LEO XIV.
APOSTOLISCHES SCHREIBEN
IN UNITATE FIDEI
ZUM 1700. JAHRESTAG DES KONZILS VON NIZÄA
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1. In der Einheit des Glaubens, der seit den Anfängen der Kirche verkündet wird, sind die Christen dazu aufgerufen, einmütig unterwegs zu sein und das empfangene Geschenk mit Liebe und Freude zu bewahren und weiterzugeben. Dies kommt in den Worten des Glaubensbekenntnisses zum Ausdruck: „Wir glauben an Jesus Christus, den einziggeborenen Sohn Gottes, der wegen unseres Heils herabgestiegen ist“, wie es das Konzil von Nizäa, das erste ökumenische Ereignis in der Geschichte des Christentums, vor 1700 Jahren formuliert hat.
Im Vorfeld meiner Apostolischen Reise in die Türkei möchte ich mit diesem Schreiben die ganze Kirche zu neuem Schwung beim Bekenntnis des Glaubens ermutigen, dessen Wahrheit seit Jahrhunderten das gemeinsame Erbe der Christen darstellt und es verdient, stets in neuer und aktueller Form bekannt und vertieft zu werden. Dazu wurde ein umfangreiches Dokument der Internationalen Theologischen Kommission approbiert: Jesus Christus, Sohn Gottes, Erlöser. 1700. Jahrestag des ökumenischen Konzils von Nizäa. Ich verweise darauf, weil es nicht nur in theologischer und kirchlicher, sondern auch in kultureller und sozialer Hinsicht nützliche Perspektiven für die Vertiefung der Bedeutung und Aktualität des Konzils von Nizäa bietet.
2. »Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Gottes Sohn«: So überschreibt der heilige Markus sein Evangelium. Damit fasst er dessen ganze Botschaft eben im Zeichen der Gottessohnschaft Jesu Christi zusammen. Ebenso weiß sich der Apostel Paulus berufen, Gottes Evangelium von seinem Sohn zu verkünden, der für uns gestorben und auferstanden ist (vgl. Röm 1,9) und der das endgültige „Ja“ Gottes zu den Verheißungen der Propheten ist (vgl. 2 Kor 1,19-20). In Jesus Christus ist das Wort, das schon vor den Zeiten Gott war und durch das alles geworden ist – wie es im Prolog des Johannesevangeliums heißt –, »Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Joh 1,14). In ihm ist Gott unser Nächster geworden, sodass wir alles, was wir einem jeden unserer Brüder und Schwestern tun, ihm getan haben (vgl. Mt 25,40).
So ist es eine glückliche Fügung, dass wir in diesem Heiligen Jahr, das unserer Hoffnung gewidmet ist, die Christus ist, zugleich das 1700-jährige Jubiläum des ersten ökumenischen Konzils von Nizäa feiern, das im Jahr 325 das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem Sohn Gottes, verkündet hat. Dies ist das Herz des christlichen Glaubens. Noch heute sprechen wir in der sonntäglichen Eucharistiefeier das Nizäno-Konstantinopolitanum, das Glaubensbekenntnis, das alle Christen verbindet. Es gibt uns Hoffnung in den schwierigen Zeiten, in denen wir leben, inmitten vieler Sorgen und Ängste, Bedrohungen durch Krieg und Gewalt, Naturkatastrophen, gravierenden Ungerechtigkeiten und Missständen, Hunger und Elend, unter denen Millionen unserer Brüder und Schwestern leiden.
3. Die Zeiten des Konzils von Nizäa waren nicht weniger turbulent. Als es im Jahr 325 begann, waren die Wunden der Christenverfolgungen noch nicht verheilt. Durch das Toleranzedikt von Mailand (313) der beiden Kaiser Konstantin und Licinius schien ein neues Zeitalter des Friedens anzubrechen. Gleichwohl kam es in der Kirche nach dem Ende der äußeren Bedrohungen schon bald zu Auseinandersetzungen und Konflikten.
Arius, ein Presbyter in Alexandrien, lehrte, Jesus sei nicht der wahre Sohn Gottes, wenn auch kein bloßes Geschöpf. Er sei ein Zwischenwesen, zwischen dem unerreichbar fernen Gott und uns. Zudem habe es eine Zeit gegeben, in der der Sohn „nicht war“. Das passte in die zu jener Zeit weit verbreitete Mentalität und erschien daher plausibel.
Doch Gott lässt seine Kirche nicht allein. Immer wieder beruft er mutige Männer und Frauen zu Zeugen des Glaubens und zu Hirten, welche seinem Volk vorangehen und ihm den Weg des Evangeliums weisen. Bischof Alexander von Alexandria erkannte bald, dass die Lehre des Arius ganz und gar nicht der Heiligen Schrift entsprach. Da Arius sich nicht konziliant zeigte, rief Alexander die Bischöfe von Ägypten und Libyen zu einer Synode zusammen, welche die Lehre des Arius verurteilte; an die anderen Bischöfe des Ostens schickte er dann einen Brief, um sie ausführlich zu informieren. Im Westen wurde Bischof Hosius von Cordoba, in Spanien, aktiv, der sich schon während der Verfolgung unter Kaiser Maximianus als ein glühender Bekenner des Glaubens erwiesen hatte und das Vertrauen des Bischofs von Rom, des Papstes Silvester, genoss.
Allerdings taten sich auch die Anhänger des Arius zusammen. Dies führte zu einer der größten Krisen in der Geschichte der Kirche des ersten Jahrtausends. Denn der Grund für den Streit war nicht irgendeine nebensächliche Kleinigkeit. Es ging um die Mitte des christlichen Glaubens, also um die Antwort auf die entscheidende Frage, welche Jesus bei Caesarea Philippi den Jüngern gestellt hatte: »Für wen haltet ihr mich?« (Mt 16,15).
4. Als die Auseinandersetzung aufloderte, sah Kaiser Konstantin, dass mit der Einheit der Kirche auch die Einheit des Reiches bedroht war. So rief er alle Bischöfe zu einem ökumenischen, d.h. allgemeinen Konzil in Nizäa zusammen, um die Einheit wiederherzustellen. Unter dem Vorsitz des Kaisers fand die Synode der „318 Väter“ statt: Die Zahl der anwesenden Bischöfe war von einer bis dahin nicht dagewesenen Größenordnung. Einige von ihnen trugen noch die Male von Torturen, die sie in der Verfolgung erlitten hatten. Die große Mehrheit von ihnen kam aus dem Osten, während nur fünf aus dem Westen gewesen zu sein scheinen. Papst Silvester verließ sich auf die theologisch maßgebende Gestalt des Bischofs Hosius von Cordoba und entsandte zwei römische Presbyter.
5. Die Väter des Konzils bezeugten ihre Treue zur Heiligen Schrift und zur apostolischen Tradition, wie sie bei der Taufe gemäß dem Auftrag Jesu bekundet wurde: »Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« ( Mt 28,19). Im Westen gab es verschiedene Formulierungen, darunter das sogenannte Apostolische Glaubensbekenntnis. [1] Auch im Osten gab es viele Taufbekenntnisse, die in ihrer Struktur einander ähnlich waren. Sie waren nicht in komplizierter Gelehrtensprache, sondern in der – wie man später sagte – einfachen Sprache der Fischer vom See Gennesaret verfasst.
Auf dieser Grundlage beginnt das Credo von Nizäa mit dem Bekenntnis: »Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren.« [2] Damit haben die Konzilsväter ihren Glauben an den einen und einzigen Gott zum Ausdruck gebracht. Darüber gab es auf dem Konzil keine Kontroversen. Es wurde jedoch über einen zweiten Artikel diskutiert, der ebenfalls in der Sprache der Bibel das Bekenntnis an »den einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes« darlegt. Die Debatte war der Notwendigkeit geschuldet, dass die von Arius aufgeworfene Frage zu beantworten war, wie die Aussage „Sohn Gottes“ zu verstehen und wie sie mit dem biblischen Monotheismus zu vereinbaren sei. Das Konzil hatte also die richtige Bedeutung des Glaubens an Jesus als „den Sohn Gottes“ zu definieren.
Die Konzilsväter bekannten, dass Jesus der Sohn Gottes ist, denn er ist » aus dem Wesen ( ousia) des Vaters […] gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens ( homooúsios) mit dem Vater«. Mit dieser Definition wurde die These von Arius radikal zurückgewiesen. [3] Um die Wahrheit des Glaubens auszudrücken, gebrauchte das Konzil zwei Begriffe, „Wesen“ ( ousia) und „eines Wesens“ ( homooúsios), die sich nicht in der Heiligen Schrift finden. Dadurch wollte es nicht die biblischen Aussagen durch griechische Philosophie ersetzen. Im Gegenteil, das Konzil hat diese Begriffe benutzt, um den biblischen Glauben klar darzustellen und ihn vom hellenisierenden Irrtum des Arius abzugrenzen. Der Vorwurf der Hellenisierung trifft darum nicht die Väter von Nizäa, sondern die Irrlehre des Arius und seiner Anhänger.
Positiv ausgedrückt: Die Väter von Nizäa wollten dem biblischen Monotheismus und dem Realismus der Menschwerdung ganz treu bleiben. Sie wollten sagen: Der einzige und wahre Gott ist uns nicht unerreichbar fern, sondern er ist uns vielmehr nahe und in Jesus Christus entgegengekommen.
6. Um seine Botschaft in der einfachen, dem ganzen Gottesvolk vertrauten Sprache der Bibel und der Liturgie zu sagen, nimmt das Konzil einige Formulierungen aus dem Taufbekenntnis auf: »Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott.« Ferner nimmt das Konzil die biblische Lichtmetaphorik auf: »Gott ist Licht« (1 Joh 1,5; vgl. Joh 1,4-5). So wie das ausstrahlende Licht sich selbst ausstrahlt und mitteilt, ohne dadurch selbst gemindert zu werden, so ist der Sohn Abglanz (apaugasma) der Herrlichkeit Gottes und Ebenbild (character) seines Wesens (hypostasis) (vgl. Hebr 1,3; 2 Kor 4,4). Der Fleisch gewordene Sohn, Jesus, ist darum das Licht der Welt und des Lebens (vgl. Joh 8,12). Durch die Taufe sind die Augen unseres Herzens erleuchtet (vgl. Eph 1,18), damit auch wir Licht in der Welt (vgl. Mt 5,14) sein können.
Schließlich sagt das Credo aus, dass der Sohn »wahrer Gott vom wahren Gott« ist. Die Bibel unterscheidet an vielen Stellen die toten Götzen vom wahren und lebendigen Gott. Der wahre Gott ist der Gott, der in der Heilsgeschichte spricht und handelt: der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der sich dem Mose beim brennenden Dornbusch geoffenbart hat (vgl. Ex 3,14), der Gott der das Elend des Volkes sieht, sein Schreien hört, es mit der leuchtenden Feuersäule durch die Wüste führt und begleitet (vgl. Ex 13,21), mit Donnerstimme zu ihm redet (vgl. Dtn 5,26) und ein Herz für sein Volk hat (vgl. Hos 11,8-9). Der Christ ist darum aufgerufen, sich von den toten Götzen zum lebendigen wahren Gott zu bekehren (vgl. Apg 12,25; 1 Tess 1,9). In diesem Sinn bekennt Simon Petrus bei Caesarea Philippi: »Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!« (Mt 16,16).
7. Das Bekenntnis von Nizäa formuliert keine philosophische Theorie. Es bekennt den Glauben an den Gott, der uns durch Jesus Christus erlöst hat. Es geht um den lebendigen Gott, der will, dass wir das Leben haben und es in Fülle haben (vgl. Joh 10,10). Darum fährt das Bekenntnis fort mit den Worten des Taufbekenntnisses: Der Sohn Gottes, »der wegen uns Menschen und um unseres Heiles willen herabgestiegen und Fleisch und Mensch geworden ist, gelitten hat und auferstanden ist am dritten Tage, hinaufgestiegen ist in die Himmel und kommt, Lebende und Tote zu richten«. Damit wird deutlich: Die christologischen Bekenntnisaussagen des Konzils sind eingebunden in die Heilsgeschichte zwischen Gott und seinen Geschöpfen.
Der heilige Athanasius, der als Diakon des Bischofs Alexander am Konzil teilgenommen hatte und dessen Nachfolger auf dem Bischofsstuhl von Alexandria in Ägypten wurde, betonte mehrfach und mit Nachdruck die soteriologische Dimension, die das nizänische Glaubensbekenntnis zum Ausdruck bringt. Er schreibt nämlich, dass der Sohn, der vom Himmel herabgestiegen ist, »uns zu Söhnen des Vaters gemacht hat und, indem er selbst Mensch geworden ist, die Menschen vergöttlicht hat. Er wurde nicht als der Mensch, der er war, zu Gott, sondern als Gott, der er war, wurde er Mensch, um uns zu vergöttlichen«. [4] Nur wenn der Sohn wahrhaftig Gott ist, ist dies möglich: In der Tat kann kein sterbliches Wesen den Tod besiegen und uns retten; nur Gott kann dies tun. Er ist es, der uns in seinem menschgewordenen Sohn befreit hat, damit wir frei sind (vgl. Gal 5,1).
Im Glaubensbekenntnis von Nizäa ist das Verb descendit, „er ist herabgestiegen“, hervorzuheben. Der heilige Paulus beschreibt diese Bewegung mit eindringlichen Worten: »[Christus] entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich« (Phil 2,7). So, wie es der Prolog des Johannesevangeliums ausdrückt: »Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Joh 1,14). Und deshalb lehrt der Hebräerbrief: »Wir haben ja nicht einen Hohepriester, der nicht mitfühlen könnte mit unseren Schwächen, sondern einen, der in allem wie wir versucht worden ist, aber nicht gesündigt hat« (Hebr 4,15). Am Abend vor seinem Tod hat er sich wie ein Sklave herabgebückt, um den Jüngern die Füße zu waschen (vgl. Joh 13,1-17). Und erst als der Apostel Thomas seine Finger in die Seitenwunde des auferstandenen Herrn legen konnte, bekannte er: »Mein Herr und mein Gott« (Joh 20,28).
Gerade aufgrund seiner Menschwerdung begegnen wir dem Herrn in unseren notleidenden Brüdern und Schwestern: »Was ihr [ihnen] getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). Nicht über den fernen, unerreichbaren und unbeweglichen, in sich ruhenden Gott spricht das nizänische Bekenntnis, sondern vielmehr über den uns nahen Gott, der uns auf unserem Weg auf den Straßen der Welt und an den düstersten Orten der Erde begleitet. Seine Größe zeigt sich darin, dass er sich klein macht, sich seiner unendlichen Majestät entkleidet und sich in den Kleinen und Armen zu unserem Nächsten macht. Diese Tatsache revolutioniert das heidnische und philosophische Gottesverständnis.
Noch ein anderes Wort im nizänischen Bekenntnis ist für uns heute besonders aufschlussreich: die biblische Aussage »ist Fleisch geworden«, die dadurch präzisiert wird, dass nach dem Wort »Fleisch« das Wort »Mensch« eingeschoben wird. Damit grenzt sich Nizäa ab gegen die Irrlehre, der Logos habe als äußere Verkleidung nur einen Leib angenommen, nicht aber die menschliche Seele, die mit Verstand und freiem Willen ausgestattet ist. Es will hingegen sagen, was das Konzil von Chalkedon (451) dann ausdrücklich erklärte: Gott hat in Christus den ganzen Menschen mit Leib und Seele angenommen und erlöst. Der Sohn Gottes ist Mensch geworden – erläutert der heilige Athanasius –, damit wir Menschen vergöttlicht werden. [5] Diese erhellende Erkenntnis der göttlichen Offenbarung war vom heiligen Irenäus von Lyon und von Origenes vorbereitet worden und entwickelte sich dann in großer Vielfalt in der östlichen Spiritualität weiter.
Die Vergöttlichung hat nichts mit einer Selbst-Vergottung des Menschen zu tun. Im Gegenteil, die Vergöttlichung bewahrt uns vor der Urversuchung, sein zu wollen wie Gott (vgl. Gen 3,5). Was Christus von Natur ist, das werden wir durch Gnade. Durch das Werk der Erlösung hat Gott nicht nur unsere menschliche Würde als Bild Gottes wiederhergestellt; vielmehr hat er, der uns wunderbar geschaffen hat, uns in noch wunderbarerer Weise an seiner göttlichen Natur Anteil haben lassen (vgl. 2 Petr 1,4).
Die Vergöttlichung ist folglich die wahre Vermenschlichung. Deshalb weist die Existenz des Menschen über sich hinaus, sucht sie über sich hinaus, sehnt sie sich über sich hinaus und ist unruhig, bis sie ruht in Gott: [6] Deus enim solus satiat, Gott allein macht den Menschen satt. [7] Gott allein kann in seiner Unendlichkeit die unendliche Sehnsucht des menschlichen Herzens erfüllen, und dazu wollte der Sohn Gottes unser Bruder und Erlöser werden.
8. Wir haben gesagt, dass Nizäa die Lehre des Arius klar zurückgewiesen hat. Doch Arius und seine Anhänger gaben sich nicht geschlagen. Kaiser Konstantin selbst und seine Nachfolger stellten sich immer mehr auf die Seite der Arianer. Der Begriff homooúsios wurde zum Zankapfel zwischen Nizänern und Antinizänern und löste damit weitere schwere Konflikte aus. Der heilige Basilius von Caesarea beschreibt das Durcheinander, das entstand, mit vielsagenden Bildern und verglich es mit einer nächtlichen Seeschlacht bei gewaltigem Sturm, [8] während der heilige Hilarius die Rechtgläubigkeit der Laien gegenüber dem Arianismus vieler Bischöfe bezeugt und anerkennt, dass »die Ohren des Volkes heiliger sind als die Herzen der Priester«. [9]
Der Fels des nizänischen Bekenntnisses war der heilige Athanasius, unbeugsam und standhaft in seinem Glauben. Obwohl er gleich fünf Mal vom Bischofsstuhl in Alexandrien abgesetzt und vertrieben wurde, kehrte er jedes Mal wieder als Bischof dorthin zurück. Auch aus der Verbannung gab er durch seine Schriften und Briefe dem Gottesvolk weiterhin Orientierung. Wie einst Mose konnte auch Athanasius das gelobte Land des Kirchenfriedens nicht mehr betreten. Diese Gnade blieb einer neuen Generation vorbehalten, die man als Jung-Nizäer bezeichnet. Im Osten waren dies die drei kappadokischen Väter: der heilige Basilius von Caesarea (um 330-379), dem der Titel „der Große“ zuteilwurde, sein Bruder der heilige Gregor von Nyssa (335-394) und der engste Freund von Basilius, der heilige Gregor von Nazianz (329/30-390). Im Westen waren der heilige Hilarius von Poitiers (um 315-367) und sein Schüler, der heilige Martin von Tours (um 316-397), von Bedeutung. Und dann vor allem der heilige Ambrosius von Mailand (333-397) und der heilige Augustinus von Hippo (354-430).
Das besondere Verdienst der drei Kappadokier war es, die Formulierung des nizänischen Glaubensbekenntnisses zu vollenden und zu zeigen, dass die Einheit und die Dreiheit Gottes keineswegs im Widerspruch zueinander stehen. In diesem Zusammenhang wurde auf dem Ersten Konzil von Konstantinopel im Jahr 381 der Glaubensartikel über den Heiligen Geist formuliert. So heißt es im Glaubensbekenntnis, das seitdem als Nizäno-Konstantinopolitanum bezeichnet wird: »Wir glauben an den Heiligen Geist, den Herrn und Lebensspender, der aus dem Vater hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohne mitangebetet und mitverherrlicht wird, der durch die Propheten gesprochen hat.« [10]
Durch das Konzil von Chalkedon (451) wurde das Konzil von Konstantinopel als ökumenisch anerkannt und das nizäno-konstantinopolitanische Bekenntnis als universal verbindlich erklärt. [11] Es stellte somit ein Band der Einheit zwischen Ost und West dar. Im 16. Jahrhundert haben es auch die kirchlichen Gemeinschaften, die aus der Reformation hervorgegangen sind, bewahrt. So ist das nizäno-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis das gemeinsame Bekenntnis aller christlichen Traditionen.
9. Es war ein langer und folgerichtiger Weg, der von der Heiligen Schrift zum Glaubensbekenntnis von Nizäa, dann zu seiner Rezeption durch Konstantinopel und Chalkedon und nochmal bis ins 16. und in unser 21. Jahrhundert geführt hat. Wir alle sind als Jünger Jesu Christi »auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes« getauft. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes machen wir das Kreuzzeichen und lassen wir uns segnen. Mit dem »Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist« schließen wir jedes Mal das Gebet der Psalmen im Stundengebet ab. Die Liturgie und das christliche Leben sind also fest im Glaubensbekenntnis von Nizäa und Konstantinopel verankert: Was wir mit dem Mund aussprechen, muss aus dem Herzen kommen, damit es im Leben bezeugt wird. Wir müssen uns also fragen: Wie steht es heute mit der inneren Rezeption des Credos? Spüren wir, dass es auch unsere heutige Situation trifft? Verstehen wir und leben wir, was wir Sonntag für Sonntag sagen, und was bedeutet das, was wir sagen, für unser Leben?
10. Das Credo von Nizäa beginnt mit dem Bekenntnis des Glaubens an Gott, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Heute hat Gott und die Frage nach Gott für viele kaum mehr eine Bedeutung im Leben. Das Zweite Vatikanische Konzil hat deutlich gemacht, dass die Christen zumindest mitverantwortlich sind an dieser Situation, weil sie den wahren Glauben nicht bezeugen und durch einen Lebensstil und Handlungen, die weit vom Evangelium entfernt sind, das wahre Antlitz Gottes verhüllen. [12] Im Namen Gottes sind Kriege geführt worden, hat man getötet, verfolgt und diskriminiert. Man hat auch statt den barmherzigen Gott zu verkündigen, von einem rächenden Gott gesprochen, der Angst einflößt und bestraft.
Das Glaubensbekenntnis von Nizäa lädt uns also zu einer Gewissenserforschung ein. Was bedeutet mir Gott und wie bezeuge ich den Glauben an ihn? Ist der eine und einzige Gott wirklich der Herr des Lebens, oder gibt es Götzen, die mir wichtiger sind als Gott und seine Gebote? Ist Gott für mich der lebendige Gott, der in jeder Situation nahe ist, ist er der Vater, an den ich mich mit kindlichem Vertrauen wende? Ist er der Schöpfer, dem ich alles verdanke, was ich bin und habe, dessen Spuren ich in allen Geschöpfen finden kann? Bin ich bereit, die Güter der Erde, die allen gehören, in gerechter und in fairer Weise zu teilen? Wie gehe ich mit der Schöpfung um, die das Werk seiner Hände ist? Gebrauche ich sie mit Ehrfurcht und Dank, oder beute ich sie aus, zerstöre ich sie, statt sie als gemeinsames Haus der Menschheit und zu hüten und zu kultivieren? [13]
11. Im Zentrum des nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses steht das Bekenntnis zum Glauben an Jesus Christus, unseren Herrn und Gott. Dies ist die Mitte unseres christlichen Lebens. Deshalb mühen wir uns, Jesus als unserem Lehrmeister, Begleiter, Bruder und Freund nachzufolgen. Doch das nizänische Bekenntnis verlangt mehr: Es mahnt uns nämlich, nicht zu vergessen, dass Jesus Christus der Herr (kyrios), der Sohn des lebendigen Gottes ist, der „zu unserem Heil vom Himmel gekommen“ und „für uns“ am Kreuz gestorben ist und der uns durch seine Auferstehung und Himmelfahrt den Weg zum neuen Leben erschlossen hat.
Die Nachfolge Jesu Christi ist sicher kein breiter und bequemer Weg, aber dieser oft anspruchsvolle oder sogar schmerzhafte Pfad führt immer zum Leben und zum Heil (vgl. Mt 7,13-14). Die Apostelgeschichte spricht von dem neuen Weg (vgl. Apg 19,9.23; 22,4.14-15.22), der Jesus Christus ist (vgl. Joh 14,6): Dem Herrn zu folgen verpflichtet uns, den Weg des Kreuzes zu gehen, der uns über die Reue zur Heiligung und Vergöttlichung führt. [14]
Wenn Gott uns mit seinem ganzen Wesen liebt, dann müssen wir auch einander lieben. Wir können Gott, den wir nicht sehen, nicht lieben, ohne auch den Bruder und die Schwester zu lieben, die wir sehen (vgl. 1 Joh 4,20). Gottesliebe ohne Nächstenliebe ist Scheinheiligkeit; radikale Nächstenliebe, besonders Feindesliebe ohne Gottesliebe ist ein Heroismus, der uns schlicht überfordert. Der Aufstieg zu Gott geht in der Nachfolge Jesu über den Hinabstieg und die Zuwendung zu den Brüdern und Schwestern, besonders zu den Geringsten, den Ärmsten, den Verlassenen und Ausgeschlossenen. Was wir dem Geringsten getan haben, das haben wir Christus, getan (vgl. Mt 25,31-46). Angesichts der Katastrophen, der Kriege und des Elends können wir den Menschen, die an Gott zweifeln, nur dann seine Barmherzigkeit bezeugen, wenn sie seine Barmherzigkeit durch uns erfahren. [15]
12. Schließlich ist das Konzil von Nizäa auch aktuell aufgrund seiner großen ökumenischen Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist die Verwirklichung der Einheit aller Christen eines der Hauptziele des letzten Konzils, des Zweiten Vatikanums, gewesen. [16] Der heilige Papst Johannes Paul II. hat vor genau dreißig Jahren in der Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995) die Konzilsbotschaft weitergeführt und bestärkt. So feiern wir mit dem großen Jubiläum des ersten Konzils von Nizäa auch den Jahrestag der ersten ökumenischen Enzyklika. Sie kann als Manifest gelten, welches die durch das Konzil von Nizäa gelegten ökumenischen Grundlagen erneuert hat.
Die ökumenische Bewegung hat in den vergangenen sechzig Jahren, Gott sei Dank, zu vielen Ergebnissen geführt. Auch wenn uns die volle sichtbare Einheit mit den orthodoxen und altorientalischen Kirchen und den kirchlichen Gemeinschaften, die aus der Reformation hervorgegangen sind, noch nicht geschenkt wurde, hat uns der ökumenische Dialog dazu geführt, dass wir auf der Grundlage der einen Taufe und des nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses in den Brüdern und Schwestern der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften unsere Brüder und Schwestern in Jesus Christus erkannt und in der ganzen Welt die eine universale Gemeinschaft der Jünger Christi wieder neu entdeckt haben. Wir teilen nämlich den Glauben an den einen und einzigen Gott, den Vater aller Menschen, und wir bekennen gemeinsam den einen Herrn und wahren Sohn Gottes Jesus Christus und den einen Heiligen Geist, der uns beseelt und zur vollen Einheit und zum gemeinsamen Zeugnis für das Evangelium drängt. Was uns eint ist tatsächlich weit mehr als das, was uns trennt! [17] So kann die eine universale Christenheit in einer zerrissenen und von vielen Konflikten durchfurchten Welt ein Zeichen des Friedens und ein Werkzeug der Versöhnung sein und damit entscheidend zu einem weltweiten Engagement für den Frieden beitragen. Der heilige Johannes Paul II. hat uns insbesondere an das Zeugnis der vielen christlichen Märtyrer erinnert, die aus allen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften kommen: Ihr Andenken verbindet uns und spornt uns an, aktive Zeugen des Friedens in der Welt zu sein.
Um diesen unseren Dienst glaubwürdig tun zu können, müssen wir gemeinsam gehen, um Einheit und Versöhnung zwischen allen Christen zu erreichen. Das Glaubensbekenntnis von Nizäa kann die Grundlage und der Maßstab für diesen Weg sein. Es schlägt uns nämlich ein Modell wahrer Einheit in der legitimen Unterschiedenheit vor. Einheit in der Dreiheit, Dreiheit in der Einheit, denn Einheit ohne Vielheit ist Tyrannei, Vielheit ohne Einheit ist Zerfall. Die trinitarische Dynamik ist nicht dualistisch, wie ein ausschließendes aut-aut, sondern eine einbeziehende Verbindung, ein et-et: Der Heilige Geist ist das Band der Einheit, das wir zusammen mit dem Vater und dem Sohn anbeten. Wir müssen also theologische Kontroversen, die ihre Daseinsberechtigung verloren haben, hinter uns lassen, um zu einem gemeinsamen Denken und noch mehr zu einem gemeinsamen Beten zum Heiligen Geist zu finden, damit er uns alle in einem einzigen Glauben und einer einzigen Liebe vereine.
Das bedeutet keine Rückkehrökumene zum Zustand vor den Spaltungen, auch keine gegenseitige Anerkennung des aktuellen Status quo der Vielheit von Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, sondern vielmehr eine Zukunftsökumene der Versöhnung auf dem Weg des Dialogs, des Austauschs unserer Gaben und geistlichen Schätze. Die Wiederherstellung der Einheit unter den Christen macht uns nicht ärmer, vielmehr bereichert sie uns. Dieses Ansinnen kann ähnlich wie in Nizäa nur durch einen geduldigen, langen und unter Umständen schwierigen Weg des Hörens und der gegenseitigen Offenheit möglich werden. Das ist eine theologische und noch mehr eine geistliche Herausforderung, bei der auf allen Seiten Umdenken und Bekehrung notwendig sind. Dazu brauchen wir eine geistliche Ökumene des Gebets, der Lobpreisung und Anbetung wie es beim Bekenntnis von Nizäa und Konstantinopel geschehen ist.
Rufen wir daher den Heiligen Geist an, er möge uns dabei begleiten und führen.
Heiliger Geist Gottes, du leitest die Gläubigen auf dem Weg der Geschichte.
Wir danken dir, dass du die Glaubensbekenntnisse inspiriert hast und dass du in unseren Herzen die Freude weckst, unser Heil in Jesus Christus zu bekennen, dem Sohn Gottes, der mit dem Vater eines Wesens ist. Ohne ihn können wir nichts tun.
Du, ewiger Geist Gottes, verjüngst von Epoche zu Epoche den Glauben der Kirche. Hilf uns, ihn zu vertiefen und stets zum Wesentlichen zurückzukehren, um ihn zu verkünden.
Damit unser Zeugnis in der Welt nicht träge wird, komm, Heiliger Geist, mit deinem Feuer der Gnade und belebe unseren Glauben neu, erfülle uns mit Hoffnung und entflamme in uns die Liebe.
Komm, göttlicher Tröster, der du die Harmonie bist, und eine die Herzen und den Verstand der Gläubigen. Komm und schenke uns, dass wir die Schönheit der Gemeinschaft genießen dürfen.
Komm, Liebe des Vaters und des Sohnes, und vereine uns in der einen Herde Christi.
Zeige uns die Wege, die wir gehen sollen, damit wir durch deine Weisheit wieder zu dem werden, was wir in Christus sind: eins, damit die Welt glaubt. Amen.
Aus dem Vatikan, am 23. November 2025, dem Christkönigssonntag
LEO PP. XIV
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[1] Denzinger – Hünermann, Enchiridion Symbolorum, Freiburg 452017 (nachfolgend DH), 30.
[2] Ebd., 125.
[3] Aus den Aussagen des Athanasius in Contra arianos I, 9 geht hervor, dass homooúsios nicht sagen will „gleichen Wesens“, sondern „eines Wesens“ mit dem Vater; es geht also nicht um Gleichwesentlichkeit sondern um Wesensidentität von Vater und Sohn. Die lateinische Übersetzung von homooúsios spricht darum zurecht von unius substantiae cum Patre ( DH 125).
[4] Hl. Athanasius Alexandrinus, Contra arianos I, 38, 7 – 39, 1: Metzler (Hrsg.), Athanasius Werke, I/1,2, 148-149.
[5] Vgl. Ders., De incarnatione, 54: SCh 199, Paris 2000, 458; Contra arianos I, 39.42.45; II, 59ff: Metzler (Hrsg.) Athanasius Werke, I/1,2, 149.152.154-155 und 235ff.
[6] Vgl. Hl. Augustinus, Confessiones 1: CCSL 27, Turnhout 1981, 1.
[7] Hl. Thomas von Aquin, In Symbolum Apostolorum, art. 12: Spiazzi (Hrsg.), Thomae Aquinatis Opuscula theologica, II, Taurini-Romae 1954, 217.
[8] Vgl. Hl. Basilius von Caesarea, De Spiritu Sancto, 30, 76: SCh 17bis, Paris 22002, 520-522.
[9] Hl. Hilarius von Poitiers, Contra arianos seu contra Auxentium, 6: PL 10, 613. Im Wissen um die Stimmen der Väter untersuchte der gelehrte Theologe, spätere Kardinal und heutige Heilige und Kirchenlehrer John Henry Newman (1801-1890) diese Kontroverse und kam zu dem Schluss, dass das nizänische Bekenntnis vor allem durch den sensus fidei des Gottesvolkes bewahrt worden sei. Vgl. On consulting the Faithful in Matters of Doctrine (1859).
[10] DH 150. Die Aussage „der aus dem Vater und dem Sohn ( filioque) ausgeht“ findet sich im Text von Konstantinopel noch nicht; sie ist erst durch Benedikt VIII. 1014 ins lateinische Credo eingefügt worden. Die Kontroverse ist Gegenstand des orthodox-katholischen Dialogs.
[11] Vgl. DH 300.
[12] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 19.
[13] Vgl. Franziskus, Enzyklika Laudato si’ (24. Mai 2015), 67.78.124: AAS 107 (2015), 873-874.878.897.
[14] Vgl. Ders., Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate (19. März 2018), 92: AAS 110 (2018), 1136.
[15] Vgl. Ders., Enzyklika Fratelli tutti (3. Oktober 2020), 67. 254: AAS 112 (2000), 992-993.1059
[16] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Unitatis Redintegratio, 1: AAS 57 (1965), 90-91.
[17] Vgl. Hl. Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), 20: AAS 87 (1995), 933.
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