Lumen Fidei - page 38

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Beziehung gebundene Weise, die Welt zu sehen,
die eine miteinander geteilte Erkenntnis wird,
eine Sicht aus der Sicht des anderen und eine ge-
meinsame Sicht aller Dinge. Wilhelm von Saint
Thierry folgt im Mittelalter dieser Überlieferung,
als er einen Vers aus dem Hohelied kommentiert,
in dem der Geliebte zur Geliebten sagt: Augen
der Taube sind deine Augen (vgl.
Hld
1,15).
21
Diese beiden Augen, erklärt Wilhelm, sind die
glaubende Vernunft und die Liebe, die ein ein-
ziges Auge werden, um zur Schau Gottes zu ge-
langen, wenn der Verstand zum »Verstand einer
erleuchteten Liebe« wird.
22
28. Diese Entdeckung der Liebe als Quelle der
Erkenntnis, die zur ursprünglichen Erfahrung
jedes Menschen gehört, findet maßgeblichen
Ausdruck in der biblischen Auffassung des Glau-
bens. Indem Israel sich der Liebe erfreut, mit der
Gott es erwählt und als Volk gezeugt hat, gelangt
es dahin, die Einheit des göttlichen Planes vom
Anfang bis zur Vollendung zu begreifen. Die
Glaubenserkenntnis ist dadurch, dass sie aus der
Liebe Gottes hervorgeht, der den Bund schließt,
eine Erkenntnis, die einen Weg in der Geschichte
erhellt. Aus diesem Grund auch gehören in der
Bibel Wahrheit und Treue zusammen: Der wah-
re Gott ist der treue Gott, derjenige, der seine
Versprechen hält und erlaubt, in der Zeit seinen
21
 Vgl.
Expositio super Cantica Canticorum
XVIII, 88:
CCL
,
Continuatio Mediaevalis
87, 67.
22
Ebd.
, XIX, 90:
CCL
,
Continuatio Mediaevalis
87, 69.
1...,28,29,30,31,32,33,34,35,36,37 39,40,41,42,43,44,45,46,47,48,...96
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