EVANGELII GAUDIUM - page 60

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versuchen, vor den anderen in ein bequemes Privatleben oder in den engen
Kreis der Vertrautesten zu fliehen, und verzichten auf den Realismus der
sozialen Dimension des Evangeliums. Ebenso wie nämlich einige einen rein
geistlichen Christus ohne Leib und ohne Kreuz wollen, werden
zwischenmenschliche Beziehungen angestrebt, die nur durch hoch
entwickelte Apparate vermittelt werden, durch Bildschirme und Systeme,
die man auf Kommando ein- und ausschalten kann. Unterdessen lädt das
Evangelium uns immer ein, das Risiko der Begegnung mit dem Angesicht
des anderen einzugehen, mit seiner physischen Gegenwart, die uns
anfragt, mit seinem Schmerz und seinen Bitten, mit seiner ansteckenden
Freude in einem ständigen unmittelbar physischen Kontakt. Der echte
Glaube an den Mensch gewordenen Sohn Gottes ist untrennbar von der
Selbsthingabe, von der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, vom Dienst, von
der Versöhnung mit dem Leib der anderen. Der Sohn Gottes hat uns in
seiner Inkarnation zur Revolution der zärtlichen Liebe eingeladen.
89. Die Isolierung, die eine Version des Immanentismus ist, kann sich in
einer falschen Autonomie ausdrücken, die Gott ausschließt und die doch
auch im Religiösen eine Art spirituellen Konsumismus finden kann, der
ihrem krankhaften Individualismus entgegenkommt. Die Rückkehr zum
Sakralen und die spirituelle Suche, die unsere Zeit kennzeichnen, sind
doppeldeutige Erscheinungen. Doch mehr als im Atheismus besteht heute
für uns die Herausforderung darin, in angemessener Weise auf den Durst
vieler Menschen nach Gott zu antworten, damit sie nicht versuchen, ihn
mit irreführenden Antworten oder mit einem Jesus Christus ohne Leib und
ohne Einsatz für den anderen zu stillen. Wenn sie in der Kirche nicht eine
Spiritualität finden, die sie heilt, sie befreit, sie mit Leben und Frieden
erfüllt und die sie zugleich zum solidarischen Miteinander und zur
missionarischen Fruchtbarkeit ruft, werden sie schließlich der Täuschung
von Angeboten erliegen, die weder die Menschlichkeit fördern, noch Gott
die Ehre geben.
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