EVANGELII GAUDIUM - page 111

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Verständigung mit dem anderen steht an erster Stelle die Fähigkeit des
Herzens, welche die Nähe möglich macht, ohne die es keine wahre
geistliche Begegnung geben kann. Zuhören hilft uns, die passende Geste
und das passende Wort zu finden, die uns aus der bequemen Position des
Zuschauers herausholen. Nur auf der Grundlage dieses achtungsvollen,
mitfühlenden Zuhörens ist es möglich, die Wege für ein echtes Wachstum
zu finden, das Verlangen nach dem christlichen Ideal und die Sehnsucht
zu wecken, voll auf die Liebe Gottes zu antworten und das Beste, das Gott
im eigenen Leben ausgesät hat, zu entfalten. Immer aber mit der Geduld
dessen, der weiß, was der heilige Thomas von Aquin gelehrt hat: Es kann
jemand die Gnade und die Liebe haben, trotzdem aber die eine oder andere
Tugend »aufgrund einiger entgegengesetzter Neigungen«
,
133
die weiter
bestehen, nicht gut leben. Mit anderen Worten:
Der organische
Zusammenhang der Tugenden besteht zwar »
in habitu
« immer und
notwendig, es kann aber Umstände geben, die die
Verwirklichung
dieser
tugendhaften Anlagen erschweren. Deshalb bedarf es einer »Pädagogik,
welche die Personen schrittweise zur vollen Aneignung des Mysteriums
hinführt«.
134
Damit eine gewisse Reife erlangt wird, so dass die Personen
fähig werden, wirklich freie und verantwortliche Entscheidungen zu treffen,
muss man mit der Zeit rechnen und unermessliche Geduld haben. Der
selige Petrus Faber sagte: »Die Zeit ist der Bote Gottes«.
172. Der Begleiter versteht es, die Situation jedes Einzelnen vor Gott
anzuerkennen. Sein Leben in der Gnade ist ein Geheimnis, das niemand
von außen ganz verstehen kann. Das Evangelium schlägt uns vor, einen
Menschen zurechtzuweisen und ihm aufgrund der Kenntnis der objektiven
Bosheit seiner Handlungen wachsen zu helfen (vgl.
Mt
18,15), ohne jedoch
über seine Verantwortung und seine Schuld zu urteilen (vgl.
Mt
7,1;
Lk
6,37). Ein guter Begleiter lässt freilich fatalistische Haltungen und
133
Summa Theologiae
I-II q. 65, a. 3, ad 2: "
propter aliquas dispositiones contrarias
".
134
J
OHANNES
P
AUL
II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben
Ecclesia in Asia
(6. November
1999), 20:
AAS
92 (2000), 481.
1...,101,102,103,104,105,106,107,108,109,110 112,113,114,115,116,117,118,119,120,121,...185
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