Lumen Fidei - page 34

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so das Leben bequemer und müheloser macht.
Dies scheint heute die einzige sichere Wahrheit
zu sein, die einzige, die man mit anderen teilen
kann, die einzige, über die man diskutieren und
für die man sich gemeinsam einsetzen kann. Auf
der anderen Seite gebe es dann die Wahrheiten
des Einzelnen, die darin bestünden, authen-
tisch zu sein gegenüber dem, was jeder innerlich
empfindet; sie gelten nur für den Einzelnen und
könnten den anderen nicht vermittelt werden
mit dem Anspruch, dem Gemeinwohl zu die-
nen. Die große Wahrheit, die Wahrheit, die das
Ganze des persönlichen und gesellschaftlichen
Lebens erklärt, wird mit Argwohn betrachtet.
War das nicht die Wahrheit, fragt man sich, die
sich die großen totalitären Systeme des vergan-
genen Jahrhunderts anmaßten — eine Wahrheit,
die ihre eigene Weltanschauung aufzwang, um
die konkrete Geschichte des Einzelnen zu erdrü-
cken? So bleibt dann nur ein Relativismus, in dem
die Frage nach der universalen Wahrheit, die im
Grunde auch die Frage nach Gott ist, nicht mehr
interessiert. Aus dieser Sicht ist es logisch, dass
man die Verbindung der Religion mit der Wahr-
heit lösen möchte, denn diese Verknüpfung stehe
an der Wurzel des Fanatismus, der alle überwäl-
tigen will, die die eigenen Ãœberzeugungen nicht
teilen. Wir können in diesem Zusammenhang
von einer großen Vergessenheit in unserer heuti-
gen Welt sprechen. Die Frage nach der Wahrheit
ist nämlich eine Frage der Erinnerung, einer tie-
fen Erinnerung, denn sie wendet sich an etwas,
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