige Vorkommnisse, von einer kurzzeitigen Gefühlsregung abgesehen, immer mehr zu irrelevanten Randnotizen.

12. Wir dürfen im Hinblick auf die Armut nicht unachtsam werden. Besonders besorgen uns die gravierenden Umstände, in denen sich sehr viele Menschen wegen Nahrungs- und Wassermangels befinden. Jeden Tag sterben Tausende von Menschen an den Folgen von Unterernährung. Auch in den reichen Ländern sind die Zahlen der Armen nicht weniger besorgniserregend. In Europa gibt es immer mehr Familien, die mit ihrem Einkommen nicht bis zum Monatsende auskommen. Generell ist eine Zunahme verschiedener Formen der Armut zu beobachten. Armut ist nicht mehr als ein einheitlicher Zustand zu verstehen, sondern äußert sich in vielfältigen Formen wirtschaftlicher und sozialer Verarmung und spiegelt das Phänomen wachsender Ungleichheit auch in allgemein wohlhabenden Lebensumfeldern wider. Wir erinnern daran: »Doppelt arm sind die Frauen, die Situationen der Ausschließung, der Misshandlung und der Gewalt erleiden, denn oft haben sie geringere Möglichkeiten, ihre Rechte zu verteidigen. Und doch finden wir auch unter ihnen fortwährend die bewundernswertesten Gesten eines täglichen Heroismus im Schutz und in der Fürsorge für die Gebrechlichkeit in ihren Familien.« [8] Obwohl in einigen Ländern wichtige Veränderungen zu beobachten sind, sind »die Gesellschaften auf der ganzen Erde noch lange nicht so organisiert, dass sie klar widerspiegeln, dass die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben wie die Männer. Mit Worten behauptet man bestimmte Dinge, aber die Entscheidungen und die Wirklichkeit schreien eine andere Botschaft heraus«, [9] vor allem wenn man an die ärmsten Frauen denkt.

Ideologische Vorurteile

13. Jenseits der Daten – die manchmal so „interpretiert” werden, dass man glauben könnte, die Situation der Armen sei gar nicht so schlimm –, ist die allgemeine Lage ziemlich klar: »Es gibt wirtschaftliche Regeln, die sich für das Wachstum als wirksam erwiesen haben, aber nicht für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Der Reichtum ist gewachsen, aber ohne Gerechtigkeit, und so entsteht neue Armut. Wenn man sagt, dass die moderne Welt die Armut verringert hat, dann misst man sie mit Kriterien aus anderen Epochen, die mit der heutigen Realität nicht vergleichbar sind. In anderen Zeiten galt beispielsweise der fehlende Zugang zu Elektrizität nicht als Zeichen von Armut und war kein Grund für große Not. Armut wird immer im Kontext der realen Möglichkeiten eines konkreten historischen Moments analysiert und verstanden.« [10] Jenseits von besonderen und kontextbezogenen Situationen wurde 1984 in einem Dokument der Europäischen Gemeinschaft festgestellt, dass »verarmte Personen Einzelpersonen, Familien und Personengruppen [sind], die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist«. [11] Wenn wir jedoch anerkennen, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Geburtsort die gleiche Würde haben, dürfen wir die großen Unterschiede zwischen den Ländern und Regionen nicht außer Acht lassen.

14. Die Armen gibt es nicht zufällig oder aufgrund eines blinden und bitteren Schicksals. Noch weniger ist Armut für die meisten von ihnen eine freie Entscheidung. Und doch gibt es immer noch Personen, die dies behaupten und damit ihre Blindheit und Grausamkeit offenbaren. Natürlich gibt es unter den Armen auch solche, die nicht arbeiten wollen, vielleicht weil ihre Vorfahren, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, in Armut gestorben sind. Aber es gibt viele – Männer und Frauen –, die dennoch von morgens bis abends arbeiten, vielleicht Kartons sammeln oder ähnliche Tätigkeiten ausüben, obwohl sie wissen, dass diese Anstrengungen nur dem Überleben dienen und ihr Leben nicht wirklich verbessern werden. Wir dürfen nicht sagen, dass die meisten Armen arm sind, weil sie sich keine „Verdienste” erworben haben, gemäß jener falschen Vorstellung der Meritokratie, nach der scheinbar nur diejenigen Verdienste haben, die im Leben erfolgreich gewesen sind.

15. Auch Christen lassen sich oft von weltlichen Ideologien oder politischen und wirtschaftlichen Orientierungen anstecken, die zu ungerechten Verallgemeinerungen und abwegigen Schlussfolgerungen führen. Die Tatsache, dass praktizierte Nächstenliebe verachtet oder lächerlich gemacht wird, als handle es sich um die Fixierung einiger weniger und nicht um den glühenden Kern der kirchlichen Sendung, bringt mich zu der Überzeugung, dass wir das Evangelium immer wieder neu lesen müssen, um nicht Gefahr zu laufen, dass eine weltliche Gesinnung an seine Stelle tritt. Wenn wir nicht aus dem lebendigen Strom der Kirche herausfallen wollen, der dem Evangelium entspringt und jeden Moment der Geschichte fruchtbar werden lässt, dürfen wir auf gar keinen Fall die Armen vergessen.

KAPITEL II
GOTT ERWÄHLT DIE ARMEN

Die Erwählung der Armen

16. Gott ist barmherzige Liebe, und sein Heilsplan der Liebe, der sich über die Geschichte erstreckt und sich in ihr verwirklicht, besteht vor allem darin, dass er zu uns hinabgestiegen und mitten unter uns gewesen ist, um uns von der Knechtschaft, von den Ängsten, von der Sünde und von der Macht des Todes zu befreien. Mit barmherzigem Blick und mit einem Herzen voller Liebe hat er sich seinen Geschöpfen zugewandt und sich ihrer menschlichen Bedingtheit und damit ihrer Armut angenommen. Er ist selbst arm geworden, gerade um die Beschränkungen und Schwächen unserer menschlichen Natur zu teilen. Er ist wie wir im Fleisch geboren, und wir haben ihn in der Kleinheit eines in eine Krippe gelegten Kindes sowie in der äußersten Erniedrigung des Kreuzes gesehen, wo er unsere radikale Armut geteilt hat, welche der Tod ist. Es ist also gut nachvollziehbar, warum man auch theologisch von einer vorrangigen Option Gottes für die Armen sprechen kann, ein Ausdruck, der im Kontext Lateinamerikas, speziell bei der Vollversammlung von Puebla, aufgekommen ist, der aber im nachfolgenden Lehramt der Kirche gut integriert ist. [12] [2] Diese „Präferenz” stellt niemals eine Ausgrenzung oder Diskriminierung anderer Gruppen dar, was bei Gott unmöglich wäre. Sie soll vielmehr das Handeln Gottes betonen, der voller Mitgefühl für die Armut und die Schwäche der ganzen Menschheit ist: Indem er ein Reich der Gerechtigkeit, der Geschwisterlichkeit und der Solidarität errichten will, trägt er insbesondere diejenigen im Herzen, die diskriminiert und unterdrückt werden, und er fordert auch von uns, seiner Kirche, eine entschiedene und radikale Parteinahme für die Schwächsten.

17. In diesem Zusammenhang sind die zahlreichen Stellen des Alten Testaments zu verstehen, in denen Gott als Freund und Befreier der Armen dargestellt wird, als derjenige, der den Schrei des Armen hört und eingreift, um ihn zu befreien (vgl. Ps 34,7). Gott, die Zuflucht der Armen, prangert durch die Propheten – denken wir besonders an Amos und Jesaja – die Ungerechtigkeiten gegenüber den Schwächsten an und ermahnt Israel, auch den Kult von innen heraus zu erneuern: Denn man kann nicht beten und Opfer darbringen, während man die Schwächsten und Ärmsten unterdrückt. Von Anfang an macht die Heilige Schrift die Liebe Gottes durch den Schutz der Schwachen und Bedürftigen mit solcher Intensität sichtbar, dass man von einer Art „Schwäche“ Gottes ihnen gegenüber sprechen könnte. »Im Herzen Gottes gibt es einen so bevorzugten Platz für die Armen […]. Der ganze Weg unserer Erlösung ist von den Armen geprägt.« [13]

Jesus, der arme Messias

18. Die gesamte alttestamentliche Geschichte der Vorliebe Gottes für die Armen und des göttlichen Wunsches, auf ihren Schrei zu hören – an die ich kurz erinnert habe –, findet in Jesus von Nazaret ihre volle Verwirklichung. [14] In seiner Menschwerdung »entäußerte [er] sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen« ( Phil 2,7) und in dieser Gestalt wirkte er unser Heil. Es handelt sich um eine radikale Armut, die auf seiner Sendung beruht, das wahre Antlitz der göttlichen Liebe zu offenbaren (vgl. Joh 1,18; 1 Joh 4,9). Daher kann der heilige Paulus in einer seiner wunderbaren Zusammenfassungen sagen: »Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen« ( 2 Kor 8,9).

19. Tatsächlich zeigt das Evangelium, dass diese Armut jeden Aspekt seines Lebens betraf. Seit seinem Kommen in diese Welt erlebte Jesus Schwierigkeiten, die etwas mit Ablehnung zu tun haben. Der Evangelist Lukas berichtet von der Ankunft Josefs und Marias, die kurz vor der Geburt stand, in Betlehem und stellt mit Bedauern fest, dass »in der Herberge kein Platz für sie war« (vgl. Lk 2,7). Jesus wurde in bescheidenen Verhältnissen geboren; gleich nach seiner Geburt wurde er in eine Krippe gelegt; und schon bald flohen seine Eltern nach Ägypten, um ihn vor dem Tod zu retten (vgl. Mt 2,13-15). Zu Beginn seines öffentlichen Lebens wurde er aus Nazaret vertrieben, nachdem er in der Synagoge verkündet hatte, dass das Jahr der Gnade, über das sich die Armen freuen, in ihm seine Erfüllung finde (vgl. Lk 4,14-30). Auch als er starb, gab es keinen Platz für ihn: Sie führten ihn zur Kreuzigung aus Jerusalem hinaus (vgl. Mk 15,22). Von diesen Umständen her lässt sich die Armut Jesu klar zusammenfassen. Es handelt sich um dieselbe Ausgrenzung, die die Definition der Armen ausmacht: Sie sind die von der Gesellschaft Ausgeschlossenen. Jesus ist die Offenbarung dieses privilegium pauperum. Er zeigt sich der Welt nicht nur als armer Messias, sondern auch als Messias der Armen und für die Armen.

20. Es gibt einige Hinweise zur sozialen Stellung Jesu. Zunächst einmal übt er den Beruf eines Handwerkers oder Zimmermanns aus, téktōn (vgl. Mk 6,3). Es handelt sich bei dieser Berufsgruppe um Menschen, die von ihrer Hände Arbeit leben. Da sie keinen Grundbesitz hatten, standen sie unterhalb der Bauern. Als der kleine Jesus von Josef und Maria im Tempel dem Herrn dargestellt wurde, opferten seine Eltern ein Paar Turteltauben oder Tauben (vgl. Lk 2,22-24), was gemäß den Vorschriften des Buches Levitikus (vgl. 12,8) das Opfer der Armen war. Eine recht bedeutende Episode des Evangeliums erzählt uns, wie Jesus und seine Jünger zusammen durch die Felder gingen und Ähren lasen, um sich zu ernähren (vgl. Mk 2,23-28). Dies – das Ährenlesen auf den Feldern – war nur den Armen erlaubt. Schließlich sagt Jesus über sich selbst: »Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann« (Mt 8,20; Lk 9,58). Er ist nämlich ein Wanderprediger, dessen Armut und Bedürftigkeit Zeichen seiner Verbundenheit mit dem Vater sind. Sie werden auch von denen verlangt, die ihm auf dem Weg der Jüngerschaft nachfolgen wollen, gerade damit der Verzicht auf die Güter, die Reichtümer und die Sicherheiten dieser Welt zum sichtbaren Zeichen des Vertrauens auf Gott und seine Vorsehung wird.

21. Zu Beginn seines öffentlichen Wirkens kommt Jesus in die Synagoge von Nazaret, liest aus der Schriftrolle des Propheten Jesaja vor und bezieht die Worte des Propheten auf sich selbst: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe« (Lk 4,18; vgl. Jes 61,1). Er offenbart sich also – in diesem Moment der Geschichte – als derjenige, der kommt, um die liebevolle Nähe Gottes zu verwirklichen, die in erster Linie ein Werk der Befreiung für diejenigen ist, die Gefangene des Bösen sind, für die Schwachen und für die Armen. Die Zeichen, die die Verkündigung Jesu nämlich begleiten, sind ein Ausdruck der Liebe und des Mitleids, mit denen Gott auf die Kranken, die Armen und die Sünder schaut, die aufgrund ihrer Situation von der Gesellschaft, aber auch vonseiten der Religion ausgeschlossen waren. Er öffnet den Blinden die Augen, heilt die Aussätzigen, erweckt die Toten und verkündet den Armen die frohe Botschaft: Gott ist euch nahe, Gott liebt euch (vgl. Lk 7,22). Dies erklärt, warum er verkündet: »Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes« (Lk 6,20). Denn Gott zeigt den Armen seine Vorliebe: Zuallererst richtet sich das Wort der Hoffnung und der Befreiung des Herrn an sie: Deshalb soll sich niemand verlassen fühlen, auch wenn er in einem Zustand der Armut oder der Schwäche lebt. Und die Kirche, wenn sie Kirche Christi sein will, muss eine Kirche der Seligpreisungen sein, eine Kirche, die den Kleinen Raum schafft, die arm und zusammen mit den Armen auf dem Weg ist, und die ein Ort ist, an dem die Armen einen privilegierten Platz haben (vgl. Jak 2,2-4).

22. Bedürftige und Kranke, die sich nicht selbst versorgen konnten, waren oft gezwungen, zu betteln. Hinzu kam die Last der sozialen Schande, die durch die Überzeugung genährt wurde, dass Krankheit und Armut mit einer persönlichen Sünde verbunden seien. Jesus widersprach dieser Denkweise entschieden und erklärte: Gott »lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,45). Er kehrte diese Vorstellung sogar völlig um, wie das Gleichnis vom reichen Prasser und dem armen Lazarus deutlich zeigt: »Mein Kind, erinnere dich daran, dass du schon zu Lebzeiten deine Wohltaten erhalten hast, Lazarus dagegen nur Schlechtes. Jetzt wird er hier getröstet, du aber leidest große Qual« (Lk 16,25).

23. Dann wird klar: »Aus unserem Glauben an Christus, der arm geworden und den Armen und Ausgeschlossenen immer nahe ist, ergibt sich die Sorge um die ganzheitliche Entwicklung der am stärksten vernachlässigten Mitglieder der Gesellschaft.« [15] Oft frage ich mich, warum trotz solcher Klarheit der Heiligen Schrift in Bezug auf die Armen viele weiterhin glauben, sie könnten die Armen ausblenden. Bleiben wir vorerst jedoch im Bereich der Bibel und versuchen wir, über unser Verhältnis zu den Letzten der Gesellschaft und ihren grundlegenden Platz im Volk Gottes nachzudenken.

Die Barmherzigkeit gegenüber den Armen in der Bibel

24. Der Apostel Johannes schreibt: »Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht« (1 Joh 4,20). In seiner Antwort an den Gesetzeslehrer greift Jesus die beiden alten Gebote auf: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft« (vgl. Dtn 6,5) und »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Lev 19,18), und fasst sie zu einem einzigen Gebot zusammen. Der Evangelist Markus gibt die Antwort Jesu wie folgt wieder: »Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden« (Mk 12,29-31).

25. Die zitierte Stelle aus dem Buch Levitikus fordert dazu auf, die eigenen Landsleute zu ehren, während in anderen Texten eine Lehre zu finden ist, die zur Achtung – wenn nicht sogar zur Liebe – auch des Feindes auffordert: »Wenn du dem verirrten Rind oder dem Esel deines Feindes begegnest, sollst du ihm das Tier zurückbringen. Wenn du siehst, wie der Esel deines Feindes unter seiner Last zusammenbricht, dann lass ihn nicht im Stich, sondern leiste ihm Hilfe!« (Ex 23,4-5). Hier wird der Wert sichtbar, welcher der Achtung des Menschen innewohnt: Jeder, der in Not ist, sogar der Feind, verdient immer unsere Hilfe.

26. Es ist unbestreitbar, dass die vorrangige Stellung Gottes in der Lehre Jesu mit dem anderen Grundpfeiler einhergeht, dass man Gott nicht lieben kann, wenn man nicht auch den Armen Liebe erweist. Die Nächstenliebe ist der greifbare Beweis für die Echtheit der Liebe zu Gott, wie der Apostel Johannes bezeugt: »Niemand hat Gott je geschaut; wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und seine Liebe ist in uns vollendet. […] Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm« (1 Joh 4,12.16). Es handelt sich um zwei unterschiedliche, aber untrennbare Aspekte der Liebe. Auch in den Fällen, in denen es sich nicht um explizite Gottesbeziehung handelt, so lehrt uns der Herr selbst, ist jeder Akt der Nächstenliebe in gewisser Weise ein Widerschein der Gottesliebe: »Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40).

27. Aus diesem Grund werden die Werke der Barmherzigkeit als ein Zeichen für die Wahrhaftigkeit der Liturgie empfohlen, die Gott lobpreist und zugleich die Aufgabe hat, uns offen zu machen für jene Verwandlung, die der Heilige Geist in uns bewirken kann, damit wir alle zum Abbild Christi und seiner Barmherzigkeit gegenüber den Schwächsten werden. In diesem Sinne will uns die Beziehung zum Herrn, die in der Liturgie zum Ausdruck kommt, auch von der Gefahr befreien, unsere Beziehungen nach der Logik des Kalküls und des eigenen Vorteils zu leben, und uns für jene Uneigennützigkeit öffnen, die zwischen denen herrscht, die sich lieben und deshalb alles miteinander teilen. Diesbezüglich rät Jesus: »Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein; sonst laden auch sie dich wieder ein und dir ist es vergolten. Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten« (Lk 14,12-14).

28. Der Aufruf des Herrn zur Barmherzigkeit gegenüber den Armen kommt voll zum Ausdruck in dem großen Gleichnis vom Jüngsten Gericht (vgl. Mt 25,31-46), das auch ein anschauliches Bild der Seligkeit der Barmherzigen vermittelt. Dort hat uns der Herr den Schlüssel zu unserer Vervollkommnung gegeben, denn »wenn wir die Heiligkeit suchen, die in Gottes Augen gefällt, dann entdecken wir gerade in diesem Text einen Maßstab, nach dem wir geurteilt werden«. [16] Die starken und klaren Worte des Evangeliums sollten »ohne Kommentar, ohne Ausflüchte und Ausreden [gelebt werden], die ihnen Kraft entziehen. Der Herr hat uns ganz deutlich gesagt, dass die Heiligkeit weder verstanden noch gelebt werden kann, wenn man von seinen Forderungen absieht.« [17]

29. In der urchristlichen Gemeinde beruhte das Programm der Nächstenliebe nicht auf Analysen oder Projekten, sondern direkt auf dem Beispiel Jesu, auf den Worten des Evangeliums selbst. Der Jakobusbrief gibt dem Problem der Beziehung zwischen Reichen und Armen viel Raum und richtet an die Gläubigen zwei sehr eindringliche Appelle, die ihren Glauben kritisch hinterfragen: »Was nützt es, meine Brüder und Schwestern, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten? Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung sind und ohne das tägliche Brot und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen – was nützt das? So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat« (Jak 2,14-17).

30. »Euer Gold und Silber verrostet. Ihr Rost wird als Zeuge gegen euch auftreten und euer Fleisch fressen wie Feuer. Noch in den letzten Tagen habt ihr Schätze gesammelt. Siehe, der Lohn der Arbeiter, die eure Felder abgemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, schreit zum Himmel; die Klagerufe derer, die eure Ernte eingebracht haben, sind bis zu den Ohren des Herrn Zebaoth gedrungen. Ihr habt auf Erden geschwelgt und geprasst und noch am Schlachttag habt ihr eure Herzen gemästet« (Jak 5,3-5). Welche Kraft diese Worte doch haben, selbst wenn wir uns lieber taub stellen! Im Ersten Brief des Johannes finden wir einen ähnlichen Aufruf: »Wenn jemand die Güter dieser Welt hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Liebe Gottes in ihm bleiben?« (1 Joh 3,17).

31. Das offenbarte Wort ist »eine so klare, so direkte, so einfache und vielsagende Botschaft, dass keine kirchliche Hermeneutik das Recht hat, sie zu relativieren. Die Reflexion der Kirche über diese Texte sollte deren ermahnende Bedeutung nicht verdunkeln oder schwächen, sondern vielmehr helfen, sie sich mutig und eifrig zu eigen zu machen. Warum komplizieren, was so einfach ist? Die begrifflichen Werkzeuge sind dazu da, den Kontakt mit der Wirklichkeit, die man erklären will, zu fördern, und nicht, um uns von ihr zu entfernen.« [18]

32. Ein klares kirchliches Beispiel für die gemeinsame Nutzung von Gütern und die Aufmerksamkeit gegenüber den Armen finden wir auch im Alltag und im Lebensstil der ersten christlichen Gemeinschaft. So sei insbesondere an die Art und Weise erinnert, wie das Problem der täglichen Versorgung der Witwen gelöst wurde (vgl. Apg 6,1-6). Es handelte sich um keine einfache Frage, auch weil einige dieser Witwen aus anderen Ländern stammten und als Fremde manchmal vernachlässigt wurden. Tatsächlich zeigt die in der Apostelgeschichte geschilderte Begebenheit eine gewisse Unzufriedenheit seitens der Hellenisten, also der Juden griechischer Kultur. Die Apostel antworteten nicht mit einer abstrakten Rede, sondern stellten die Nächstenliebe gegenüber allen wieder in den Mittelpunkt und organisierten die Hilfe für die Witwen neu, indem sie die Gemeinde aufforderten, kluge und angesehene Personen zu suchen, denen die Aufgabe des Dienstes an den Tischen anvertraut werden konnte, während sie selbst sich um die Verkündigung des Wortes kümmerten.

33. Als Paulus nach Jerusalem zog, um sich mit den Aposteln zu beraten, „um nicht ins Leere zu laufen oder gelaufen zu sein“ (vgl. Gal 2,2), wurde er gebeten, die Armen nicht zu vergessen (vgl. Gal 2,10). Deshalb veranlasste er mehrere Kollekten, um den armen Gemeinden zu helfen. Unter den Gründen, die er für diese Geste anführt, ist der folgende hervorzuheben: »Gott liebt einen fröhlichen Geber« (2 Kor 9,7). Allen von uns, die zu selbstlosen, uneigennützigen Gesten wenig Neigung verspüren, zeigt das Wort Gottes, dass Großzügigkeit gegenüber den Armen für diejenigen, die sie üben, ein wahres Gut ist: Denn wenn wir so handeln, werden wir von Gott in besonderer Weise geliebt. Tatsächlich gibt es noch viele weitere biblische Verheißungen für diejenigen, die großzügig geben: »Wer Erbarmen hat mit dem Elenden, leiht dem Herrn; er wird ihm seine Wohltat vergelten« (Spr 19,17). »Gebt, dann wird euch gegeben werden: […] nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden« (Lk 6,38). »Dann wird dein Licht hervorbrechen wie das Morgenrot und deine Heilung wird schnell gedeihen« (Jes 58,8). Die ersten Christen waren davon überzeugt.

34. Das Leben der ersten kirchlichen Gemeinschaften – von dem der Kanon der Bibel erzählt und das uns als offenbartes Wort überliefert worden ist – wird uns als nachzuahmendes Vorbild und als Zeugnis des durch die Liebe wirksamen Glaubens vor Augen gestellt und bleibt für die kommenden Generationen eine bleibende Mahnung. Im Laufe der Jahrhunderte haben diese Seiten das Herz der Christen angeregt, zu lieben und Werke der Nächstenliebe zu tun, wie gute Samen, die nicht aufhören, Früchte hervorzubringen.

KAPITEL III
EINE KIRCHE FÜR DIE ARMEN

35. Drei Tage nach seiner Wahl äußerte mein Vorgänger gegenüber Vertretern der Medien den Wunsch, dass die Sorge und die Aufmerksamkeit für die Armen in der Kirche deutlicher wahrnehmbar sein sollten: »Ach, wie sehr wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen!« [19] [9]

36. Dieser Wunsch spiegelt das Bewusstsein wider, dass die Kirche »in den Armen und Leidenden […] das Bild dessen [erkennt], der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen.« [20] [0] Sie ist nämlich aufgerufen, sich den Letzten anzugleichen, und »es dürfen weder Zweifel bleiben, noch halten Erklärungen stand, die diese so klare Botschaft schwächen könnten. […]. Ohne Umschweife ist zu sagen, dass – wie die Bischöfe Nordost-Indiens lehren – ein untrennbares Band zwischen unserem Glauben und den Armen besteht.« [21] [1] Dafür gibt es in der fast zweitausendjährigen Geschichte der Jünger Jesu zahlreiche Zeugnisse. [22] [2]

Der wahre Reichtum der Kirche

37. Der heilige Paulus berichtet, dass unter den Gläubigen der entstehenden christlichen Gemeinde »nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme« (1 Kor 1,26) waren. Trotz ihrer Armut waren sich die ersten Christen jedoch der Notwendigkeit bewusst, sich um diejenigen zu kümmern, die unter größeren Entbehrungen litten. Bereits in den Anfängen des Christentums legten die Apostel sieben aus der Gemeinde gewählten Männern die Hände auf und bezogen sie zu einem gewissen Maß in ihren Dienst mit ein, indem sie sie für den Dienst – auf Griechisch diakonía – an den Ärmsten bestellten (vgl. Apg 6,1-5). Es ist bezeichnend, dass Stephanus, der zu dieser Gruppe gehörte, der erste Jünger war, der seinen Glauben an Christus bis zum Vergießen seines Blutes bezeugte. In ihm verbindet sich das Lebenszeugnis der Sorge für die Armen mit dem Martyrium.

38. Etwas mehr als zwei Jahrhunderte später zeigte ein weiterer Diakon auf ähnliche Weise seine Zugehörigkeit zu Jesus Christus, indem er in seinem Leben den Dienst an den Armen und das Martyrium miteinander verband: der heilige Laurentius. [23] [3] Aus dem Bericht des Heiligen Ambrosius wissen wir, dass Laurentius, der während des Pontifikats von Papst Sixtus II. Diakon in Rom war, von den römischen Behörden gezwungen wurde, die Schätze der Kirche auszuhändigen: »Am folgenden Tage führte er die Armen vor. Auf die Frage, wo die Schätze wären, die er versprochen hatte, zeigte er auf die Armen und sprach: Das sind die Schätze der Kirche.« [24] [4] Ambrosius schildert diese Begebenheit und fragt sich: »Welch bessere Schätze hätte Christus als jene, denen er selbst nach seiner Versicherung innewohnt?« [25] [5] Er erinnert daran, dass die Diener der Kirche niemals die Sorge für die Armen vernachlässigen und noch weniger Güter zu ihrem eigenen Vorteil anhäufen dürfen, und sagt: »Erforderlich ist, dass einer ein solches Handeln in reiner Absicht und aus offensichtlicher Fürsorglichkeit vollbringt. In der Tat, wenn jemand Aufwendungen zu seinem Vorteil macht, so ist es ein Verbrechen; wendet er es für die Armen auf, kauft er einen Gefangenen los, so ist es Barmherzigkeit.« [26] [6]

Die Kirchenväter und die Armen

39. Seit den ersten Jahrhunderten erkannten die Kirchenväter in den Armen einen vorzüglichen Weg zu Gott, eine besondere Möglichkeit, ihm zu begegnen. Die Nächstenliebe gegenüber den Bedürftigen wurde nicht als einfache moralische Tugend verstanden, sondern als konkreter Ausdruck des Glaubens an das fleischgewordene Wort. Die Gemeinschaft der Gläubigen war, getragen von der Kraft des Heiligen Geistes, fest verwurzelt in der Hinwendung zu den Armen, die sie nicht als Anhängsel, sondern als einen wesentlichen Teil ihres lebendigen Leibes betrachtete. So ermahnte beispielsweise der heilige Ignatius von Antiochien auf seinem Weg zum Martyrium die Gläubigen der Gemeinde von Smyrna, ihre Pflicht zur Nächstenliebe gegenüber den Bedürftigsten nicht zu vernachlässigen, und warnte sie, sich nicht wie diejenigen zu verhalten, die sich Gott widersetzen: »Lernt sie kennen, die Sonderlehren aufstellen über die Gnade Jesu Christi, die zu uns gekommen ist, wie sehr sie dem Willen Gottes entgegen sind! Um die (Nächsten-)Liebe kümmern sie sich nicht, nicht um die Witwe, nicht um die Waise, nicht um den Bedrängten, nicht um den Gefangenen oder Freigegebenen, nicht um den Hungernden und Dürstenden.« [27] [7] Der Bischof von Smyrna, Polykarp, empfahl den Amtsträgern der Kirche ausdrücklich, sich um die Armen zu kümmern: »Auch die Presbyter (sollen) wohlwollend (sein), barmherzig gegen alle, (sollen) die Verirrten zurückführen, alle Kranken besuchen, voll Sorge sein für die Witwen, die Waisen und die Armen; stets (sollen) sie bedacht (sein) auf das Gute vor Gott und den Menschen.« [28] [8] Aus diesen beiden Zeugnissen geht hervor, wie die Kirche als Mutter der Armen, als Ort der Annahme und der Gerechtigkeit erscheint.

40. Der heilige Justin erklärte seinerseits in seiner ersten Apologie, die an Kaiser Hadrian, den Senat und das römische Volk gerichtet war, dass die Christen den Bedürftigen alles gaben, was sie konnten, weil sie in ihnen Brüder und Schwestern in Christus sahen. Als er über die Versammlung der Gläubigen am ersten Tag der Woche schrieb, betonte er, dass in der christlichen Liturgie die Verehrung Gottes und die Aufmerksamkeit für die Armen nicht voneinander getrennt werden können. Deshalb gibt zu einem bestimmten Augenblick der liturgischen Feier »wer […] die Mittel und guten Willen hat, […] nach seinem Ermessen, was er will, und das, was da zusammenkommt, wird bei dem Vorsteher hinterlegt; dieser kommt damit Waisen und Witwen zu Hilfe, solchen, die wegen Krankheit oder aus sonst einem Grunde bedürftig sind, den Gefangenen und den Fremdlingen, die in der Gemeinde anwesend sind, kurz, er ist allen, die in der Stadt sind, ein Fürsorger«. [29] [9] Dies zeigt, dass die werdende Kirche den Glauben nicht vom sozialen Handeln trennte: Ein Glaube, der nicht durch Taten begleitet war, galt als tot, wie der heilige Jakobus lehrt (vgl. Jak 2,17).

Der heilige Johannes Chrysostomus

41. Der unter den östlichen Kirchenvätern vielleicht eifrigste Prediger sozialer Gerechtigkeit war der heilige Johannes Chrysostomus, der zwischen dem 4. und 5. Jahrhundert Erzbischof von Konstantinopel war. In seinen Homilien ermahnte er die Gläubigen, Christus in den Bedürftigen zu erkennen: »Willst du also Christi Leib ehren? Geh nicht an ihm vorüber, wenn du ihn nackt siehst; ehre ihn nicht hier mit seidenen Gewändern, während du dich draußen auf der Straße nicht um ihn kümmerst, wo er vor Kälte und Blöße zugrunde geht! […]. Der Leib Christi auf dem Altar bedarf keiner Decken, wohl aber einer reinen Seele; derjenige, der sich draußen befindet, dagegen braucht viel Sorgfalt. Lernen wir also, weise zu sein, und Christus so zu ehren, wie er selbst geehrt sein will. Dem Geehrten ist ja die Ehrenbezeugung die liebste, die er selber wünscht, nicht die, die wir dafür halten. […]. So erweise auch du ihm die Ehre, die er selbst verlangt hat, und verwende deinen Reichtum zugunsten der Armen. Gott braucht keine goldenen Kelche, sondern goldene Seelen.« [30] [0] Er stellt mit glasklarer Deutlichkeit fest, dass die Gläubigen Christus nicht am Altar werden anbeten können, wenn sie ihm nicht in den Armen an der Tür begegnen, und fährt fort: »Oder was nützt es dem Herrn, wenn sein Tisch voll ist von goldenen Kelchen, er selber dagegen vor Hunger stirbt? Stille zuerst seinen Hunger, dann magst du auch seinen Tisch schmücken, soviel du kannst.« [31] [1] Er verstand die Eucharistie also auch als sakramentalen Ausdruck der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit, die ihr vorausgingen, sie begleiteten und sie in der Liebe und Aufmerksamkeit gegenüber den Armen fortsetzen sollten.

42. Folglich ist die Nächstenliebe nicht etwas Optionales, sondern das Kriterium für den wahren Gottesdienst. Chrysostomus prangerte vehement den übertriebenen Luxus an, der mit Gleichgültigkeit den Armen gegenüber einherging. Die ihnen geschuldete Aufmerksamkeit ist nicht bloß ein soziales Erfordernis, sondern vielmehr eine Bedingung für das Heil, was zugleich eine Verurteilung ungerechten Reichtums bedeutet: »Es ist große Kälte, und auf dem Boden liegt der Arme in Lumpen gehüllt, halbtodt vor Frost, und klappert mit den Zähnen, und sein Anblick und seine Haltung müssen zur Hilfe stimmen, – du aber gehst wohlgewärmt und weinselig vorüber; und wie kannst du erwarten, dass Gott dich aus dem Unglück erretten werde? […] Einen Leib, der oft schon todt und ohne Gefühl ist und von der Ehre gar Nichts mehr merkt, schmückst du mit unzähligen bunten und goldgestickten Gewändern; jenen (Leib) aber, der von Schmerz erschöpft und von Hunger und Frost gemartert und zu Boden gestreckt ist, beachtest du nicht […].« [32] [2] Dieses ausgeprägte Gespür für soziale Gerechtigkeit lässt ihn behaupten, dass »den Armen nichts zu geben bedeutet, sie auszurauben, sie um ihr Leben zu betrügen, denn das, worüber wir verfügen ist nicht unser, sondern ihr Eigentum«. [33] [3]

Der heilige Augustinus

43. Augustinus hatte den heiligen Ambrosius als geistlichen Lehrer, der auf dem ethischen Erfordernis des Teilens von Gütern bestand: »Du gibst dem Armen nicht von deinem Eigentum, sondern du gibst ihm von dem seinen zurück. Denn du hast dir bloß das angemaßt, was für den gemeinsamen Gebrauch bestimmt war.« [34] [4] Für den Bischof von Mailand ist die Almosengabe Wiederherstellung von Gerechtigkeit und keine Geste der Bevormundung. In seinen Predigten nimmt die Barmherzigkeit einen prophetischen Charakter an: Sie prangert die Strukturen der Anhäufung von Gütern an und bekräftigt die Gemeinschaft als kirchliche Berufung.

44. Der heilige Bischof von Hippo, der von seiner Bildung her in dieser Tradition stand, lehrte seinerseits die vorrangige Liebe zu den Armen. Als wachsamer Hirte und Theologe von seltener Klarsicht erkannte er, dass wahre kirchliche Gemeinschaft auch in einer Gütergemeinschaft zum Ausdruck kommt. In seinen Kommentaren zu den Psalmen erinnert er daran, dass die wirklichen Christen die Liebe zu den Bedürftigsten nicht vernachlässigen: »Wenn ihr auf eure Brüder achtet, erkennt ihr, ob sie etwas benötigen, wenn aber Christus in euch wohnt, dann tut ihr auch dem Fremden Gutes.« [35] [5] Dieses Teilen der Güter entspringt also der theologischen Tugend der Liebe und hat als letztes Ziel die Liebe zu Christus. Für Augustinus ist der Arme nicht nur ein Mensch, dem geholfen werden muss, sondern die sakramentale Gegenwart des Herrn.

45. Der Lehrer der Gnade sah in der Fürsorge für die Armen einen konkreten Beweis für die Aufrichtigkeit des Glaubens. Wer sagt, dass er Gott liebt, und kein Mitleid mit den Bedürftigen hat, der lügt (vgl. 1 Joh 4,20). In seinem Kommentar zur Begegnung Jesu mit dem reichen jungen Mann und zum „Schatz im Himmel“, der jenen vorbehalten ist, die ihre Güter den Armen geben (vgl. Mt 19,21), legt Augustinus dem Herrn folgende Worte in den Mund: »Die Erde habe ich empfangen, den Himmel werde ich geben; vergängliche Güter habe ich empfangen, ewige Güter werde ich zurückgeben; Brot habe ich empfangen, das Leben werde ich geben. […] Gastfreundschaft habe ich erhalten, ein Haus werde ich geben; ich bin besucht worden, als ich krank war, Gesundheit werde ich verleihen; ich bin im Gefängnis aufgesucht worden, Freiheit werde ich schenken. Das Brot, das ihr meinen Armen gegeben habt, ist verbraucht worden, doch das Brot, das ich geben werde, wird euch nicht nur erquicken, sondern es wird niemals zur Neige gehen.« [36] [6] Der Allerhöchste lässt sich in seiner Großzügigkeit gegenüber denen, die ihm in den Bedürftigsten dienen, nicht übertreffen: Je größer die Liebe zu den Armen ist, desto größer ist der Lohn vonseiten Gottes.

46. Diese christozentrische und zutiefst kirchliche Sichtweise führt zu der Überzeugung, dass Gaben, die aus Liebe gegeben werden, nicht bloß die Not des Nächsten lindern, sondern auch das Herz des Gebenden läutern, wenn er bereit ist, sich zu ändern: »denn die Almosengabe kann dir dabei nützen, vergangene Sünden zu tilgen, wenn du deinen Lebenswandel künftig änderst«. [37] [7] Es handelt sich sozusagen um den normalen Weg der Bekehrung für diejenigen, die Christus mit ungeteiltem Herzen nachfolgen wollen.

47. In einer Kirche, die in den Armen das Antlitz Christi erkennt und in den Gütern Werkzeuge der Nächstenliebe sieht, bleibt Augustinus’ Denken eine sichere Orientierung. Die Treue zu den Unterweisungen des Augustinus erfordert heute nicht nur das Studium seiner Werke, sondern auch die Bereitschaft, seine Einladung zur Bekehrung radikal zu leben, die notwendigerweise den Dienst der Nächstenliebe einschließt.

48. Viele andere Kirchenväter aus Ost und West haben sich zum Vorrang der Aufmerksamkeit für die Armen im Leben und in der Mission eines jeden gläubigen Christen geäußert. Aus dieser Perspektive lässt sich zusammenfassend sagen, dass die patristische Theologie eine praktische war, die auf eine arme Kirche für die Armen abzielte, indem sie daran erinnerte, dass das Evangelium nur dann richtig verkündet wird, wenn es dazu anspornt, mit den Geringsten leibhaftig in Berührung zu kommen, und davor warnte, dass strenge Lehren ohne Barmherzigkeit bloß leere Worte sind.

Die Sorge für die Kranken

49. Das christliche Mitgefühl hat sich in besonderer Weise in der Sorge für die Kranken und Leidenden gezeigt. Aufgrund der Zeichen, die das öffentliche Wirken Jesu begleiteten – die Heilung von Blinden, Aussätzigen und Gelähmten –, erkennt die Kirche, dass die Sorge für die Kranken, in denen sie leicht den gekreuzigten Herrn wiedererkennt, ein wichtiger Teil ihrer Sendung ist. Der heilige Cyprian erinnerte die Christen während einer Pestepidemie in Karthago, wo er Bischof war, an die Bedeutung der Sorge für die Kranken: »Diese Pest und Seuche, die so schrecklich und verderblich erscheint, [erforscht] die Gerechtigkeit jedes einzelnen […] und [prüft] die Herzen des Menschengeschlechtes daraufhin […], ob die Gesunden den Kranken dienen, ob die Verwandten ihre Angehörigen innig lieben, ob die Herren sich ihrer leidenden Diener erbarmen, ob die Ärzte die um Hilfe flehenden Kranken nicht im Stiche lassen, […].« [38] [8] Die christliche Tradition, die Kranken zu besuchen, ihre Wunden zu reinigen und die Betrübten zu trösten, ist nicht bloß ein philanthropisches Werk, sondern eine kirchliche Handlung, durch die die Glieder der Kirche in den Kranken »das leidende Fleisch Christi berühren«. [39] [9]

50. Im 16. Jahrhundert gründete der heilige Johannes von Gott den nach ihm benannten Hospitalorden und schuf Modellkrankenhäuser, die alle Menschen unabhängig von deren sozialen oder wirtschaftlichen Verhältnissen aufnahmen. Sein berühmter Ausspruch »Tut Gutes, Brüder!« wurde zum Leitspruch für die aktive Nächstenliebe gegenüber den Kranken. Zur gleichen Zeit gründete der heilige Kamillus von Lellis den Orden der Diener der Kranken – die Kamillianer – und machte es sich zur Aufgabe, den Kranken mit ganzer Hingabe zu dienen. Seine Regel lautet: »Zunächst möge jeder den Herrn um Gnade bitten, dass er ihm mütterliche Zuneigung zu seinem Nächsten schenke, damit wir ihm mit aller Liebe dienen können, sowohl der Seele als auch des Leibes, denn wir wünschen mit Gottes Gnade allen Kranken mit jener Zuneigung zu dienen, die eine liebende Mutter ihrem einzigen Kind entgegenbringt, das krank ist.« [40] [0] In Krankenhäusern, auf Schlachtfeldern, in Gefängnissen und auf den Straßen verkörperten die Kamillianer die Barmherzigkeit Christi, des Arztes.

51. Eine noch weitreichendere Rolle in der Gesundheitsfürsorge für die Armen spielten viele gottgeweihte Frauen, die sich mit mütterlicher Liebe um die Kranken kümmerten wie eine Mutter um ihr Kind. Die Töchter der christlichen Liebe vom heiligen Vinzenz von Paul, die Hospitalerinnen, die Schwestern von der Göttlichen Vorsehung und viele andere Frauenorden sind auf mütterliche und diskrete Weise in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Altenheimen für andere da. Vielen brachten sie Linderung, ein offenes Ohr, Nähe und vor allem Zärtlichkeit. Sie errichteten – oft mit ihren eigenen Händen – Gesundheitseinrichtungen in Gebieten ohne medizinische Versorgung. Sie lehrten Hygienemaßnahmen, halfen bei Geburten und verabreichten mit natürlicher Weisheit und in tiefem Glauben die entsprechenden Medikamente. Ihre Häuser wurden zu Oasen der Würde, niemand wurde ausgeschlossen. Mitfühlende Nähe war die wichtigste Medizin. Die heilige Luise von Marillac schrieb an ihre Schwestern, die Töchter der christlichen Liebe, und erinnerte sie daran, dass sie »von Gott einen besonderen Segen für den Dienst an den armen Kranken in den
Krankenhäusern erhalten haben«. [41] [1]

52. Heute lebt dieses Erbe in den katholischen Krankenhäusern weiter, in Pflegeeinrichtungen, die in abgelegenen Regionen eröffnet wurden, in Gesundheitsmissionen, die in Urwäldern betrieben werden, in Aufnahmezentren für Drogenabhängige und in Feldlazaretten in Kriegsgebieten. Die christliche Nähe zu den Kranken zeigt, dass die Erlösung nicht eine abstrakte Idee ist, sondern konkretes Handeln. Durch das Versorgen einer Wunde verkündet die Kirche, dass das Reich Gottes unter den Schwächsten seinen Anfang nimmt. Und auf diese Weise bleibt sie demjenigen treu, der gesagt hat: »Ich war krank, und ihr habt mich besucht« (Mt 25,36). Wenn die Kirche sich neben einem Aussätzigen, einem unterernährten Kind oder einen namenlosen Sterbenden auf die Knie begibt, verwirklicht sie ihre tiefste Berufung: den Herrn dort zu lieben, wo er am meisten entstellt ist.

Die Sorge für die Armen im monastischen Leben

53. Das monastische Leben, das in der Stille der Wüsten entstand, war von Anfang an ein Zeugnis der Solidarität. Die „Wüstenväter“ und „Wüstenmütter“ ließen alles hinter sich – Reichtum, Ansehen, Familie –, nicht nur weil sie die Güter der Welt verachteten – contemptus mundi –, sondern um in dieser radikalen Loslösung dem armen Christus zu begegnen. Der heilige Basilius der Große, sah in seiner Regel keinerlei Widerspruch zwischen dem Leben der Mönche in Gebet und Einkehr einerseits und ihrer Arbeit zugunsten der Armen andererseits. Für ihn waren die Gastfreundschaft und die Sorge für die Bedürftigen integraler Bestandteil der monastischen Spiritualität, und auch nachdem sie alles aufgegeben hatten, um in Armut zu leben, mussten die Mönche den Ärmsten mit ihrer Arbeit helfen, denn »um den Notleidenden etwas geben zu können, ist es klar, dass man fleissig arbeiten muss. […] denn eine solche Lebensweise ist uns nicht allein zur Abtötung des Leibes, sondern auch wegen der Nächstenliebe nützlich, damit Gott durch uns auch den schwachen Brüdern das Nothwendige darreiche« [42] [2].

54. In Cäsarea, wo er Bischof war, errichtete er einen Ort namens Basilias, der Unterkünfte, Krankenhäuser und Schulen für Arme und Kranke umfasste. Der Mönch war also nicht nur ein Asket, sondern auch ein Diener. Basilius zeigte auf diese Weise, dass man den Armen nahe sein muss, um Gott nahe zu sein. Die konkrete Liebe war das Kriterium der Heiligkeit. Gebet und Fürsorge, Kontemplation und Pflege, Schreiben und Aufnehmen: Alles war Ausdruck ein und derselben Liebe zu Christus.

55. Im Westen verfasste der heilige Benedikt von Nursia eine Regel, die zum Rückgrat der monastischen Spiritualität in Europa werden sollte. Darin nimmt die Aufnahme der Armen und Pilger einen herausragenden Platz ein: »Vor allem bei der Aufnahme von Armen und Fremden zeige man Eifer und Sorge, denn besonders in ihnen wird Christus aufgenommen.« [43] [3] Das waren nicht nur Worte: Jahrhundertelang waren die Benediktinerklöster Zufluchtsorte für Witwen, verlassene Kinder, Pilger und Bettler. Für Benedikt war das Gemeinschaftsleben eine Schule der Nächstenliebe. Die körperliche Arbeit hatte nicht bloß eine praktische Funktion, sondern sie formte auch das Herz für den Dienst. Das miteinander Teilen unter den Mönchen, die Aufmerksamkeit für die Kranken und das Hören auf die Schwächsten bereiteten darauf vor, Christus aufzunehmen, der in der Person eines Armen und eines Fremden erscheint. Die klösterliche Gastfreundschaft der Benediktiner ist auch heute noch Zeichen einer Kirche, die ihre Türen öffnet, die aufnimmt, ohne zu fragen, die heilt, ohne etwas als Gegenleistung zu verlangen.

56. Im Laufe der Zeit wurden die Benediktinerklöster zu Orten, die einer Kultur der Ausgrenzung entgegenwirkten. Die Mönche bewirtschafteten das Land, produzierten Lebensmittel, stellten Medikamente her und gaben sie auf einfache Weise an die Bedürftigsten weiter. Ihre stille Arbeit war der Sauerteig für eine neue Zivilisation, in der die Armen nicht als ein zu lösendes Problem gesehen wurden, sondern als Brüder und Schwestern, die es aufzunehmen galt. Die Regel des Teilens, die gemeinsame Arbeit und die Hilfe für die Schwachen waren Eckpunkte einer solidarischen Wirtschaft, die im Gegensatz zur Logik des Anhäufens stand. Das Zeugnis der Mönche zeigte, dass freiwillige Armut nichts mit Elend zu tun hat, sondern ein Weg der Freiheit und der Gemeinschaft ist. Sie beschränkten sich nicht darauf, den Armen zu helfen, sondern wurden ihnen zu Nächsten, zu Brüdern im selben Herrn. In den Klosterzellen und in den Kreuzgängen war eine Mystik der Gegenwart Gottes in den Kleinen entstanden.

57. Über die materielle Unterstützung hinaus spielten Klöster eine grundlegende Rolle für die kulturelle und geistliche Bildung der Ärmsten. In Zeiten von Pest, Krieg und Hungersnot waren sie Orte, an denen die Bedürftigen Brot und Medizin, aber auch Würde und Zuspruch fanden. Dort wurden Waisenkinder erzogen, Lehrlinge ausgebildet und Bauern in landwirtschaftlichen Techniken und im Lesen unterrichtet. Das Wissen wurde als Geschenk und als Verantwortung weitergegeben. Der Abt war sowohl Lehrer als auch Vater, und die monastische Schule war ein Ort der Befreiung durch die Wahrheit. Denn, wie Johannes Cassianus schreibt, muss der Mönch sich »bestreben, vor allem eine unveränderliche Demut des Herzens zu erlangen, damit er nicht zu jenem Wissen geführt werde, das aufbläht, sondern zu jenem, das erleuchtet durch die Vollendung der Liebe«. [44] [4] Durch die Bildung des Gewissens und die Weitergabe von Weisheit trugen die Mönche zu einer christlichen Pädagogik der Inklusion bei. Die vom Glauben geprägte Kultur wurde in Einfachheit geteilt. Das von der Liebe erleuchtete Wissen wurde zum Dienst. So erwies sich das monastische Leben als ein Stil der Heiligkeit und als ein konkreter Weg, um die Gesellschaft zu verändern.

58. Die monastische Tradition lehrt auf diese Weise, dass Gebet und Nächstenliebe, Stille und Dienst, Klosterzellen und Krankenhäuser ein einziges geistliches Gewebe bilden. Das Kloster ist ein Ort des Zuhörens und des Handelns, des Gottesdienstes und des miteinander Teilens. Der große Zisterzienser-Reformer Bernhard von Clairvaux »wies […] mit Entschiedenheit auf die Notwendigkeit eines einfachen und maßvollen Lebens hin, sowohl was das Essen wie die Kleidung und die Klosterbauten betraf, und empfahl die Unterstützung und Sorge für die Armen«. [45] [5] Für ihn war Mitgefühl keine Nebensache, sondern der wahre Weg der Nachfolge Christi. Das Klosterleben zeigt also, wenn es seiner ursprünglichen Berufung treu bleibt, dass die Kirche nur dann ganz Braut des Herrn ist, wenn sie auch Schwester der Armen ist. Das Kloster ist nicht nur ein Ort der Zuflucht vor der Welt, sondern eine Schule, in der man lernt, der Welt besser zu dienen. Dort, wo die Mönche ihre Türen für die Armen geöffnet haben, hat die Kirche mit Demut und Entschlossenheit gezeigt, dass die Kontemplation die Barmherzigkeit nicht ausschließt, sondern sie vielmehr als ihre reinste Frucht erfordert.

Die Gefangenen befreien

59. Schon zu Zeiten der Apostel hat die Kirche in der Befreiung der Unterdrückten ein Zeichen des Reiches Gottes gesehen. Jesus selbst hat zu Beginn seines öffentlichen Wirkens verkündet: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde« (Lk 4,18). Auch unter prekären Bedingen beteten die ersten Christen für ihre gefangenen Brüder und Schwestern und standen ihnen bei, wie die Apostelgeschichte (vgl. 12,5; 24,23) und verschiedene Schriften der Kirchenväter bezeugen. Dieses befreiende Wirken setzte sich über die Jahrhunderte in konkreten Taten fort, vor allem als das Drama der Sklaverei und Gefangenschaft ganze Gesellschaften prägte.

60. Zwischen dem Ende des 12. und dem Beginn des 13. Jahrhunderts, als viele Christen im Mittelmeerraum gefangen genommen oder im Zuge der Kriege in die Sklaverei verschleppt wurden, entstanden zwei religiöse Orden: der Orden der Allerheiligsten Dreifaltigkeit von der Befreiung der Gefangenen (Trinitarier), gegründet von den Heiligen Johannes von Matha und Felix von Valois, sowie der Orden der Seligen Jungfrau Maria von der Barmherzigkeit (Mercedarier), gegründet vom heiligen Petrus Nolascus mit Unterstützung des heiligen Dominikaners Raimund von Peñafort. Seit ihrer Entstehung hatten diese Ordensgemeinschaften das besondere Charisma, versklavte Christen zu befreien, indem sie für sie ihren Besitz zur Verfügung stellten [46] [6] und oft sogar ihr Leben einsetzten. Die Trinitarier mit ihrem Motto Gloria Tibi Trinitas et captivis libertas (Ehre sei dir, Dreifaltigkeit, und den Gefangenen Freiheit) und die Mercedarier, die den Ordensgelübden der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit ein viertes Gelübde hinzufügten, [47] [7] bezeugten, dass Nächstenliebe heroisch sein kann. Die Befreiung der Gefangenen ist ein Ausdruck der dreifaltigen Liebe: eines Gottes, der nicht nur von geistlicher Knechtschaft befreit, sondern auch von konkreter Unterdrückung. Die Geste der Befreiung aus Sklaverei und Gefangenschaft wird als Fortsetzung des Erlösungsopfers Christi gesehen, dessen Blut der Preis für unsere Befreiung ist (vgl. 1 Kor 6,20).

61. Die ursprüngliche Spiritualität dieser Orden war tief in der Betrachtung des Kreuzes verwurzelt. Christus ist der Erlöser der Gefangenen schlechthin, und die Kirche, sein Leib, lebt weiter dieses Geheimnis. [48] [8] Die Ordensleute sahen das Freikaufen der Gefangenen nicht als eine politische oder wirtschaftliche Handlung, sondern als einen beinahe liturgischen Akt, als sakramentale Hingabe ihrer selbst. Viele stellten sich mit ihrem eigenen Leib zum Tausch für die Gefangenen zur Verfügung und erfüllten damit buchstäblich das Gebot: »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt« ( Joh 15,13). Die Tradition dieser Orden ist nicht vorbei. Im Gegenteil: Angesichts der modernen Formen von Sklaverei wie Menschenhandel, Zwangsarbeit, sexuelle Ausbeutung und verschiedene Arten von Abhängigkeit [49] [9] gab sie wichtige Impulse für neue Formen des Handelns. Wenn die christliche Nächstenliebe konkret gelebt wird, dann wirkt sie befreiend. Und die Sendung der Kirche, wenn sie ihrem Herrn treu ist, besteht immer darin, die Befreiung zu verkünden. Auch heute noch, wenn »Millionen Menschen – Kinder, Männer und Frauen jeden Alters – ihrer Freiheit beraubt und gezwungen [werden], unter Bedingungen zu leben, die denen der Sklaverei vergleichbar sind«, [50] [0] wird dieses Erbe von diesen Orden und anderen Institutionen und Kongregationen weitergetragen, die in städtischen Randgebieten, Konfliktgebieten und auf Migrationsrouten tätig sind. Wenn die Kirche sich hinabbeugt, um die neuen Ketten zu sprengen, die die Armen fesseln, dann wird sie zu einem österlichen Zeichen.

62. Diese Überlegungen über Menschen, denen die Freiheit genommen wurde, können nicht abgeschlossen werden, ohne die Häftlinge in den verschiedenen Haftanstalten und Internierungszentren zu erwähnen. In diesem Zusammenhang sei an die Worte erinnert, die Papst Franziskus an eine Gruppe von ihnen gerichtet hat: »Für mich ist das Betreten eines Gefängnisses immer ein wichtiger Moment, denn das Gefängnis ist ein Ort großer Menschlichkeit. […] Von einer Menschlichkeit, die von Schwierigkeiten, Schuldgefühlen, Urteilen, Missverständnissen und Leiden geplagt ist, die aber gleichzeitig voller Kraft ist, voller Sehnsucht nach Vergebung, voller Sehnsucht nach Erlösung.« [51] [1] Unter anderem diesen Wunsch haben sich auch die Orden, die sich der Befreiung von Gefangenen widmen, als vorrangigen Dienst an der Kirche zu eigen gemacht. Wie der heilige Paulus verkündete: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit« ( Gal 5,1). Und diese Freiheit ist nicht bloß eine innere: Sie zeigt sich in der Geschichte als Liebe, die sich um andere kümmert und von allen Fesseln der Knechtschaft befreit.

Zeugen evangeliumsgemäßer Armut

63. Im 13. Jahrhundert, als die Städte wuchsen, der Reichtum sich mancherorts häufte und neue Formen der Armut entstanden, brachte der Heilige Geist eine neue Art gottgeweihten Lebens in der Kirche hervor: die Bettelorden. Im Gegensatz zum ortsbeständigen Klosterleben führten die Bettelmönche ein Leben auf der Wanderschaft, ohne persönlichen oder gemeinschaftlichen Besitz, ganz auf die Vorsehung angewiesen. Sie begnügten sich nicht damit, den Armen zu dienen, sondern wurden arm wie sie. Sie sahen die Stadt als eine neue Wüste an und die Ausgegrenzten als neue geistliche Lehrer. Diese Orden – wie die Franziskaner, Dominikaner, Augustiner und Karmeliter – stellten eine Revolution im Sinne des Evangeliums dar und ihre einfache und arme Lebensweise wurde zu einem prophetischen Zeichen für die Mission, indem sie die Erfahrung der ersten christlichen Gemeinschaft wiederaufleben ließen (vgl. Apg 4,32). Das Zeugnis der Bettelorden forderte sowohl die klerikale Opulenz als auch die Kaltherzigkeit der städtischen Gesellschaft heraus.

64. Der heilige Franz von Assisi wurde zur Ikone dieses geistlichen Frühlings. Indem er sich mit der Armut vermählte, wollte er den armen, nackten und gekreuzigten Christus nachahmen. In seiner Regel verlangt er, »die Brüder sollen sich nichts aneignen, weder Haus noch Ort noch irgendeine andere Sache. Und gleichwie Pilger und Fremdlinge in dieser Welt, die dem Herrn in Armut und Demut dienen, mögen sie voll Vertrauen um Almosen bitten gehen; und sie sollen sich dabei nicht schämen, weil der Herr sich für uns in dieser Welt arm gemacht hat.« [52] [2] Sein Leben war eine ständige Entäußerung: vom Palast zum Aussätzigen, von der Beredsamkeit zum Schweigen, vom Besitz zur völligen Hingabe. Franziskus hat keine Sozialeinrichtung gegründet, sondern eine Gemeinschaft von Brüdern im Sinne des Evangeliums. In den Armen sah er Geschwister und lebendige Abbilder des Herrn. Seine Sendung war es, unter ihnen zu sein, aus einer Solidarität und mitfühlenden Liebe heraus, die alle Distanz überwand. Seine Armut war beziehungsorientiert: Sie ließ ihn zum Nächsten seiner Mitmenschen werden, ihnen gleich, ja sogar geringer als sie. Seine Heiligkeit entsprang der Überzeugung, dass man Christus nur dann wahrhaft empfangen kann, wenn man das eigene Leben großzügig zu einer Gabe für die Brüder und Schwestern macht.

65. Die heilige Klara von Assisi gründete, inspiriert von Franziskus, den Orden der Armen Damen, die später Klarissen genannt wurden. Ihr geistlicher Kampf bestand darin, das Ideal der radikalen Armut treu zu bewahren. Sie lehnte die päpstlichen Privilegien ab, die ihrem Kloster materielle Sicherheit garantieren konnten, und mit ihrer Entschlossenheit erhielt sie von Papst Gregor IX. das sogenannte Privilegium Paupertatis verliehen, das das Recht garantierte, ohne jeglichen materiellen Besitz zu leben. [53] [3] Diese Wahl war Ausdruck ihres völligen Vertrauens auf Gott wie auch ihres Bewusstseins, dass die freiwillige Armut eine Form von Freiheit und Prophetie ist. Klara lehrte ihre Schwestern, dass Christus ihr einziges Erbe sei und dass nichts die Gemeinschaft mit ihm trüben dürfe. Ihr Leben im Gebet und im Verborgenen war ein lauter Ruf gegen die Weltlichkeit und eine stille Verteidigung der Armen und Vergessenen.

66. Der heilige Dominikus von Guzmán, ein Zeitgenosse des heiligen Franziskus, gründete den Predigerorden, mit einem anderen Charisma, aber mit derselben Radikalität. Er wollte das Evangelium mit jener Kraft verkünden, die aus einem Leben in Armut kommt, und er war überzeugt davon, dass die Wahrheit glaubwürdige Zeugen braucht. Das Beispiel eines Lebens in Armut ging mit dem gepredigten Wort einher. Frei von der Last weltlicher Güter konnten sich die Dominikaner besser ihrer Hauptaufgabe widmen, nämlich der Predigt. Sie begaben sich in die Städte, vor allem in Universitätsstädte, um die Wahrheit Gottes zu lehren. [54] Durch ihre Abhängigkeit von anderen zeigten sie, dass der Glaube nicht aufgezwungen werden kann, sondern ein Angebot darstellt. Und indem sie unter den Armen lebten, lernten sie die Wahrheit des Evangeliums „von unten”, als Jünger des gedemütigten Christus.

67. Die Bettelorden waren somit eine lebendige Antwort auf Ausgrenzung und Gleichgültigkeit. Sie schlugen nicht ausdrücklich soziale Reformen vor, sondern eine persönliche und gemeinschaftliche Bekehrung hin zur Logik des Reiches Gottes. Für sie war Armut keine Folge eines Mangels an Gütern, sondern eine freie Entscheidung: sich klein zu machen, um sich der Kleinen anzunehmen. Wie Thomas von Celano über Franziskus sagte: »Schon trat Franziskus als besonderer Liebhaber der Armen auf […]. Oft zog er darum seine Kleider aus und tauschte sie mit den Armen, denen er […] ganz ähnlich zu werden sich bemühte.« [55] [5] Die Bettelmönche wurden zum Symbol einer pilgernden, demütigen und geschwisterlichen Kirche, die nicht mit dem Ziel des Proselytismus unter den Armen lebt, sondern um sich mit ihnen zu identifizieren. Sie lehren, dass die Kirche nur dann Licht ist, wenn sie sich aller Dinge entledigt, und dass Heiligkeit aus einem demütigen Herzen kommt, das sich der Kleinsten annimmt.

Die Kirche und die Unterweisung der Armen

68. Als sich Papst Franziskus an einige Erzieher wandte, erinnerte er daran, dass die Erziehung seit jeher eine der höchsten Ausdrucksformen der christlichen Nächstenliebe ist: »Eure Sendung ist voller Hindernisse, aber auch voller Freuden. […] Eine Mission der Liebe, weil man nicht unterrichten kann ohne Liebe.« [56] [6] In diesem Sinne haben die Christen seit frühester Zeit verstanden, dass Wissen befreit, Würde verleiht und näher zur Wahrheit führt. Für die Kirche war die Unterweisung der Armen ein Akt der Gerechtigkeit und des Glaubens. Durch das Beispiel des Meisters inspiriert, der die Menschen die göttlichen und menschlichen Wahrheiten lehrte, hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, Kinder und Jugendliche, insbesondere die Ärmsten, in der Wahrheit und der Liebe zu erziehen. Diese Aufgabe hat mit der Gründung von Kongregationen, die sich der Volksbildung widmen, Gestalt angenommen.

69. Im 16. Jahrhundert gründete der heilige Josef von Calasanz, den die mangelnde Bildung und Ausbildung armer Jugendlicher in Rom betroffen machte, in einigen Räumen neben der Kirche Santa Dorotea im Stadtteil Trastevere die erste kostenlose öffentliche Volksschule Europas. Dies war die Keimzelle, aus der sich dann, nicht ohne Schwierigkeiten, der Orden der Armen Regularkleriker der Mutter Gottes von den Frommen Schulen entwickelte, kurz Piaristen genannt. Sie hatte das Ziel, den Jugendlichen »neben weltlichem Wissen auch die Weisheit des Evangeliums [zu vermitteln], indem man sie lehrt, in den persönlichen Ereignissen und in der Geschichte das liebevolle Wirken Gottes zu erkennen, des Schöpfers und Erlösers«. [57] [7] Tatsächlich können wir diesen mutigen Priester als den »wahren Begründer der modernen katholischen Schule [ansehen], die auf die ganzheitliche Bildung des Menschen ausgerichtet ist und allen offensteht«. [58] [8] Mit derselben Motivation, gründete der heilige Johannes Baptist de La Salle im 17. Jahrhundert die Brüder der Christlichen Schulen, als er die Ungerechtigkeit erkannte, die durch den Ausschluss der Kinder von Arbeitern und Bauern aus dem französischen Bildungssystem seiner Zeit verursacht wurde. Sein Ideal war es, ihnen kostenlose Bildung, eine solide Erziehung und ein brüderliches Umfeld zu bieten. La Salle sah im Klassenzimmer einen Ort für die Förderung des Menschen, aber auch der Bekehrung. In seinen Internaten bildeten Gebet, Wissensvermittlung, Disziplin und das Miteinander eine Einheit. Jedes Kind wurde als einzigartiges Geschenk Gottes betrachtet und die Unterweisung als ein Dienst am Reich Gottes.

70. Im 19. Jahrhundert gründete der heilige Marcellin Champagnat ebenfalls in Frankreich das Institut der Maristen-Schulbrüder. »Er hatte ein Gespür für die geistigen und erzieherischen Bedürfnisse seiner Zeit, vor allem für religiöse Unkenntnis und für die Situationen der Verlassenheit, die sich besonders bei der Jugend fanden.« [59] [9] Und er widmete sich in einer Zeit, in der der Zugang zur Bildung noch immer ein Privileg weniger war, von ganzem Herzen der Aufgabe, Kinder und Jugendliche, insbesondere die Bedürftigsten, zu erziehen und ihnen das Evangelium zu verkünden. Im gleichen Geist begann der heilige Johannes Bosco in Italien das große Werk der Salesianer, das sich auf die drei Prinzipien der „vorbeugenden Methode“ – Vernunft, Religion und Liebenswürdigkeit – [60] [0] stützte. Und der selige Antonio Rosmini gründete das Institut der Nächstenliebe, in dem die „intellektuelle Nächstenliebe“ – zusammen mit der „materiellen“ sowie insbesondere der „geistlich-pastoralen“ – als unverzichtbare Dimension jeder karitativen Tätigkeit galt, die das Wohl und die ganzheitliche Entwicklung des Menschen zum Ziel hat. [61]

71. Viele weibliche Kongregationen spielten bei dieser pädagogischen Revolution eine bedeutende Rolle. Die Ursulinen, die Ordensschwestern der Gesellschaft Unserer Lieben Frau Maria, die Maestre Pie und viele andere, die vor allem im 18. und 19. Jahrhundert gegründet wurden, füllten die Räume, wo der Staat eine Lücke ließ. Sie gründeten Schulen in kleinen Dörfern, in Vororten und in Arbeitervierteln. Insbesondere die Bildung von Mädchen wurde zu einer Priorität. Die Ordensschwestern brachten ihnen Lesen und Schreiben bei, unterwiesen sie im Glauben, kümmerten sich um die praktischen Belange des Alltags, förderten den Geist durch die Pflege der Künste und bildeten vor allem das Gewissen. Ihre Pädagogik war einfach: Nähe, Geduld, Sanftmut. Sie lehrten eher durch ihr Leben als durch Worte. In Zeiten eines weit verbreiteten Analphabetismus und struktureller Ausgrenzung waren diese gottgeweihten Frauen Lichtblicke der Hoffnung. Ihre Mission war es, das Herz zu bilden, das Denken zu schulen und die Würde zu fördern. Indem sie ein Leben in Frömmigkeit mit dem hingebungsvollen Einsatz für den Nächsten verbanden, kämpften sie gegen die Verwahrlosung, die ihnen begegnete, mit der Zärtlichkeit derer, die im Namen Christi erziehen.

72. Für den christlichen Glauben ist die Unterweisung der Armen keine Gefälligkeit, sondern eine Pflicht. Die Kleinen haben ein Recht auf Wissen, das wesentlich zur Anerkennung ihrer Menschenwürde gehört. Sie zu unterrichten bedeutet, ihre Würde geltend zu machen und ihnen die Mittel an die Hand zu geben, um ihre Lebenssituation zu verändern. In der christlichen Tradition gilt Wissen als ein Geschenk Gottes und als eine gemeinschaftliche Verantwortung. Die christliche Erziehung bildet nicht bloße Fachleute heran, sondern Menschen, die für das Gute, das Schöne und die Wahrheit offen sind. Wenn eine katholische Schule ihrem Namen gerecht wird, ist sie dementsprechend ein Ort der Inklusion, der ganzheitlichen Bildung und der Förderung des Menschen. Indem sie Glauben und Kultur verbindet, eröffnet sie Zukunft, ehrt sie das Abbild Gottes und trägt sie zum Aufbau einer besseren Gesellschaft bei.

Die Begleitung der Migranten

73. Die Erfahrung der Migration begleitet die Geschichte des Volkes Gottes. Abraham bricht auf, ohne zu wissen, wohin er gehen wird; Moses führt das pilgernde Volk durch die Wüste; Maria und Josef fliehen mit dem Kind nach Ägypten. Christus selbst, „der in sein Eigentum kam, den die Seinen aber nicht aufnahmen“ (vgl. Joh 1,11), hat als Fremder unter uns gelebt. Aus diesem Grund hat die Kirche in den Migranten immer die lebendige Gegenwart des Herrn erkannt, der am Tag des Gerichts zu denen, die zu seiner Rechten stehen, sagen wird: »Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen« (Mt 25,35).

74. Im 19. Jahrhundert, als Millionen Europäer auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen auswanderten, zeichneten sich zwei große Heilige in der Seelsorge für Migranten aus: der heilige Giovanni Battista Scalabrini und die heilige Francesca Saverio Cabrini. Scalabrini, Bischof von Piacenza, gründete die Kongregation der Missionare vom Heiligen Karl, um die Migranten in ihren Zielländern zu begleiten und ihnen geistliche, rechtliche und materielle Unterstützung zu bieten. Er sah in den Migranten die Adressaten einer neuen Evangelisierung und warnte vor den Gefahren der Ausbeutung und des Glaubensverlustes in der Fremde. Er antwortete großherzig auf das Charisma, das der Herr ihm geschenkt hatte: »Scalabrini besaß Weitblick, er blickte in die Zukunft, auf eine Welt und eine Kirche ohne Schranken, ohne Fremde« [62] [2]. Die heilige Francesca Cabrini, die in Italien geboren und in den Vereinigten Staaten eingebürgert wurde, war die erste US-Bürgerin, die heiliggesprochen wurde. Um ihre Mission zu erfüllen, den Migranten beizustehen, überquerte sie mehrmals den Atlantik und »für die vielen Menschen, die mittellos waren, ohne Sprachkenntnisse, ohne Möglichkeit, in der amerikanischen Gesellschaft Fuß zu fassen, und die häufig Opfer skrupelloser Menschen wurden, schuf sie – von einzigartigem Mut beseelt – aus dem Nichts Schulen, Krankenhäuser und Waisenheime. Ihr rastloses mütterliches Herz erreichte diese Menschen überall: in den Elendsquartieren, Gefängnissen und Bergwerken.« [63] [3] Im Heiligen Jahr 1950 erklärte Papst Pius XII. sie zur Patronin aller Migranten. [64] [4]

75. Die Tradition des kirchlichen Engagements für und mit Migranten geht weiter und heute kommt dieser Dienst in Initiativen wie Aufnahmezentren für Flüchtlinge, Missionsstationen an den Grenzen, den Bemühungen der Caritas Internationalis und anderer Institutionen zum Ausdruck. Das heutige Lehramt spricht sich sehr für dieses Engagement aus. Papst Franziskus hat daran erinnert, dass die Aufgabe der Kirche gegenüber Migranten und Flüchtlingen noch umfassender ist. Immer wieder hat er betont, dass sich »die Antwort auf die Herausforderung der gegenwärtigen Migration […] in vier Verben zusammenfassen [lässt]: aufnehmen, schützen, fördern und integrieren. Aber diese Verben gelten nicht nur bezüglich der Migranten und Flüchtlinge. Sie beschreiben die Sendung der Kirche zu den Menschen an den Rändern der Existenz, die aufgenommen, geschützt, gefördert und integriert werden müssen. [65] [5] Und er sagte auch: »Jeder Mensch ist Kind Gottes! Ihm ist das Bild Christi eingeprägt! Es geht also darum, dass wir als Erste, und dann mit unserer Hilfe auch die anderen, im Migranten und im Flüchtling nicht nur ein Problem sehen, das bewältigt werden muss, sondern einen Bruder und eine Schwester, die aufgenommen, geachtet und geliebt werden müssen – eine Gelegenheit, welche die Vorsehung uns bietet, um zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft, einer vollkommeneren Demokratie, eines solidarischeren Landes, einer brüderlicheren Welt und einer offeneren christlichen Gemeinschaft entsprechend dem Evangelium beizutragen.« [66] [6] Wie eine Mutter, begleitet die Kirche alle, die unterwegs sind. Wo die Welt Bedrohungen sieht, sieht sie Kinder; wo Mauern errichtet werden, baut sie Brücken. Sie weiß, dass ihre Verkündigung nur dann glaubwürdig ist, wenn sie sich in Gesten der Nähe und der Aufnahme ausdrückt; und dass in jedem zurückgewiesenen Migranten Christus selbst an die Türen der Gemeinschaft klopft.

An der Seite der Geringsten

76. Christliche Heiligkeit blüht oft da, wo Menschen am stärksten in Vergessenheit geraten sind und leiden. Die Ärmsten der Armen – diejenigen, denen es nicht nur an Gütern mangelt, sondern auch an Stimme und Anerkennung ihrer Würde – nehmen einen besonderen Platz im Herzen Gottes ein. Sie sind die Auserwählten des Evangeliums, die Erben des Reiches Gottes (vgl. Lk 6,20). In ihnen fährt Christus fort zu leiden und aufzuerstehen. Durch sie entdeckt die Kirche wieder neu, dass sie gerufen ist, zu zeigen was ihr eigentliches Wesen ist.

77. Die 2016 heiliggesprochene Teresa von Kalkutta ist zu einer universalen Ikone jener Nächstenliebe geworden, die sich bis zum Äußersten für die Ärmsten, für die Ausgestoßenen der Gesellschaft einsetzt. Als Gründerin der Missionarinnen der Nächstenliebe widmete sie ihr Leben den verlassenen Sterbenden auf den Straßen Indiens. Sie nahm die Ausgestoßenen mit, wusch ihre Wunden und begleitete sie bis zu deren Tod mit einer Zärtlichkeit, die einem Gebet gleichkam. Ihre Liebe zu den Ärmsten der Armen führte dazu, dass sie sich nicht bloß um deren materielle Bedürfnisse kümmerte, sondern ihnen auch die frohe Botschaft des Evangeliums verkündete: »Wir möchten den Armen die frohe Botschaft verkünden, dass Gott sie liebt, dass wir sie lieben, dass sie für uns wichtig sind, dass auch sie von derselben liebenden Hand Gottes geschaffen wurden, um zu lieben und um geliebt zu werden. Unsere armen Menschen sind großartige Menschen, sie sind sehr liebenswerte Menschen, sie brauchen nicht unser Mitleid und unser Mitgefühl, sie brauchen unsere einfühlsame Liebe. Sie brauchen unseren Respekt, sie brauchen, dass wir sie mit Würde behandeln.« [67] [7] All dies entsprang einer tiefen Spiritualität, die den Dienst an den Ärmsten als Frucht des Gebets und der Liebe ansah, die die Quelle wahren Friedens ist, wie Papst Johannes Paul II. den Pilgern in Erinnerung rief, die zu ihrer Seligsprechung nach Rom gekommen waren: »Wo fand Mutter Teresa die Kraft, um sich vollkommen in den Dienst an den Mitmenschen zu stellen? Sie fand sie im Gebet und in der stillen Betrachtung Jesu Christi, seines Heiligen Antlitzes und seines Heiligsten Herzens. Sie selbst brachte dies mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Die Frucht der Stille ist das Gebet; die Frucht des Gebets ist der Glaube; die Frucht des Glaubens ist die Liebe; die Frucht der Liebe ist der Dienst; die Frucht des Dienstes ist der Friede.“ […] Dies war das Gebet, das ihr Herz mit dem Frieden Christi selbst erfüllte und ihr ermöglichte, diesen Frieden auch auf andere auszustrahlen.« [68] [8] Teresa sah sich nicht als Philanthropin oder Aktivistin, sondern als Braut des gekreuzigten Christus, dem sie in den leidenden Brüdern und Schwestern mit ganzer Liebe diente.

78. In Brasilien verkörperte die heilige Dulce dos Pobres – bekannt als „der gute Engel von Bahia“ – denselben Geist des Evangeliums auf typisch brasilianische Weise. Mit Blick auf sie und zwei weitere Ordensfrauen, die im Rahmen derselben Feier heiliggesprochen wurden, erinnerte Papst Franziskus an ihre Liebe zu denen, die ganz am Rande der Gesellschaft stehen. Die neuen Heiligen, sagte er, »zeigen uns, dass das Ordensleben ein Weg der Liebe an den existentiellen Rändern der Welt ist«. [69] [9] Schwester Dulce begegnete der Unsicherheit mit Kreativität, den Widerständen mit Zärtlichkeit und der Bedürftigkeit mit unerschütterlichem Glauben. Anfangs brachte sie Kranke in einem Hühnerstall unter und von dort aus gründete sie eines der größten sozialen Hilfswerke des Landes. Sie stand täglich Tausenden von Menschen bei, ohne jemals ihr Feingefühl zu verlieren. Aus Liebe zu dem, der im höchsten Maße arm ist, begab sie sich als Arme unter die Armen. Sie lebte mit wenig, betete inbrünstig und diente mit Freude. Ihr Glaube entfernte sie nicht von der Welt, sondern ließ sie das Leid der Geringsten noch tiefer mitfühlen.

79. Man könnte auch an den heiligen Benedetto Menni und die Hospitalschwestern vom Heiligen Herzen Jesu erinnern, die sich um Menschen mit Behinderungen kümmerten; an den heiligen Charles de Foucauld inmitten der Gemeinschaften der Sahara; an die heilige Katharine Drexel, die besonders benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Nordamerika beiseitestand; an Schwester Emmanuelle, die mit den Müllsammlern im Kairoer Stadtteil Ezbet El Nakhl lebte; und an sehr viele andere. Alle haben auf ihre Weise entdeckt, dass die Ärmsten nicht bloße Adressaten unseres Mitgefühls sind, sondern Lehrer des Evangeliums. Es geht nicht darum, Gott zu ihnen „zu bringen”, sondern ihm bei ihnen zu begegnen. All diese Beispiele lehren uns, dass der Dienst an den Armen nicht eine Geste „von oben nach unten“ ist, sondern eine Begegnung unter Gleichen, in der Christus offenbar und verehrt wird. Der heilige Johannes Paul II. hat uns daran erinnert, dass »in den Armen Christus in besonderer Weise gegenwärtig [ist], was der Kirche eine vorrangige Option für sie auferlegt«. [70] [0] Wenn die Kirche sich also hinabbeugt, um sich der Armen anzunehmen, dann nimmt sie ihre erhabenste Haltung ein.

Volksbewegungen

80. Wir müssen auch anerkennen, dass im Laufe der Jahrhunderte der christlichen Geschichte die Hilfe für die Armen und der Kampf für ihre Rechte nicht nur einzelne Personen, einige Familien, Institutionen oder religiöse Gemeinschaften betrafen. Es gab und gibt verschiedene Volksbewegungen, die aus Laien bestehen und von volksnahen Führungspersönlichkeiten geleitet werden, und die oft verdächtigt, ja verfolgt werden. Ich beziehe mich auf eine »Gesamtheit von Menschen, die nicht als Einzelpersonen unterwegs sind, sondern als Gefüge einer Gemeinschaft aus allen und für alle, die es nicht zulassen kann, dass die Ärmsten und Schwächsten zurückbleiben: […] Volksnahe Führungsgestalten besitzen also die Fähigkeit, alle zu beteiligen […] Sie empfinden weder Furcht noch Abscheu vor den jungen Menschen, die Verwundungen oder die Last eines Kreuzes zu tragen haben.« [71]

81. Diese volksnahen Führungspersönlichkeiten wissen, dass Solidarität auch bedeutet, »dass man gegen die strukturellen Ursachen der Armut kämpft: Ungleichheit, das Fehlen von Arbeit, Boden und Wohnung, die Verweigerung der sozialen Rechte und der Arbeitsrechte. Es bedeutet, dass man gegen die zerstörerischen Auswirkungen der Herrschaft des Geldes kämpft: […]. Die Solidarität, verstanden in ihrem tiefsten Sinne, ist eine Art und Weise, Geschichte zu machen, und genau das ist es, was die Volksbewegungen tun.« [72] Aus diesem Grund ist es notwendig, dass die verschiedenen Institutionen, wenn sie über die Bedürfnisse der Armen nachdenken, »die Volksbewegungen mit einschließen und die lokalen, nationalen und internationalen Regierungsstrukturen mit jenem Strom moralischer Energie beleben, der der Miteinbeziehung der Ausgeschlossenen in den Aufbau unseres gemeinsamen Schicksals entspringt«. [73] Die Volksbewegungen fordern nämlich dazu auf, die »Vorstellung von einer Sozialpolitik, die verstanden wird als eine Politik gegenüber den Armen, aber nie mit den Armen, die nie die Politik der Armen ist und schon gar nicht in einen völkerverbindenden Plan integriert ist«, [74] zu überwinden. Wenn Politiker und Fachleute ihnen nicht zuhören, »verkümmert die Demokratie, wird sie zum Nominalismus, zur Formalität, verliert sie ihre Repräsentativität, wird sie entleiblicht, weil sie das Volk außen vor lässt in seinem Kampf um die Würde, beim Aufbau seines Schicksals«. [75] Dasselbe gilt für die kirchlichen Institutionen.

KAPITEL IV
EINE GESCHICHTE, DIE WEITERGEHT

Das Jahrhundert der Soziallehre der Kirche

82. Die sich beschleunigenden technologischen und sozialen Veränderungen der vergangenen zwei Jahrhunderte, die von tragischen Widersprüchen geprägt waren, haben die Armen nicht einfach nur hingenommen, sondern sie sind damit umgegangen und haben darüber nachgedacht. Die Arbeiter-, Frauen- und Jugendbewegungen sowie der Kampf gegen rassistische Diskriminierung haben zu einem neuen Bewusstsein für die Würde derjenigen beigetragen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Auch der Beitrag der Soziallehre der Kirche hat diese Wurzeln im Volk, die nicht vergessen werden dürfen: Ihre Neuauslegung der christlichen Offenbarung unter den modernen Gesellschafts-, Arbeits-, Wirtschafts- und kulturellen Verhältnissen wäre ohne die Laien undenkbar, die es mit den Herausforderungen ihrer Zeit zu tun hatten. An ihrer Seite wirkten Ordensleute, als Zeugen einer Kirche, die über die bereits beschrittenen Wege hinausgeht. Der Epochenwechsel, den wir erleben, macht die kontinuierliche Interaktion zwischen Getauften und Lehramt, zwischen Bürgern und Experten, zwischen Volk und Institutionen heute noch notwendiger. Insbesondere muss von neuem erkannt werden, dass die Wirklichkeit von den Rändern besser zu sehen ist und dass die Armen über eine ihnen eigene Intelligenz verfügen, die für die Kirche und die Menschheit unverzichtbar ist.

83. Das Lehramt der letzten 150 Jahre bietet eine wahre Fundgrube wertvoller Lehren über die Armen. So machten sich die Bischöfe von Rom zur Stimme neuer Erkenntnisse, die zuvor einen Prozess der Prüfung und Unterscheidung in der Kirche durchlaufen hatten. In der Enzyklika Rerum novarum (1891) befasste sich Leo XIII. beispielsweise mit der Frage der Arbeit, deckte die unerträgliche Lage vieler Industriearbeiter auf und sprach sich für die Schaffung einer gerechten Gesellschaftsordnung aus. In diesem Sinne haben sich auch andere Päpste geäußert. Johannes XXIII. setze sich mit der Enzyklika Mater et Magistra (1961) für eine weltweite Gerechtigkeit ein: Die reichen Länder durften angesichts der von Hunger und Elend bedrängten Länder nicht gleichgültig bleiben, sondern sollten diesen mit all ihren Gütern großzügig helfen.

84. Bezüglich der Frage der Armen stellt das Zweite Vatikanische Konzil einen wesentlichen Meilenstein des kirchlichen Erkenntnisprozesses im Lichte der Offenbarung dar. Obwohl in den Vorbereitungsdokumenten diesem Aspekt nur am Rande Beachtung geschenkt wurde, lenkte der heilige Johannes XXIII. mit seiner Radiobotschaft vom 11. September 1962, einen Monat vor Eröffnung des Konzils, mit unvergesslichen Worten die Aufmerksamkeit auf dieses Thema: »Die Kirche zeigt sich, wie sie ist und wie sie sein will, als die Kirche aller und besonders als die Kirche der Armen.« [76] In der Folge waren es um die Erneuerung der Kirche bemühte Bischöfe, Theologen und Experten – mit der Unterstützung des heiligen Johannes XXIII. selbst –, die durch ihre bedeutende Arbeit eine Neuausrichtung des Konzils bewirkten. Von grundlegender Bedeutung ist der christozentrische, also lehrmäßige und nicht nur soziale Charakter dieser Bewegung. Zahlreiche Konzilsväter förderten die Festigung eines Bewusstseins, das Kardinal Lercaro in seiner denkwürdigen Rede vom 6. Dezember 1962 so treffend zum Ausdruck brachte: »Das Geheimnis Christi in der Kirche war immer, und ist es heute ganz besonders, das Geheimnis Christi in den Armen.« [77] Und weiter: »Es handelt sich nicht um irgendein Thema, sondern in gewisser Weise um das einzige Thema des ganzen Zweiten Vatikanischen Konzils[78] Der Erzbischof von Bologna vermerkte bei der Vorbereitung des Textes dieser Rede: »Dies ist die Stunde der Armen, der Millionen Armen auf der ganzen Welt, dies ist die Stunde des Geheimnisses der Kirche als Mutter der Armen, dies ist die Stunde des Geheimnisses Christi insbesondere in den Armen.« [79] Damit wurde die Notwendigkeit einer neuen, einfacheren und schlichteren Form der Kirche deutlich, die das gesamte Volk Gottes und seine geschichtliche Gestalt miteinbezieht. Eine Kirche, die ihrem Herrn ähnlicher ist als den weltlichen Mächten, und der es darum geht, die gesamte Menschheit zu einem konkreten Engagement für die Lösung des großen Problems der Armut in der Welt anzuregen.

85. Der heilige Paul VI. griff bei der Eröffnung der zweiten Sitzungsperiode des Konzils das Thema seines Vorgängers wieder auf, nämlich dass die Kirche mit besonderem Interesse »auf die Armen, die Bedürftigen, die Bedrängten, die Hungrigen, die Leidenden, die Gefangenen [sieht], sie also auf die ganze leidende und weinende Menschheit blickt: Nach dem Recht des Evangeliums gehört sie zu ihr.« [80] In der Generalaudienz vom 11. November 1964 betonte er, dass »der Arme ein Repräsentant Christi ist«, und stellte eine Verbindung her zwischen den beiden Arten, wie Christus einerseits durch die Armen und andererseits durch den Papst repräsentiert wird: »Die Repräsentation Christi durch den Armen ist universal, jeder Arme spiegelt Christus wider; jene des Papstes ist eine persönliche. […] Der Arme und Petrus können zusammenfallen, sie können dieselbe Person sein, der eine doppelte Repräsentation zukommt, die der Armut und die der Autorität.« [81] Auf diese Weise wurde die innere Verbindung zwischen der Kirche und den Armen mit beispielloser Klarheit bildhaft zum Ausdruck gebracht.

86. In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes aktualisiert das Konzil das Erbe der Kirchenväter und bekräftigt nachdrücklich die universale Bestimmung der Güter der Erde und die sich daraus ergebende soziale Funktion des Eigentums: »Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen; […]. Darum soll der Mensch, der sich dieser Güter bedient, die äußeren Dinge, die er rechtmäßig besitzt, nicht nur als ihm persönlich zu eigen, sondern muss er sie zugleich auch als Gemeingut ansehen in dem Sinn, dass sie nicht ihm allein, sondern auch anderen von Nutzen sein können. Zudem steht allen das Recht zu, einen für sich selbst und ihre Familien ausreichenden Anteil an den Erdengütern zu haben. […] Wer aber sich in äußerster Notlage befindet, hat das Recht, vom Reichtum anderer das Benötigte an sich zu bringen. […] Aber auch das Privateigentum selbst hat eine ihm wesentliche soziale Seite; sie hat ihre Grundlage in der Widmung der Erdengüter an alle. Bei Außerachtlassung dieser seiner sozialen Seite führt das Eigentum in großem Umfang zu Raffgier und schweren Verirrungen; […].« [82] Diese Überzeugung wird vom heiligen Paul VI. in der Enzyklika Populorum Progressio wieder aufgegriffen, wo wir lesen, dass niemand »befugt [ist], seinen Überfluss ausschließlich sich selbst vorzubehalten, wo andern das Notwendigste fehlt«. [83] In seiner Rede vor den Vereinten Nationen zeigte sich Papst Montini als Anwalt der armen Völker [84] und forderte die internationale Gemeinschaft auf, sich für eine solidarische Welt einzusetzen.

87. Mit dem heiligen Johannes Paul II. verstetigt sich, zumindest im Bereich der Lehre, die besondere Beziehung der Kirche zu den Armen. Sein Lehramt hat nämlich anerkannt, dass die Option für die Armen »ein besonderer Vorrang in der Weise [ist], wie die christliche Liebe ausgeübt wird; eine solche Option wird von der ganzen Tradition der Kirche bezeugt«. [85] In der Enzyklika Sollicitudo rei socialis schreibt er weiter: »Heute muss angesichts der weltweiten Bedeutung, die die Soziale Frage erlangt hat, diese vorrangige Liebe mit den von ihr inspirierten Entscheidungen die unzähligen Scharen von Hungernden, Bettlern, Obdachlosen, Menschen ohne medizinische Hilfe und vor allem ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft umfassen: Es ist unmöglich, die Existenz dieser Menschengruppen nicht zur Kenntnis zu nehmen. An ihnen vorbeizusehen würde bedeuten, dass wir dem „reichen Prasser“ gleichen, der so tat, als kenne er den Bettler Lazarus nicht, „der vor seiner Tür lag“ (vgl. Lk 16,19-31).« [86] Seine Worte über die Arbeit sind von Bedeutung, wenn wir etwa an die aktive Rolle der Armen für die Erneuerung der Kirche und der Gesellschaft denken und jenen bevormundenden Ansatz hinter uns lassen, der sich darauf beschränkt, sie in ihren unmittelbaren Bedürfnissen zu unterstützen. In der Enzyklika Laborem exercens sagt er, dass »die menschliche Arbeit ein Schlüssel und wohl der wesentliche Schlüssel in der gesamten sozialen Frage ist«. [87]

88. Angesichts der vielfältigen Krisen, die den Beginn des dritten Jahrtausends geprägt haben, erscheint der Zugang Benedikts XVI. deutlich politischer. So beteuert er in der Enzyklika Caritas in veritate: »Man liebt den Nächsten um so wirkungsvoller, je mehr man sich für ein gemeinsames Gut einsetzt, das auch seinen realen Bedürfnissen entspricht.« [88] Desweiteren bemerkt er: »Hunger hängt nicht so sehr von materieller Knappheit ab, sondern vielmehr von einem Mangel an sozialen Ressourcen, von denen die institutionellen die wichtigsten sind. Es fehlt also ein System wirtschaftlicher Institutionen, das sowohl einen regelmäßigen und ernährungsphysiologisch angemessenen Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser gewährleistet als auch den Bedürfnissen im Zusammenhang mit Grundbedürfnissen und echten Nahrungsmittelkrisen, die durch natürliche Ursachen oder durch nationale und internationale politische Verantwortungslosigkeit verursacht werden, gerecht wird.« [89]

89. Papst Franziskus hat darauf hingewiesen, dass neben dem Lehramt der Bischöfe von Rom in den letzten Jahrzehnten auch die Stellungnahmen der nationalen und regionalen Bischofskonferenzen immer häufiger geworden sind. So konnte er beispielsweise aus erster Hand das besondere Engagement des lateinamerikanischen Episkopats beim Überdenken der Beziehung der Kirche zu den Armen bezeugen. In der Zeit nach dem Konzil war in fast allen Ländern Lateinamerikas eine starke Identifikation der Kirche mit den Armen und eine aktive Beteiligung an ihrer Befreiung zu spüren. Das Herz der Kirche war bewegt angesichts der vielen Armen, die unter Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, ungerechten Löhnen und miserablen Lebensbedingungen litten. Das Martyrium des heiligen Oscar Romero, Erzbischof von San Salvador, war für die Kirche zugleich Zeugnis und eindringliche Ermahnung. Die dramatische Situation der überwiegenden Mehrheit seiner Gläubigen ging ihm persönlich nahe und er stellte sie in den Mittelpunkt seines pastoralen Wirkens. Die Versammlungen der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín, Puebla, Santo Domingo und Aparecida stellen für die gesamte Kirche wichtige Meilensteine dar. Ich selbst, der ich viele Jahre als Missionar in Peru tätig gewesen bin, verdanke diesem Weg der Unterscheidung in der Kirche, den Papst Franziskus klug mit dem Weg anderer Teilkirchen, insbesondere im globalen Süden, zu verbinden wusste, sehr viel. Nun möchte ich auf zwei spezifische Themen dieses bischöflichen Lehramtes eingehen.

Strukturen der Sünde, die Armut und extreme Ungleichheit verursachen

90. In Medellín sprachen sich die Bischöfe für die vorrangige Option für die Armen aus: »Christus, unser Erlöser, liebt nicht nur die Armen, sondern „er, der reich war, machte sich arm“, lebte in Armut, konzentrierte seine Sendung darauf, dass er den Armen ihre Befreiung verkündete und gründete seine Kirche als Zeichen dieser Armut unter den Menschen. […] Die Armut so vieler Brüder und Schwestern schreit nach Gerechtigkeit, Solidarität, Zeugnis, Engagement, Anstrengung und Überwindung für die volle Erfüllung des von Christus anvertrauten Heilsauftrages.« [90] Die Bischöfe bekräftigen nachdrücklich, dass die Kirche nicht nur die Lage der Armen teilen, sondern sich auch an ihre Seite stellen und sich aktiv für ihre umfassende Förderung einsetzen müsse, wenn sie ihrer Berufung voll und ganz treu sein wolle. Angesichts der weiter wachsenden Not in Lateinamerika bekräftigte die Versammlung von Puebla die Entscheidung von Medellín mit einer aufrichtigen und prophetischen Option für die Armen und bezeichnete die Strukturen der Ungerechtigkeit als „soziale Sünde“.

91. Die Liebe ist eine Kraft, die die Wirklichkeit verändert, eine echte geschichtsverändernde Kraft. Aus dieser Quelle muss sich alles Bemühen, »die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben« [91] und dies unverzüglich anzugehen, speisen. Ich wünsche mir daher, »dass die Zahl der Politiker zunimmt, die fähig sind, in einen echten Dialog einzusteigen, der sich wirksam darauf ausrichtet, die tiefen Wurzeln und nicht den äußeren Anschein der Übel unserer Welt zu heilen«, [92] denn es »geht […] darum, den Schrei ganzer Völker, der ärmsten Völker der Erde zu hören«. [93]

92. Es ist daher notwendig, weiterhin die »Diktatur einer Wirtschaft, die tötet« anzuprangern und anzuerkennen, dass »während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, […] die der Mehrheit immer weiter entfernt [sind] vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen. Darum bestreiten sie das Kontrollrecht der Staaten, die beauftragt sind, über den Schutz des Gemeinwohls zu wachen. Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre Regeln aufzwingt.« [94] Obwohl es nicht an Theorien fehlt, die versuchen, den aktuellen Zustand zu rechtfertigen, oder erklären, dass die wirtschaftliche Vernunft von uns verlangt, darauf zu warten, dass die unsichtbaren Kräfte des Marktes alles lösen, ist die Würde eines jeden Menschen jetzt und nicht erst morgen zu respektieren. Das Elend so vieler Menschen, deren Würde negiert wird, muss ein ständiger Appell an unser Gewissen sein.

93. In der Enzyklika Dilexit nos hat Papst Franziskus daran erinnert, dass die soziale Sünde als „Struktur der Sünde“ in der Gesellschaft Gestalt annimmt und »oft Teil einer vorherrschenden Denkweise [ist], die als normal oder rational betrachtet, was in Wirklichkeit bloß Egoismus und Gleichgültigkeit ist. Dieses Phänomen kann man als soziale Entfremdung bezeichnen.« [95] Es wird normal, die Armen zu ignorieren und so zu leben, als ob es sie nicht gäbe. Es erscheint als vernünftige Entscheidung, die Wirtschaft so zu organisieren, dass vom Volk Opfer verlangt werden, um bestimmte Ziele zu erreichen, die für die Mächtigen von Interesse sind. Unterdessen werden den Armen nur „Tropfen” versprochen, die so lange fallen werden, bis eine neue globale Krise sie wieder in die vorherige Situation zurückwirft. Dies ist eine wahre Entfremdung, die dazu führt, dass man nur theoretische Ausreden findet und nicht versucht, die konkreten Probleme der Notleidenden unverzüglich zu lösen. Schon der heilige Johannes Paul II. hat es gesagt: »Entfremdet wird eine Gesellschaft, die in ihren sozialen Organisationsformen, in Produktion und Konsum, die Verwirklichung dieser Hingabe und die Bildung dieser zwischenmenschlichen Solidarität erschwert.« [96]

94. Wir müssen uns immer mehr dafür einsetzen, die strukturellen Ursachen der Armut zu beseitigen. Dies ist eine dringende Aufgabe, die »nicht warten [kann], nicht nur wegen eines pragmatischen Erfordernisses, Ergebnisse zu erzielen und die Gesellschaft zu ordnen, sondern um sie von einer Krankheit zu heilen, die sie anfällig und unwürdig werden lässt und sie nur in neue Krisen führen kann. Die Hilfsprojekte, die einigen dringlichen Erfordernissen begegnen, sollten nur als provisorische Maßnahmen angesehen werden.« [97] Mangelnde Gerechtigkeit ist »die Wurzel der sozialen Übel« [98]. Denn »oft stellt man fest, dass tatsächlich die Menschenrechte nicht für alle gleich gelten«. [99]

95. Es kommt vor, dass es »in dem geltenden „privatrechtlichen“ Erfolgsmodell […] wenig sinnvoll [scheint], zu investieren, damit diejenigen, die auf der Strecke geblieben sind, die Schwachen oder die weniger Begabten es im Leben zu etwas bringen können«. [100] Die Frage, die wiederkehrt, ist stets dieselbe: Sind die weniger Begabten keine Menschen? Haben die Schwachen nicht die gleiche Würde wie wir? Sind diejenigen, die mit weniger Möglichkeiten geboren wurden, als Menschen weniger wert und müssen sich damit begnügen, bloß zu überleben? Von der Antwort, die wir auf diese Fragen geben, hängt der Wert unserer Gesellschaften ab, und von ihr hängt auch unsere Zukunft ab. Entweder wir gewinnen unsere moralische und geistige Würde zurück oder wir fallen gleichsam in ein Schmutzloch. Wenn wir nicht innehalten und die Dinge ernst nehmen, werden wir weiterhin, offen oder verdeckt, »auf diese Weise das gegenwärtige Modell der Verteilung […] legitimieren, in dem eine Minderheit sich für berechtigt hält, in einem Verhältnis zu konsumieren, das unmöglich verallgemeinert werden könnte, denn der Planet wäre nicht einmal imstande, die Abfälle eines solchen Konsums zu fassen«. [101]

96. Zu den strukturellen Herausforderungen, die unmöglich von oben herab gelöst werden können und dringend anzugehen sind, gehören die Orte, Räume, Häuser und Städte, in denen die Armen leben und sich bewegen. Wir wissen: »Wie schön sind die Städte, die das krankhafte Misstrauen überwinden, die anderen mit ihrer Verschiedenheit eingliedern und aus dieser Integration einen Entwicklungsfaktor machen! Wie schön sind die Städte, die auch in ihrer architektonischen Planung reich sind an Räumen, die verbinden, in Beziehung setzen und die Anerkennung des anderen begünstigen!« [102] Gleichzeitig »können wir es nicht unterlassen, die Auswirkungen der Umweltzerstörung, des aktuellen Entwicklungsmodells und der Wegwerfkultur auf das menschliche Leben zu betrachten«. [103] Denn »der Verfall der Umwelt und der der Gesellschaft [schädigen] in besonderer Weise die Schwächsten des Planeten«. [104]

97. Daher ist es die Aufgabe aller Glieder des Gottesvolkes die Stimme auf unterschiedliche Weisen zu erheben, damit sie aufrüttelt, anprangert und sich auch dann exponiert, wenn dies bedeutet, als „dumm“ angesehen zu werden. Die Strukturen der Ungerechtigkeit müssen mit der Kraft des Guten erkannt und zerstört werden, durch einen Gesinnungswandel, aber auch mit Hilfe der Wissenschaften und der Technik, durch die Entwicklung wirksamer politischer Maßnahmen zur Umgestaltung der Gesellschaft. Es ist stets zu bedenken, dass das Anliegen des Evangeliums nicht bloß in einer individuellen und innigen Beziehung zum Herrn besteht. Das Anliegen ist viel umfassender: Es »ist das Reich Gottes (vgl. Lk 4,43); es geht darum, Gott zu lieben, der in der Welt herrscht. In dem Maß, in dem er unter uns herrschen kann, wird das Gesellschaftsleben für alle ein Raum der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit, des Friedens und der Würde sein. Sowohl die Verkündigung als auch die christliche Erfahrung neigen dazu, soziale Konsequenzen auszulösen. Suchen wir sein Reich.« [105]

98. Ein Dokument, das anfangs nicht von allen positiv aufgenommen worden ist, bietet uns schließlich eine nach wie vor aktuelle Überlegung: »Den Verteidigern der „Orthodoxie“ wirft man manchmal Passivität, Nachsichtigkeit und schuldhafte Mitwisserschaft gegenüber unerträglichen Situationen der Ungerechtigkeit und gegenüber politischen Regimen, die diese erhalten, vor. Wie es auch um die Berechtigung dieses Vorwurfs stehen mag, sicher ist von allen, besonders aber von den Hirten und den Verantwortlichen, die geistliche Bekehrung, die intensive Gottes- und Nächstenliebe, der Eifer für Gerechtigkeit und Frieden, der evangelische Sinn für die Armen und die Armut gefordert. Die Sorge um die Reinheit der Lehre geht nicht ohne die Bemühung, durch ein integrales theologales Leben die Antwort eines wirksamen Zeugnisses des Dienstes am Nächsten, besonders aber am Armen und Unterdrückten, zu geben.« [106]

Die Armen als Subjekte

99. Ein wesentliches Geschenk für den Weg der Weltkirche stellt der Unterscheidungsprozess der Versammlung von Aparecida dar, in dem die lateinamerikanischen Bischöfe deutlich machten, die vorrangige Option der Kirche für die Armen sei »im christologischen Glauben an jenen Gott implizit enthalten, der für uns arm geworden ist, um uns durch seine Armut reich zu machen«. [107] Das Dokument kontextualisiert die Mission innerhalb der aktuellen Situation der globalisierten Welt mit ihren neuen und dramatischen Ungleichgewichten, [108] und in der Schlussbotschaft schreiben die Bischöfe: »Die großen Unterschiede zwischen Reichen und Armen fordern uns auf, mit größerem Einsatz Jünger zu werden, die als Tischgemeinschaft das Leben miteinander zu teilen verstehen, die Tischgemeinschaft aller Söhne und Töchter des Vaters, eine offene Tischgemeinschaft, aus der niemand ausgeschlossen sein und bei der niemand fehlen darf. Daher bekräftigen wir die vorrangige, evangeliumsgemäße Option für die Armen.« [109]

100. Zugleich vertieft das Dokument ein Thema, das bereits in früheren Versammlungen des lateinamerikanischen Episkopats behandelt wurde, und betont die Notwendigkeit, Randgruppen als Subjekte anzusehen, die in der Lage sind, eine eigene Kultur zu schaffen, statt sie als Objekte der Wohltätigkeit zu betrachten. Dies impliziert, dass solche Gruppen das Recht haben, das Evangelium gemäß den in ihrer Kultur bestehenden Werten zu leben und entsprechend ihren Glauben zu feiern und zu vermitteln. Die Erfahrung der Armut gibt ihnen die Fähigkeit, Aspekte der Wirklichkeit zu erkennen, die andere nicht zu sehen vermögen, und deshalb ist es für die Gesellschaft notwendig, ihnen zuzuhören. Das Gleiche gilt für die Kirche, die ihre „volkstümliche“ Art, den Glauben zu leben, positiv bewerten muss. Ein schöner Text aus dem Schlussdokument von Aparecida hilft uns, über diesen Punkt nachzudenken, um die richtige Haltung zu finden: »Nur wenn wir den Armen so nahe kommen, dass Freundschaft entstehen kann, werden wir wahrhaft schätzen lernen, was den Armen von heute wichtig ist, wonach sie sich legitim sehnen und wie sie selbst ihren Glauben leben. […] Tag für Tag handeln die Armen selbstverantwortlich für die Evangelisierung und die ganzheitliche menschliche Entwicklung: Sie erziehen ihre Kinder im Glauben, leben stets solidarisch mit Verwandten und Nachbarn, suchen immer nach Gott und schenken der pilgernden Kirche Leben. Im Licht des Evangeliums erkennen wir, dass sie eine unendliche Würde und eine heilige Größe in den Augen Christi besitzen, der arm und ausgeschlossen war wie sie. Mit dieser im Glauben gewonnenen Erfahrung stehen wir ihnen bei der Verteidigung ihrer Rechte zur Seite.« [110]

101. All dies beinhaltet einen Aspekt der Option für die Armen, den wir stets im Auge behalten müssen: Diese Option verlangt von uns »eine aufmerksame Zuwendung zum anderen […]. Diese liebevolle Zuwendung ist der Anfang einer wahren Sorge um seine Person, und von dieser Basis aus bemühe ich mich dann wirklich um sein Wohl. Das schließt ein, den Armen in seinem besonderen Wert zu schätzen, mit seiner Wesensart, mit seiner Kultur und mit seiner Art, den Glauben zu leben. Die echte Liebe ist immer kontemplativ, sie erlaubt uns, dem anderen nicht aus Not oder aus Eitelkeit zu dienen, sondern weil es schön ist, jenseits des Scheins. […] Nur aus dieser echten und herzlichen Nähe heraus können wir sie auf ihrem Weg zur Befreiung angemessen begleiten.« [111] Deshalb danke ich allen aufrichtig, die sich dafür entschieden haben, unter den Armen zu leben: jenen also, die ihnen nicht nur ab und zu einen Besuch abstatten, sondern mit ihnen und wie sie leben. Eine solche Entscheidung gehört zu den höchsten Formen eines evangeliumsgemäßen Lebens.

102. So gesehen ergibt sich klar die Notwendigkeit, »dass wir alle uns von [den Armen] evangelisieren lassen« [112] und dass wir alle »die geheimnisvolle Weisheit [an]nehmen, die Gott uns durch sie mitteilen will«. [113] Die Armen sind in äußerst unsicheren Verhältnissen aufgewachsen, haben gelernt, unter widrigsten Umständen zu überleben, sie vertrauen auf Gott in der Gewissheit, dass niemand sonst sie ernst nimmt, sie helfen sich gegenseitig in den dunkelsten Stunden und haben auf diese Weise vieles gelernt, was sie im Geheimnis ihres Herzens bewahren. Diejenigen unter uns, die keine solchen Grenzerfahrungen in ihrem Leben gemacht haben, können sicherlich viel aus jener Quelle der Weisheit schöpfen, die die Erfahrung der Armen darstellt. Nur wenn wir unser Klagen mit ihren Leiden und Entbehrungen in Beziehung setzen, können wir eine Ermahnung vernehmen, die uns nahelegt, unser Leben einfacher zu gestalten.

KAPITEL V
EINE BESTÄNDIGE HERAUSFORDERUNG

103. Ich habe an diese zweitausendjährige Geschichte kirchlicher Aufmerksamkeit für die Armen und inmitten der Armen erinnern wollen, um zu zeigen, dass sie wesentlicher Bestandteil des ununterbrochenen Weges der Kirche ist. Die Sorge für die Armen ist Teil der großen Tradition der Kirche, wie ein Leuchtfeuer, das von den Anfängen des Evangeliums an die Herzen und die Schritte der Christen aller Zeiten erhellt hat. Daher müssen wir die Dringlichkeit verspüren, alle einzuladen, sich in diesen Strom an Licht und Leben zu begeben, der daraus hervorgeht, dass man Christus im Antlitz der Bedürftigen und Leidenden erkennt. Die Liebe zu den Armen ist ein wesentliches Element der Geschichte Gottes mit uns und sie entströmt dem Herzen der Kirche als ein fortwährender Aufruf an die Herzen der einzelnen Gläubigen wie auch ihrer Gemeinschaften. Als Leib Christi empfindet die Kirche das Leben der Armen, die ein privilegierter Teil des pilgernden Volkes sind, als ihr eigen „Fleisch“. Deshalb ist die Liebe zu den Armen – in welcher Form auch immer sich diese Armut zeigt – die evangeliumsgemäße Garantie für eine Kirche, die dem Herzen Gottes treu ist. Jede kirchliche Erneuerung hat denn auch immer diese vorrangige Aufmerksamkeit für die Armen, die sich sowohl in ihren Beweggründen als auch in ihrem Stil von der Tätigkeit jeder anderen humanitären Organisation unterscheidet, zu ihren Prioritäten gezählt.

104. Christen dürfen die Armen nicht bloß als soziales Problem betrachten: Sie sind eine „Familienangelegenheit“. Sie gehören „zu den Unsrigen“. Die Beziehung zu ihnen darf nicht auf eine Tätigkeit oder eine amtliche Verpflichtung der Kirche reduziert werden. Wie die Versammlung von Aparecida lehrt, »ist von uns [gefordert], dass wir den Armen Zeit widmen, uns ihnen liebevoll zuwenden, ihnen aufmerksam zuhören und ihnen in schwierigsten Momenten beistehen. So entscheiden wir uns für sie und teilen mit ihnen Stunden, Wochen oder auch Jahre unseres Lebens und suchen zusammen mit ihnen ihre Lage zu ändern. Wir dürfen nicht vergessen, dass uns Jesus selbst durch sein Tun und Reden ein Beispiel dafür ist.« [114]

Noch einmal der barmherzige Samariter

105. Die vorherrschende Kultur zu Beginn dieses Jahrtausends neigt stark dazu, die Armen ihrem Schicksal zu überlassen, sie nicht für beachtenswert und noch weniger für schätzenswert zu halten. In der Enzyklika Fratelli tutti hat Papst Franziskus uns aufgefordert, über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,25-37) nachzudenken, um genau diesen Aspekt zu vertiefen. In dem Gleichnis sehen wir nämlich, dass diejenigen, die an jenem verwundeten und am Straßenrand liegenden Mann vorbeikommen, unterschiedliche Haltungen an den Tag legen. Nur der barmherzige Samariter nimmt sich seiner an. So stellt sich wieder die Frage, die jeden persönlich betrifft: »Mit wem identifizierst du dich? Diese Frage ist hart, direkt und entscheidend. Welchem von ihnen ähnelst du? Wir müssen die uns umgebende Versuchung erkennen, die anderen nicht zu beachten, besonders die Schwächsten. Sagen wir es so, in vieler Hinsicht haben wir Fortschritte gemacht, doch wir sind Analphabeten, wenn es darum geht, die Gebrechlichsten und Schwächsten unserer entwickelten Gesellschaften zu begleiten, zu pflegen und zu unterstützen. Wir haben uns angewöhnt wegzuschauen, vorbeizugehen, die Situationen zu ignorieren, solange uns diese nicht direkt betreffen.« [115]

106. Und es tut uns sehr gut zu entdecken, dass sich jene Szene des barmherzigen Samariters auch heute wiederholt. Erinnern wir uns an eine Situation aus unserer Zeit: »Wenn ich einem Menschen begegne, der in einer kalten Nacht unter freiem Himmel schläft, kann ich fühlen, dass dieser arme Wicht etwas Unvorhergesehenes ist, das mir dazwischenkommt, ein Nichtsnutz und Gauner, ein Störenfried auf meinem Weg, ein lästiger Stachel für mein Gewissen, ein Problem, das die Politiker lösen müssen, und vielleicht sogar ein Abfall, der den öffentlichen Bereich verschmutzt. Oder ich kann aus dem Glauben und der Liebe heraus reagieren und in ihm ein menschliches Wesen erkennen, mit gleicher Würde wie ich, ein vom Vater unendlich geliebtes Geschöpf, ein Abbild Gottes, ein von Jesus Christus erlöster Bruder oder Schwester. Das heißt es, Christ zu sein! Oder kann man etwa die Heiligkeit abseits dieses konkreten Anerkennens der Würde jedes menschlichen Wesens verstehen?« [116] Was hat der barmherzige Samariter getan?

107. Diese Frage ist von großer Bedeutung, da sie uns hilft, einen schwerwiegenden Mangel in unseren Gesellschaften und auch in unseren christlichen Gemeinschaften zu erkennen. Es geht darum, dass viele Formen der Gleichgültigkeit, denen wir heute begegnen, »Zeichen eines verbreiteten Lebensstils [sind], der sich auf verschiedene, vielleicht auch subtilere Weisen zeigt. Da wir alle zudem sehr auf unsere eigenen Bedürfnisse bezogen sind, ist es uns lästig, jemanden leiden zu sehen; es stört uns, weil wir keine Zeit wegen der Probleme anderer verlieren wollen. Dies sind Symptome einer kranken Gesellschaft, die versucht, in ihrem Leben dem Schmerz den Rücken zuzukehren. Besser ist es, nicht in dieses Elend zu verfallen. Betrachten wir das Modell des barmherzigen Samariters.« [117] Die Schlussworte des Gleichnisses aus dem Evangelium – »Dann geh und handle du genauso« ( Lk 10,37) – sind ein Gebot, das ein Christ jeden Tag in seinem Herzen verspüren muss.

Eine unausweichliche Herausforderung für die Kirche von heute

108. In einer für die Kirche von Rom besonders schwierigen Zeit, als die kaiserlichen Institutionen unter dem Druck der Barbaren zusammenbrachen, ermahnte Papst Gregor der Große seine Gläubigen wie folgt: »Täglich finden wir einen Lazarus, so wir nur suchen, täglich sehen wir einen Lazarus, auch wenn wir nicht suchen. Siehe, ungelegen bieten sich die Armen, flehen uns die an, die einst als unsere Fürsprecher auftreten werden. […] Lasst also die Zeit des Erbarmens nicht ungenützt vorübergehen, vernachlässigt die empfangenen Heilmittel nicht.« [118] Mutig widersetzte er sich den weit verbreiteten Vorurteilen gegenüber den Armen, wie etwa dem, dass sie für ihr Elend selbst verantwortlich seien: »Und wenn ihr Arme manches Tadelnswerte begehen seht, so verachtet sie nicht, gebt sie nicht auf; denn es reinigt sie wohl vom Schmutz kleiner Verkehrtheiten der Schmelzofen der Armut.« [119] Nicht selten macht Wohlstand blind, so dass wir bisweilen sogar meinen, wir könnten nur dann glücklich werden, wenn wir ohne die anderen auskommen. In dieser Hinsicht können die Armen für uns wie stille Lehrer sein, die unseren Stolz und unsere Arroganz in die richtige Demut zurückführen.

109. Wenn es richtig ist, dass die Armen von denen unterstützt werden, die über wirtschaftliche Mittel verfügen, dann gilt mit Sicherheit auch das Umgekehrte. Dies ist eine überraschende Erfahrung, die durch die christliche Tradition bezeugt wird und die zu einer echten Wende in unserem persönlichen Leben wird, wenn wir uns bewusstwerden, dass gerade die Armen es sind, die uns das Evangelium lehren. Auf welche Weise? Durch ihre Lebensumstände konfrontieren sie uns still mit unserer Schwachheit. Der alte Mensch erinnert uns beispielsweise durch die Gebrechlichkeit seines Körpers an unsere eigene Verletzlichkeit, auch wenn wir versuchen, sie hinter Wohlstand oder Äußerlichkeiten zu verbergen. Außerdem bringen uns die Armen zum Nachdenken über die Unhaltbarkeit jenes aggressiven Stolzes, mit dem wir oft den Schwierigkeiten des Lebens begegnen. Im Grunde lassen sie uns die Unsicherheit und Leere eines scheinbar geschützten und sicheren Lebens erkennen. Hören wir in diesem Zusammenhang noch einmal auf den heiligen Gregor den Großen: »Niemand wiege sich sonach in Sicherheit und sage: Da seht! Ich raube beileibe nicht Fremdes; ich genieße nur die mir zugestandenen Güter; denn dieser Reiche wurde nicht gestraft, weil er Fremdes geraubt, sondern weil er sich selbst gottloserweise an die empfangenen Güter verloren hatte. Was ihn dann ferner noch der Hölle überlieferte, war, dass er in seinem Glücke keine Furcht empfand, die empfangenen Gaben zur Anmaßung missbrauchte, kein Mitleid kannte […].« [120]

110. Für uns Christen führt die Frage nach den Armen zum Wesentlichen unseres Glaubens. Es ist die vorrangige Option für die Armen, das heißt die Liebe der Kirche zu ihnen, wie Johannes Paul II. lehrte, »die entscheidend ist und zu ihrer festen Tradition gehört, [sie] lässt die Kirche sich der Welt zuwenden, in der trotz des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts die Armut gigantische Formen anzunehmen droht«. [121] Tatsächlich sind die Armen für die Christen keine soziologische Kategorie, sondern das Fleisch Christi selbst. Es genügt nämlich nicht, die Lehre von der Menschwerdung Gottes allgemein zu verkünden; um wirklich in dieses Geheimnis einzutreten, muss man genauer sagen, dass der Herr Fleisch angenommen hat, das hungert, dürstet, krank ist und gefangen. »Eine arme Kirche für die Armen tut ihren ersten Schritt, indem sie auf den Leib Christi zugeht. Wenn wir auf den Leib Christi zugehen, beginnen wir etwas zu verstehen – zu verstehen, was diese Armut ist: die Armut des Herrn. Und das ist nicht einfach.« [122]

111. Das Herz der Kirche ist ihrem Wesen gemäß solidarisch mit denen, die arm, ausgegrenzt und an den Rand gedrängt sind, mit denen, die als „Abfall“ der Gesellschaft betrachtet werden. Die Armen gehören zur Mitte der Kirche, denn »aus unserem Glauben an Christus, der arm geworden und den Armen und Ausgeschlossenen immer nahe ist, ergibt sich die Sorge um die ganzheitliche Entwicklung der am stärksten vernachlässigten Mitglieder der Gesellschaft«. [123] Im Herzen eines jeden Gläubigen gibt es das Bedürfnis, »auf diesen Ruf zu hören, [der] aus der Befreiung selbst folgt, die die Gnade in jedem von uns wirkt, und deshalb handelt es sich nicht um einen Auftrag, der nur einigen vorbehalten ist«. [124]

112. Manchmal lässt sich in einigen christlichen Bewegungen oder Gruppen ein mangeldes oder gar fehlendes Engagement für das Gemeinwohl der Gesellschaft und insbesondere für die Verteidigung und Förderung der Schwächsten und Benachteiligten feststellen. Diesbezüglich ist daran zu erinnern, dass Religion, insbesondere die christliche, nicht auf den privaten Bereich beschränkt werden darf, so als ob die Gläubigen sich nicht auch um die Probleme der Zivilgesellschaft und die Ereignisse, die die Bürger betreffen, kümmern müssten. [125]

113. Tatsächlich läuft »jede beliebige Gemeinschaft in der Kirche, die beansprucht, in ihrer Ruhe zu verharren, ohne sich kreativ darum zu kümmern und wirksam daran mitzuarbeiten, dass die Armen in Würde leben können und niemand ausgeschlossen wird, […] die Gefahr der Auflösung, auch wenn sie über soziale Themen spricht und die Regierungen kritisiert. Sie wird schließlich leicht in einer mit religiösen Übungen, unfruchtbaren Versammlungen und leeren Reden heuchlerisch verborgenen spirituellen Weltlichkeit untergehen.« [126]

114. Wir sprechen nicht nur von Hilfe und vom notwendigen Einsatz für Gerechtigkeit. Die Gläubigen müssen sich einer weiteren Form der Inkonsequenz gegenüber den Armen bewusstwerden. In Wahrheit ist »die schlimmste Diskriminierung, unter der die Armen leiden, der Mangel an geistlicher Zuwendung […]. […] Die vorrangige Option für die Armen muss sich hauptsächlich in einer außerordentlichen und vorrangigen religiösen Zuwendung zeigen.» [127] Diese geistliche Aufmerksamkeit für die Armen wird jedoch durch bestimmte Vorurteile, auch seitens der Christen, in Frage gestellt, weil wir uns ohne die Armen wohler fühlen. Manche sagen fortwährend: „Unsere Aufgabe ist es, zu beten und die wahre Lehre zu verkünden.“ Und indem sie diesen religiösen Aspekt von einer ganzheitlichen Förderung trennen, fügen sie hinzu, dass allein die Regierung sich um sie kümmern sollte oder dass es besser wäre, sie in ihrem Elend zu lassen und ihnen erst einmal das Arbeiten beizubringen. Manchmal werden auch pseudowissenschaftliche Kriterien herangezogen, wenn etwa gesagt wird, dass der freie Markt von selbst zur Lösung des Problems der Armut führen werde. Oder man optiert sogar für eine Seelsorge der sogenannten „Eliten“ und behauptet, dass man, statt Zeit mit den Armen zu verschwenden, sich besser um die Reichen, Mächtigen und Berufstätigen kümmern sollte, um durch diese zu wirkungsvolleren Lösungen zu gelangen. Die Weltlichkeit hinter diesen Auffassungen ist leicht zu erkennen: Sie verleiten uns dazu, die Wirklichkeit mit oberflächlichen Kriterien zu betrachten, bar jedes übernatürlichen Lichts, wenn wir es lieber mit Menschen zu tun zu haben, die uns ein Gefühl von Sicherheit geben, und wenn wir Privilegien suchen, die uns genehm sind.

Geben, auch heute noch

115. Es ist angebracht, noch ein Wort über die Almosengabe zu sagen, die heute keinen guten Ruf genießt, oft nicht einmal unter Gläubigen. Sie wird nicht nur selten praktiziert, sondern manchmal sogar geringgeschätzt. Einerseits betone ich noch einmal, dass die wichtigste Hilfe für einen armen Menschen darin besteht, ihm zu einer guten Arbeit zu verhelfen, damit er sich durch die Entfaltung seiner Fähigkeiten und durch seinen persönlichen Einsatz ein Leben verdienen kann, das seiner Würde besser entspricht. Tatsächlich ist »Arbeitslosigkeit […] viel mehr als das Versiegen einer Einkommensquelle für den Lebensunterhalt. Die Arbeit ist auch das, aber sie ist noch viel, viel mehr. Durch die Arbeit werden wir mehr zur Person, gedeiht unsere Menschlichkeit. Junge Menschen werden nur durch die Arbeit erwachsen. Die Soziallehre der Kirche hat die menschliche Arbeit stets als eine Teilhabe an der Schöpfung betrachtet, die täglich fortgesetzt wird, auch durch die Hände, den Verstand und das Herz der Arbeiter.« [128] Andererseits dürfen wir uns, wenn eine solche konkrete Möglichkeit noch nicht besteht, nicht auf das Risiko einlassen, einen Menschen ohne das Nötigste für ein würdiges Leben seinem Schicksal zu überlassen. Deshalb bleibt die Almosengabe eine notwendige Gelegenheit der Berührung, der Begegnung und der Empathie.

116. Für diejenigen, die wirklich lieben, ist es klar, dass die Almosengabe nicht die zuständigen Behörden von ihrer Verantwortung entbindet, noch den organisatorischen Einsatz der Institutionen überflüssig macht und ebenso wenig den legitimen Kampf für Gerechtigkeit ersetzt. Sie hält jedoch zumindest dazu an, innezuhalten und den Armen ins Gesicht zu schauen, sie zu berühren und etwas vom eigenen Besitz mit ihnen zu teilen. In jedem Fall verleiht die Almosengabe, auch wenn sie gering ist, einem Sozialleben, in dem alle ihren persönlichen Interessen nacheilen, eine gewisse Pietas. Im Buch der Sprichwörter heißt es: »Wer ein gütiges Auge hat, wird gesegnet, weil er den Armen von seinem Brot gibt« (Spr 22,9).

117. Sowohl das Alte als auch das Neue Testament enthalten regelrechte Lobgesänge auf die Almosengabe: »Doch hab Geduld mit dem Niedrigen und lass ihn nicht auf Wohltat warten! […] Verschließ Wohltaten in deinen Vorratskammern, sie werden dich retten aus allem Unheil!« (Sir 29,8.12). Und Jesus greift diese Lehre auf: »Verkauft euren Besitz und gebt Almosen! Macht euch Geldbeutel, die nicht alt werden! Verschafft euch einen Schatz, der nicht abnimmt, im Himmel, wo kein Dieb ihn findet und keine Motte ihn frisst!« (Lk 12,33).

118. Die folgende Ermahnung wurde dem heiligen Johannes Chrysostomus zugeschrieben: »Die Almosengabe ist nämlich ein Flügel des Gebets. Wenn du deinem Gebet keine Flügel verleihst, wird es nicht fliegen.« [129] Und der heilige Gregor von Nazianz schloss eine seiner berühmten Predigten mit folgenden Worten: »Wenn ihr, Diener, Brüder und Erben Christi, nun auf mich hören wollt, dann wollen wir, solange es noch Zeit ist, Christus besuchen, Christus heilen, Christus ernähren, Christus bekleiden, Christus beherbergen, Christus ehren, aber nicht nur durch Bewirtung, wie es einige getan haben, und nicht gleich Maria mit Salben und nicht bloß durch ein Grab wie Joseph von Arimathea, auch nicht durch Geschenke für die Beerdigung gleich Nikodemus, der ein heiliger Christ war, auch nicht mit Gold, Weihrauch und Myrrhen, wie es vor den Genannten die Magier getan hatten. Da der Herr der Welt Barmherzigkeit will und nicht Opfer, […], so wollen wir ihm in den Notleidenden, […], Barmherzigkeit zeigen, damit sie, wenn wir von hier scheiden müssen, uns in die ewigen Zelte aufnehmen.« [130]

119. Die Liebe und die tiefsten Überzeugungen müssen genährt werden, und dies erfolgt durch Taten. Wenn wir in der Welt der Ideen und der Diskussionen verbleiben, ohne persönliche, wiederholte und von Herzen kommende Gesten, wird dies zum Scheitern unserer kostbarsten Träume führen. Aus diesem einfachen Grund verzichten wir als Christen nicht auf die Almosengabe. Eine Geste, die auf verschiedene Weise vorgenommen werden kann und die wir versuchen können, möglichst effektiv zu gestalten, die wir aber auf jeden Fall tun müssen. Und es wird stets besser sein, etwas zu unternehmen, als nichts zu machen. In jedem Fall wird es unser Herz berühren. Es wird nicht die Lösung für die Armut in der Welt sein, die mit Intelligenz, Ausdauer und sozialem Engagement angestrebt werden muss. Aber wir müssen uns in der Almosengabe üben, um das leidende Fleisch der Armen zu berühren.

120. Die christliche Liebe überwindet alle Schranken, bringt Fernstehende einander nahe, verbindet Fremde, macht Feinde zu Vertrauten, überwindet menschlich unüberwindbare Abgründe und gelangt in die verborgensten Winkel der Gesellschaft. Die christliche Liebe ist ihrem Wesen nach prophetisch, sie vollbringt Wunder, sie kennt keine Grenzen: Sie ist für das Unmögliche da. Die Liebe ist vor allem eine Art Lebenskonzept, eine Lebensweise. Eine Kirche, die der Liebe keine Grenzen setzt, die keine zu bekämpfenden Feinde kennt, sondern nur Männer und Frauen, die es zu lieben gilt, das ist die Kirche, die die Welt heute braucht.

121. Sowohl durch eure Arbeit als auch durch euren Einsatz für die Veränderung ungerechter sozialer Strukturen als auch durch eine solch einfache, sehr persönliche und unmittelbare Geste der Hilfe wird jener Arme spüren können, dass die Worte Jesu ihm gelten: »Ich [habe] dir meine Liebe zugewandt« (Offb 3,9).

Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am Gedenktag des heiligen Franz von Assisi, dem 4. Oktober des Jahres 2025, dem ersten meines Pontifikats.
 

LEO PP. XIV

________________________________________________________________________

[1] Franziskus, Enzyklika Dilexit nos (24. Oktober 2024), 170: AAS 116 (2024), 1422.

[2] Ebd., 171: AAS 116 (2024), 1422-1423.

[3] Ders., Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate (19. März 2018), 96: AAS 110 (2018), 1137.

[4] Franziskus, Ansprache an die Medienvertreter (16. März 2013): AAS 105 (2013), 381.

[5] J. Bergoglio, A. Skorka, Sobre el cielo y la tierra, Buenos Aires 2013, 214.

[6] Hl. Paul VI., Homilie in der Eucharistiefeier anlässlich der letzten öffentlichen Sitzung des Zweiten Vatikanischen Konzils (7. Dezember 1965): AAS 58 (1966), 55-56.

[7] Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 187: AAS 105 (2013), 1098.

[8] Ebd., 212: AAS 105 (2013), 1108.

[9] Ders., Enzyklika Fratelli tutti (3. Oktober 2020), 23: AAS 112 (2020), 977.

[10] Ebd., 21: AAS 112 (2020), 976.

[11] Rat der Europäischen Gemeinschaften, Beschluss (85/8/EWG) über gezielte Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut auf Gemeinschaftsebene (19. Dezember 1984), Art. 1, Abs. 2: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 2/24.

[12] Vgl. Hl. Johannes Paul II., Katechese (27. Oktober 1999): L’Osservatore Romano, 28. Oktober 1999, 4.

[13] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 197: AAS 105 (2013), 1102.

[14] Vgl. Ders., Botschaft zum V. Welttag der Armen (13. Juni 2021), 3: AAS 113 (2021), 691. »Jesus steht nicht nur auf der Seite der Armen, sondern er teilt mit ihnen das gleiche Schicksal. Das ist eine eindringliche Lehre auch für seine Jünger aller Zeiten.«

[15] Ders., Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 186: AAS 105 (2013), 1098.

[16] Ders., Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate (19. März 2018), 95: AAS 110 (2018), 1137.

[17] Ebd., 97: AAS 110 (2018), 1137.

[18] Ders., Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 194: AAS 105 (2013), 1101.

[19] Franziskus, Ansprache an die Medienvertreter (16. März 2013): AAS 105 (2013), 381.

[20] Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen Gentium, 8.

[21] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 48: AAS 105 (2013), 1040.

[22] In diesem Kapitel stellen wir einige dieser Beispiele an Heiligkeit vor, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Vielmehr soll an ihnen jene Sorge für die Armen sichtbar werden, die seit jeher für das Wirken der Kirche in der Welt kennzeichnend ist. Eine vertiefte Reflexion über die Geschichte dieser Aufmerksamkeit für die Bedürftigsten findet sich im Buch von V. Paglia, Storia della povertà, Mailand 2014.

[23] Vgl. Hl. Ambrosius, Von den Pflichten der Kirchendiener I, Kap. 41, 205-206: CCSL 15, Turnhout 2000, 76-77; II, Kap. 28, 140-143: CCSL 15, 148-149.

[24] Ebd., II, Kap. 28, 140: CCSL 15, 148.

[25] Ebd.

[26] Ebd., II, Kap. 28, 142: CCSL 15, 148.

[27] Hl. Ignatius von Antiochien, Ignatius an die Smyrnäer, 6, 2: SCh 10bis, Paris 2007, 136-138.

[28] Hl. Polykarp von Smyrna, Brief an die Gemeinde von Philippi, 6, 1: SCh 10bis, 186.

[29] Hl. Justin der Märtyrer, Erste Apologie, 67, 6-7: SCh 507, Paris 2006, 310.

[30] Hl. Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Evangelium des heiligen Matthäus, 50, 3: PG 58, Paris 1862, 508.

[31] Ebd., 50, 4: PG 58, 509.

[32] Ders., Homilien über den Brief an die Hebräer 11, 3: PG 63, Paris 1862, 94.

[33] Ders., Homilia II De Lazaro, 6: PG 48, Paris 1862, 992.

[34] Hl. Ambrosius, De Nabuthae, 12, 53: CSEL 32/2, Prag 1897, 498.

[35] Hl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos, 125, 12: CCEL 95/3, Wien 2001, 181.

[36] Ders., Sermo LXXXVI, 5: CCSL 41Ab, Turnhout 2019, 411-412.

[37] Pseudo-augustinus, Sermo CCCLXXXVIII, 2: PL 39, Paris 1862, 1700.

[38] Hl. Cyprian von Karthago, Über die Sterblichkeit, 16: CCSL 3A, Turnhout 1976, 25.

[39] Franziskus, Botschaft zum XXX. Welttag der Kranken (10. Dezember 2021), 3: AAS 114 (2022), 51.

[40] Hl. Kamillus von Lellis, Regole della Compagnia dei Servi degli Infermi, 27: M. Vanti (Hrsg.), Scritti di San Camillo de Lellis, Mailand 1965, 67.

[41] Hl. Luise von Marillac, Lettre aux très chères Sœurs Claude et Marie (28. November 1657): E. Charpy (Hrsg.), Sainte Louise de Marillac. Écrits, Paris 1983, 576.

[42] Hl. Basilius der Grosse, Fünfundfünfzig ausführliche Regeln in Frage und Antworten, 37, 1: PG 31, Paris 1857, 1009 C-D.

[43] Regel des heiligen Benedikt, 53, 15: SCh 182, Paris 1972, 614.

[44] Hl. Johannes Cassianus, Vierundzwanzig Unterredungen mit den Vätern, XIV, 10: CSEL 13, Wien 2004, 410.

[45] Benedikt XVI., Katechese (21. Oktober 2009): L’Osservatore Romano, 22. Oktober 2009, 1.

[46] Vgl. Innozenz III., Bulle Operante divinae dispositionis Regula Primitiva der Trinitarier (17. Dezember 1198), 2: J.L. Aurrecochea, A Moldon (Hrsg.), Fuentes históricas de la Orden Trinitaria (s. XII-XV), Córdoba 2003, 6. »Alle Güter, woher sie auch rechtmäßig stammen mögen, sollen in drei gleiche Teile geteilt werden; und soweit zwei Teile ausreichen, sollen damit Werke der Barmherzigkeit vollbracht werden, nebst eines bescheidenen Unterhalts für sich selbst und für die nötigen Hausangestellten. Der dritte Teil aber soll für den Freikauf von wegen ihres Glaubens an Christus Gefangenen zurückbehalten werden.«

[47] Vgl. Consitutciones de la Orden de los Mercedarios, 14: Orden del la Bienaventurada Virgen María de la Merced, Regla y Constituciones, Rom 2014, 53. »Um diese Aufgabe zu erfüllen, weihen wir uns, von der Liebe bewegt, Gott mit einem besonderen Gelübde, dem sogenannten Erlösungsgelübde, durch das wir versprechen, unser Leben wenn nötig so hinzugeben, wie Christus es für uns hingegeben hat, um die Christen zu retten, die sich in äußerster Gefahr befinden, ihren Glauben in den neuen Formen der Gefangenschaft zu verlieren.«

[48] Vgl. Hl. Juan Bautista de la Concepción, La regla de la Orden de la Santisima Trinidad, XX, 1: BAC Maior 60, Madrid 1999, 90. »Und darin sind die Armen und Gefangenen Christus ähnlich, auf den die Welt ihre Leiden wirft […]. Dieser heilige Orden der Heiligsten Dreifaltigkeit ruft sie und lädt sie ein, zu kommen und vom Wasser des Erlösers zu trinken, das heißt, weil Christus sich ans Kreuz gehängt hat, um Heil und Erlöser der Menschen zu sein, hat er dieses Heil empfangen und will es den Armen geben und verteilen und die Gefangenen erlösen und befreien.«

[49] Vgl. Ders., El recogimiento interior, XL, 4: BAC Maior 48, Madrid 1995, 689. »Der freie Wille macht den Menschen zum Herrn und zu einem freien Wesen unter allen Geschöpfen, aber – guter Gott! – wie viele sind es doch, die auf diesem Weg Sklaven und Gefangene des Teufels sind, gefangen und gefesselt von ihren Leidenschaften und ungeordneten Begierden.«

[50] Franziskus, Botschaft zum XLVIII. Weltfriedenstag (8. Dezember 2014), 3: AAS 107 (2015), 69.

[51] Ders., Begegnung mit Polizeibeamten, Häftlingen und ehrenamtlichen Helfern (Verona, 18. Mai 2024): AAS 116 (2024), 766.

[52] Honorius III., Bulle Solet annuere Regula bullata (29. November 1223), Kap. VI: SCh 285, Paris 1981, 192.

[53] Vgl. Gregor IX., Bulle Sicut manifestum est (17. September 1228), 7: SCh 325, Paris 1985, 200. »Eurem Ersuchen gemäß bestätigen wir also mit apostolischer Zustimmung Eure Absicht, in äußerster Armut zu leben, und gewähren Euch mit der Autorität dieses Schreibens, dass Ihr von niemandem gezwungen werden dürft, Besitztümer anzunehmen.«

[54] Vgl. S.C. Tugwell (Hrsg.), Early Dominicans. Selected Writings, Mahwah 1982, 16-19.

[55] Thomas von Celano, Zweite Lebensbeschreibung, Teil I, Kap. IV, 8: AnalFranc 10, Florenz 1941, 135.

[56] Franziskus, Gedenkansprache nach dem Besuch des Grabes von don Lorenzo Milani (Barbiana, 20. Juni 2017), 2: AAS 109 (2017), 745.

[57] Hl. Johannes Paul II., Discorso ai partecipanti al Capitolo Generale dei Chierici Regolari Poveri della Madre di Dio delle Scuole Pie (Scolopi) (5. Juli 1997), 2: L’Osservatore Romano, 6. Juli 1997, 5.

[58] Ebd.

[59] Ders., Homilie bei der Heiligsprechung (18. April 1999): AAS 91 (1999), 930.

[60] Vgl. Ders., Brief Iuvenum Patris (31. Januar 1988), 9: AAS 80 (1988), 976.

[61] Vgl. Franziskus, Ansprache an die Teilnehmer an der Generalkongregation des »Institutum Caritatis« (Rosminianer) (1. Oktober 2018): L’Osservatore Romano, 1.-2. Oktober 2018, 7.

[62] Ders., Homilie bei der Heiligsprechung (9. Oktober 2022): AAS 114 (2022) 1338.

[63] Hl. Johannes Paul II., Botschaft an die Missionarinnen vom Heiligsten Herzen Jesu (31. Mai 2000), 3: L’Osservatore Romano, 16. Juli 2000, 5.

[64] Vgl. Pius XII., Apostolisches Breve Superiore Iam Aetate (8. September 1950): AAS 43 (1951), 455-456.

[65] Franziskus, Botschaft zum CV. Welttag des Migranten und des Flüchtlings (27. Mai 2019): AAS 111 (2019), 911.

[66] Ders., Botschaft zum C. Welttag des Migranten und des Flüchtlings (5. August 2013): AAS 105 (2013), 930.

[67] Hl. Teresa von Kalkutta, Acceptance speech (Oslo, 10. Dezember 1979).

[68] Hl. Johannes Paul II., Ansprache an die zur Seligsprechung von Mutter Teresa angereisten Pilger (20. Oktober 2003), 3: L’Osservatore Romano, 20.-21. Oktober 2003, 10.

[69] Franziskus, Homilie bei der Heiligsprechung (13. Oktober 2019): AAS 111 (2019), 1712.

[70] Hl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte (6. Januar 2001), 49: AAS 93 (2001), 302.

[71] Franziskus, Apostolisches Schreiben Christus vivit (25. März 2019), 231: AAS 111 (2019), 458.

[72] Ders., Ansprache an die Teilnehmer der Internationalen Begegnung der Volksbewegungen (28. Oktober 2014): AAS 106 (2014), 851-852.

[73] Ebd.: AAS 106 (2014), 859.

[74] Ders., Ansprache an die Teilnehmer der 3. Internationalen Begegnung der Volksbewegungen (5. November 2016): L’Osservatore Romano, 7.-8. November 2016, 5.

[75] Ebd.

[76] Hl. Johannes XXIII., Radiomessaggio a tutti i fedeli del mondo ad un mese dall’apertura del Concilio Ecumenico Vaticano II (11. September 1962): AAS 54 (1962). 682.

[77] G. Lercaro, Intervento nella XXXV Congregazione Generale del Concilio Ecumenico Vaticano II (6. Dezember 1962): AS I/IV 327-328.

[78] Ebd., 4: AS I/IV, 329.

[79] Istituto per le Scienze Religiose (Hrsg.), Per la forza dello Spirito. Discorsi conciliari del Card. Giacomo Lercaro, Bologna 1984, 115.

[80] Hl. Paul VI., Allocuzione nella solenne inaugurazione della II Sessione del Concilio Ecumenico Vaticano II (29. September 1963): AAS 55 (1963), 857.

[81] Ders., Katechese (11. November 1964): Insegnamenti di Paolo VI, II (1964), 984.

[82] Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 69, 71.

[83] Hl. Paul VI. Enzyklika Populorum Progressio (26. März 1967), 23: AAS 59 (1967), 269.

[84] Vgl. ebd., 4: AAS 59 (1967), 259.

[85] Hl. Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30. Dezember 1987), 42: AAS 80 (1988), 572.

[86] Ebd.: AAS 80 (1988), 573.

[87] Ders., Enzyklika Laborem exercens (14. September 1981), 3: AAS 73 (1981), 584.

[88] Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni 2009), 7: AAS 101 (2009), 645.

[89] Ebd., 27: AAS 101 (2009), 661.

[90] Zweite Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats, Schlussdokument von Medellín (24. Oktober 1968), 14, Nr. 7: CELAM, Medellín. Conclusiones, Lima 2005, S. 131-132.

[91] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 202: AAS 105 (2013), 1105.

[92] Ebd., 205: AAS 105 (2013), 1106.

[93] Ebd., 190: AAS 105 (2013), 1099.

[94] Ebd., 56: AAS 105 (2013), 1043.

[95] Ders., Enzyklika Dilexit nos (24. Oktober 2024), 183: AAS 116 (2024), 1427.

[96] Hl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), 41: AAS 83 (1991), 844-845.

[97] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 202: AAS 105 (2013), 1105.

[98] Ebd.

[99] Ders., Enzyklika Fratelli tutti (3. Oktober 2020), 22: AAS 112 (2020), 976.

[100] Ders., Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 209: AAS 105 (2013), 1107.

[101] Ders., Enzyklika Laudato si’ (24. Mai 2015), 50: AAS 107 (2015), 866.

[102] Ders., Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 210: AAS 105 (2013), 1107.

[103] Ders., Enzyklika Laudato si’ (24. Mai 2015), 43: AAS 107 (2015), 863.

[104] Ebd., 48: AAS 107 (2015), 865.

[105] Ders., Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 180: AAS 105 (2013), 1095.

[106] Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über einige Aspekte der „Theologie der Befreiung“ (6. August 1984), XI, 18: AAS 76 (1984), 907-908.

[107] V. Generalkonferenz der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik, Schlussdokument von Aparecida (29. Juni 2007), Nr. 392, Bogotá 2007, S. 179-180. Vgl. Benedikt XVI, Ansprache zur Eröffnung der Arbeiten der V. Generalkonferenz der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik (13. Mai 2007), 3: AAS 99 (2007) 450.

[108] Vgl. V. Generalkonferenz der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik Schlussdokument von Aparecida (29. Juni 2007), Nr. 43-87, S. 31-47.

[109] Dies ., Botschaft (29. Mai 2007), Nr. 4, Bogotá 2007, S. 275.

[110] Dies ., Schlussdokument von Aparecida (29. Juni 2007), Nr. 398, S. 182.

[111] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 199: AAS 105 (2013), 1103-1104.

[112] Ebd. , 198: AAS 105 (2013), 1103.

[113] Ebd.

[114] V. Generalkonferenz der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik, Schlussdokument von Aparecida (29. Juni 2007), Nr. 397, S. 182.

[115] Franziskus, Enzyklika Fratelli tutti (3. Oktober 2020), 64: AAS 112 (2020), 992.

[116] Ders., Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate (19. März 2018), 98: AAS 110 (2018), 1137.

[117] Ders., Enzyklika Fratelli tutti (3. Oktober 2020), 65-66: AAS 112 (2020), 992.

[118] Hl. Gregor der Große, Homilie 40, 10: SCh 522, Paris 2008, 552-554.

[119] Ebd., 6: SCh 522, 546.

[120] Ebd., 3: SCh 522, 536.

[121] Hl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus Annus (1. Mai 1991), 57: AAS 83 (1991), 862-863.

[122] Franziskus, Pfingstvigil mit den kirchlichen Bewegungen (18. Mai 2013): L’Osservatore Romano, 20.-21. Mai 2013, 5.

[123] Ders., Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 186: AAS 105 (2013), 1098.

[124] Ebd., 188: AAS 105 (2013), 1099.

[125] Vgl ebd., 182-183: AAS 105 (2013), 1096-1097.

[126] Ebd ., 207: AAS 105 (2013), 1107.

[127] Ebd., 200: AAS 105 (2013), 1104.

[128] Ders., Ansprache bei der Begegnung mit Vertretern der Welt der Arbeit in den ILVA-Stahlwerken in Genua (27. Mai 2017): AAS 109 (2017), 613

[129] Pseudo-Chrysostomus, Homilia de jejunio et eleemosyna: PG 48, 1060.

[130] Hl. Gregor von Nazianz, 14. Rede, 40: PG 35, Paris 1886, 910.